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HEGEMONIE/1735: Das Kyoto-Protokoll, Feigenblatt der Verwertungsordnung, wird welk (SB)



Mit seinem Ausstieg aus dem Kyoto-Protokoll hat Kanada formal vollzogen, was faktisch längst Realität war. Das Land hat die ohnehin wachsweichen Vereinbarungen aus dem internationalen Klimaschutzabkommen nicht eingehalten und in großen Mengen Treibhausgase produziert. Außerdem will es in den nächsten Jahren den klima- und umweltschädlichen Abbau von Teersanden vorantreiben, da kann es keine rechtlichen Beschränkungen seiner wirtschaftlichen Aktivitäten gebrauchen. Im übrigen profitiert Kanada enorm von der Erderwärmung. Sobald die Nordwest-Passage über längere Fristen eisfrei und damit für Schiffe befahrbar wird, dürfte die geopolitische Randlage schwinden. Die kanadische Regierung reagiert bereits auf die neuen Optionen und baut seine militärische Präsenz in den nördlichen Regionen kräftig aus, um Konkurrenten wie die USA in die Schranken zu weisen.

Kanada verabschiedet sich formal von einer Verpflichtung, die andere gar nicht erst eingegangen sind - oder die sie nur vortäuschten, einhalten zu wollen. Der Ausstieg aus dem Kyoto-Protokoll knapp ein Jahr, bevor es sowieso endet, ist der logische Schritt einer innerhalb der Staatenkonkurrenz agierenden, auf Wirtschaftswachstum geeichten Industrienation, deren Reichtum nicht zuletzt auf den Export fossiler und damit besonders klimaschädlicher Energieträger beruht.

Der kanadische Umweltminister Peter Kent hat ja recht, wenn er sagt, daß das Klimaschutzabkommen von Kyoto nicht funktioniert, solange die beiden größten Treibhausgasemittenten USA und China nicht daran teilnehmen. Unter diesen Bedingungen war es eine Farce und wird es auch in seiner am Wochenende in Durban vereinbarten "Nachspielzeit" bis 2017 oder 2020 bleiben. Deshalb wäre Kanada kräftig zu applaudieren, wenn seine Schlußfolgerung aus dem Verhandlungsdebakel nicht "Nach uns die Sintflut" lautete. Was, wie Klimaforscher prognostizieren, durchaus nicht symbolisch aufzufassen ist ...

Der zweitgrößte Staat der Erde dürfte in den nächsten Jahren sogar noch mehr Treibhausgase emittieren als bisher. Kents Erklärung, sein Land wolle an einer neuen globalen Einigung mitarbeiten, verbirgt nur die leicht zu durchschauende Absicht, weiterhin Einfluß auf zukünftige Klimaschutzabkommen nehmen zu können. Als Ausdruck einer ernsthaften Sorge um die Menschen, die von den Folgen des Klimawandels am schwersten getroffen werden, eignet sich die Erklärung jedenfalls nicht.

Die jüngsten wissenschaftlichen Prognosen zum Klimawandel lauten, daß nur unter größten Anstrengungen der Staatengemeinschaft noch verhindert werden kann, daß die globale Durchschnittstemperatur die Zwei-Grad-Erwärmung - bezogen auf das vorindustrielle Zeitalter - übersteigt. Weil das nicht verhindert wird, wenn man wie Kanada sämtliche Klimaschutzmaßnahmen verwirft oder wie die USA und China sich gar nicht erst international verbindliche Beschränkungen auferlegt, wird das Klima voraussichtlich eine hochdynamische Entwicklung annehmen, die durch keine Maßnahmen mehr aufzuhalten sein werden. Den Preis dafür zahlen jene, die am wenigsten Treibhausgase emittieren, aber am schwersten von Naturkatastrophen heimgesucht werden. Somit erteilt Kanada mit seiner Ankündigung nicht allein dem Kyoto-Protokoll eine Absage, sondern auch dem Überlebens- und Sicherheitsinteresse der von den bevorstehenden Katastrophen betroffenen Menschen.

An diesem Beispiel wird deutlich, wie einfach es ist, aus dem Abkommen auszusteigen. Andere Staaten könnten folgen. Es gibt keine Mittel, Kanada zur Minderung von CO2-Emissionen zu zwingen. Sollte es aber eines Tages die Mittel geben, sollten sie nicht in den Händen derjenigen liegen, die durch ihre vergangenen oder heutigen Emissionen hauptverantwortlich für die Erderwärmung sind. Ansonsten hieße das, den Bock zum Gärtner zu machen. Sollte aber umgekehrt ein kleines Land wie Tuvalu, das akut vom Anstieg des Meeresspiegels bedroht ist, den Daumen heben oder senken dürfen über das Schicksal Kanadas, Chinas oder der Militärmacht Nummer eins USA? Darauf würden sich die reichen und hochgerüsteten Staaten, ob sie das Kyoto-Protokoll ratifiziert haben oder nicht, nie und nimmer einlassen, untergrübe das doch ihre Vormachtstellung in der Welt.

Die internationalen Klimaschutzbemühungen sind so zerrüttet wie die globale Wirtschaft. Beide werden von den gleichen hegemonialen Interessen bestimmt. Da das kapitalistische Wirtschaftssystem das Konkurrenzprinzip huldigt und folglich zwingend Verlierer und Verluste produziert, andernfalls es keine Gewinner und Profite gäbe, wäre das gleiche und noch viel mehr von einer Welt zu erwarten, in der die Klimawandelfolgen krasser als heute die Verhältnisse bestimmen. Derzeit haben eine Milliarde Menschen nicht genug zu essen - wieviele werden es in ein, zwei Jahrzehnten sein?

Es ist diskutierenswert, ob es nicht das beste wäre, wenn sich nach Kanada auch alle anderen Staaten vom Kyoto-Protokoll sowie dem, was in Durban vereinbart wurde, verabschiedeten. Dann träten die unvereinbaren Interessengegensätze zwischen den Benachteiligten und Profiteuren der auf Vorteilsstreben beruhenden Weltordnung deutlicher zutage als durch die gegenwärtigen Klimaschutzverhandlungen, bei denen nicht einmal 15 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen im Rahmen des Kyoto-Protokolls, jenem welken Feigenblatt internationaler Klimaschutzanstrengungen, regulatorisch eingebunden werden. Dann böte sich womöglich die Chance, daß der durch Versprechungen und Perspektiven erstickte Zorn ob des herrschaftslogischen Kalküls, mit dem über die massenhafte Verelendung und Vernichtung zahlloser Menschen entschieden wird, wachgerufen wird. Gegenüber der Wirkmächtigkeit dieses Zorns nähme sich selbst die antikapitalistische Bewegung "Occupy everything" als noch im Alten verhaftet aus, denn solange etwas besetzt werden kann, muß es folgerichtig erhalten bleiben.

13. Dezember 2011