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HEGEMONIE/1762: Blinder Fleck China - Menschenrechtsdiskurs und Klassenkampf (SB)




Wie stets bei Treffen zwischen westlichen und chinesischen Spitzenpolitikern wurde auch zum Besuch des Ministerpräsidenten Chinas, Li Keqiang, in Deutschland die Verbesserung der Lage der Menschenrechte und Demokratie in der Volksrepublik angemahnt. Dies wirkte in Anbetracht der immer weiter anwachsenden Bedeutung Chinas für die Wirtschaft der Bundesrepublik wie der allgemeinen konjunkturellen Entwicklung in der Welt jedoch eher wie eine lästige Pflichtübung, die tunlichst zu absolvieren ist, bevor man zum eigentlich wichtigen Tagesordnungspunkt, der Anbahnung aussichtsreicher Geschäftsbeziehungen, übergeht. Der Menschenrechts- und Demokratiediskurs erfüllt dennoch eine wichtige Funktion für die Regierungen und Gesellschaften, die ihn gegenüber der chinesischen Administration in Stellung bringen, und das nicht, weil es um eine Verbesserung der bürgerrechtlichen und politischen Stellung der chinesischen Bürger ginge.

Dies kann schon von daher ausgeschlossen werden, als der Anspruch der EU und der USA, überall in der Welt die Durchsetzung ihres Gesellschaftsmodells voranzutreiben, durch seine höchst selektive Anwendung dementiert wird. Werte von universaler Gültigkeit erweisen sich in der politischen Praxis globalen Hegemonialstrebens als allemal teilbar und partikulär nach der Prämisse, sie dort einzufordern, wo sich machtpolitisches Kapital aus ihnen schlagen läßt, und sie dort zu ignorieren, wo das Gegenteil der Fall ist. Als Ausweis entwicklungsgeschichtlichen Fortschritts begründen sie die marktwirtschaftliche Öffnung von Staaten, deren Regierungen das eigene Entwicklungsmodell mit staatskapitalistischen und protektionistischen Maßnahmen zu schützen versuchen. Wenn dies mit kriegerischen Mitteln erfolgt, bleiben, wie die Beispiele Afghanistan und Irak zeigen, zerstörte Staaten und verelendete Gesellschaften zurück, die nicht einmal mehr über das Reproduktionsniveau verfügen, das ihnen vor dieser Gewaltkur ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Sicherheit bot.

Wäre das chinesische Konzept eines "Marktsozialismus", in Parteitagsbeschlüssen der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) programmatisch als "Sozialismus chinesischer Prägung" mit dem Ziel des Aufbaus einer "Sozialistischen Harmonischen Gesellschaft" definiert, nicht so erfolgreich, dann wäre seiner Regierung die politische und mediale Verdammung so sicher, wie es im Fall vergleichbarer Länder mit einem hohen Anteil an staatlicher Wirtschaftsregulation wie Belarus, Kuba oder Venezuela mit großer Einhelligkeit der Fall ist. Der relativ moderate Tonfall gegenüber der chinesischen Regierung ist einzig und allein das Ergebnis der handels- und konjunkturpolitischen Bedeutung der Volksrepublik. Ganz auf die Forderung nach der Verbesserung der Menschenrechtslage, nach mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu verzichten ist dennoch nicht möglich. Zum einen, da die Legitimation des neoliberalen Gesellschaftsmodells gegenüber den eigenen Bevölkerungen der Suggestion einer Wertebindung bedarf, die nicht ausschließlich ökonomisch bestimmt ist. Zum anderen stehen die westlichen Regierungen in einer Systemkonkurrenz zur Volksrepublik, deren unterschwelliger Charakter nicht darüber hinwegtäuschen kann, daß sie an Schärfe zunehmen wird, je mehr sich die sozialen Verhältnisse von beiden Seiten her angleichen.

Während in den hochentwickelten Industriestaaten Westeuropas und Nordamerikas der Preis der Arbeit systematisch gedrückt und ein wachsender Teil der Bevölkerung unumkehrbar auf das notdürftige Minimum ökonomischer Reproduktion gesetzt wird, findet in China eine Anhebung des Wohlstands, wenn auch von sehr niedrigem Niveau aus, auf breiter Ebene statt. Zwar ist die soziale Ungleichheit in der Volksrepublik zwischen sehr arm und sehr reich extrem, doch kann die chinesische Führung sich darauf berufen, die hohen Wachstumsraten auch der Lohnarbeiterklasse, die sie erwirtschaftet, zugute kommen zu lassen. So hat der Internationale Währungsfonds die chinesische Regierung zur Durchsetzung marktwirtschaftlicher Reformen aufgefordert, um die negativen Auswirkungen der Lohnsteigerungen auf das Wirtschaftswachstum zu beseitigen. Die Gefahr eines Einbruchs der chinesischen Wachstumsrate für die Weltwirtschaft wird auch in der Bundesrepublik weit höher gewichtet als die sozialen Fortschritte, die mit dem Anstieg der chinesischen Haushaltseinkommen möglich werden.

Indem der Menschenrechts- und Demokratiediskurs den Blick auf Bürgerrechte und politische Partizipation richtet, wird zielsicher am zentralen gesellschaftlichen Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital vorbeigeschaut. Da alle staatlichen und privatwirtschaftlichen Akteure von der Ausbeutung billiger Lohnarbeit in der "Fabrik der Welt" profitieren wollen, reduziert sich das Eintreten für die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter auf die Feigenblattfunktion der Corporate Social Responsibility (CSR), also der selbstregulativen Eindämmung schlimmster Ausbeutungsformen durch die Unternehmen, in deren Namen oder Auftrag sie erfolgen. Allein die Zahl von mehreren Zehntausend Aktionen des kollektiven Widerstands in chinesischen Betrieben pro Jahr belegt, daß die internationale Aufmerksamkeit, die etwa den üblen Arbeitsbedingungen im Foxconn-Fabrikimperium gezollt wurde, lediglich an der Oberfläche eines Problems kratzt, das nicht zuletzt die KPCh in der Behauptung, langfristig das Ziel der klassenlosen Gesellschaft anzustreben, unglaubwürdig macht.

Indem die Partei die Kräfte des Kapitals seit über 30 Jahren in anwachsendem Maße freisetzt, hat sie nicht nur einen vergleichslosen sozialökonomischen Entwicklungssprung bewirkt, sondern auch antagonistische Kräfte auf den als wirtschaftspolitisches Instrument weitgehend verbrannten Plan gerufen. Den sozialen Widerstand gegen Ausbeutung und Unterdrückung zu unterstützen ist gerade nicht das Ziel der Menschenrechts- und Demokratieforderungen westlicher Regierungen und nur in den selteneren Fällen das damit befaßter NGOs. Sie streben vielmehr die Etablierung eines Regulationsmodells an, das die Kontrolle der Investoren über die Mehrwertproduktion chinesischer Lohnarbeit verbessert, ohne die dafür erforderlichen Kosten sozialer Befriedung übernehmen zu müssen. Kritikwürdig in ihren Augen ist nicht die Tatsache, daß die chinesische Regierung die politische Aufgabe, den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit auszutarieren, mit staatsautoritären Mitteln vollzieht. Verwerflich daran ist das aufrechterhaltene Fernziel des Sozialismus, das die KPCh zu sozialen Zugeständnissen, denen noch das Potential einer gesellschaftlichen Alternative zum neoliberalen Kapitalismus inhärent ist, gegenüber der eigenen Bevölkerung nötigt.

Das westliche Modell verläßt sich darauf, das Prinzip des Eigentums unter dem Banner von Freiheit und Demokratie zum ersten Ordnungsfaktor zu erheben und alle darauf basierenden Operationen der Kapitalverwertung mit diesen Werten zu legitimieren. Die ideologische Atomisierung der Bevölkerung zu miteinander konkurrierenden Marktsubjekten, die den Wert ihrer Arbeitskraft im Wettbewerb mit anderen eigenverantwortlich optimieren, die Perfektionierung eines breit gefächerten Instrumentariums polizeilicher und geheimdienstlicher Repression, dessen Kontrollgewalt in der Allgegenwart informationstechnischer Systeme von den Betroffenen als Ausdruck erstrebenswerter Flexibilität gefeiert wird, und die Zurichtung der Bevölkerung auf einen kulturindustriellen Konsum, mit dem drängende soziale Widersprüche symbolpolitisch befriedet und integriert werden, sind signifikante Herrschaftsstrategien einer Gesellschaft, der die Gleichheit der Lebensbedingungen als Feind aller persönlichen Freiheit gilt.

Die Frage, wie es die chinesische Führung schafft, die kapitalistische Entfachung der Produktivkräfte so im Zaum zu halten, daß sie nicht von diesen hinweggefegt wird, beschäftigt die Funktionseliten westlicher Gesellschaften mehr, als sie eingestehen würden. Dem entspricht die weitgehende Ausblendung der administrativen Komponente des chinesischen Erfolgs. So wird der eminent wichtigen Rolle Chinas für die Weltwirtschaft zwar durch eine umfassende Berichterstattung Rechnung getragen, doch wird das Wirtschaftssystem des Landes fast ausschließlich anhand makroökonomischer Indikatoren und betriebswirtschaftlicher Prozesse reflektiert. Das Regierungssystem der KPCh nimmt die Rolle eines lästigen Übels ein, mit dem man zwar leben muß, das man aber so weit wie möglich den eigenen ordnungspolitischen und gesellschaftstheoretischen Vorstellungen unterwerfen möchte. Tatsächlich jedoch hat man keine Vorstellung davon, wie die Sozialkämpfe in dem bevölkerungsreichsten Land der Welt unterhalb der etablierten staatsautoritären Regulationsweise unter Kontrolle zu bekommen wären. Die ethnischen Sezessionsbewegungen, die seine territoriale Integrität in Frage stellen, verschärfen das Problem nicht nur, sondern werden von der chinesischen Regierung als Einfallstore für Zerschlagungsstrategien betrachtet. Wie am Beispiel des NATO-Überfalls auf Jugoslawien vorexerziert könnte ein solches Szenario durchaus in Frage kommen, wenn China versuchte, das durchaus auf Gegenseitigkeit eingegangene Abhängigkeitsverhältnis mit dem Westen aufzukündigen.

In dessen realpolitischer Praxis wird der etablierte Modus vivendi genutzt, um die eigenen Vorteile zu sichern, während die Menschenrechts- und Demokratieforderungen gegen alles in Stellung gebracht werden, was noch den Keim einer sozialistischen Entwicklung in sich bergen könnte. Folgt die chinesische Regierung der Forderung nach der weiteren Liberalisierung der Wirtschaft und Kostensenkung der Arbeit, während sie den dabei aufkommenden Widerstand unterdrückt, dann hat der humanitäre Wertekodex seinen machtstrategischen Zweck erfüllt. Maßnahmen zur Stärkung der Rechte der Belegschaften gegenüber den Unternehmen, zur Steigerung des Lohnniveaus oder des Ausbaus sozialer Sicherungssysteme werden der KPCh als Fehler bei der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes angelastet, weil sie dem Interesse der Investoren an niedrigen Arbeitskosten zuwiderlaufen. Eine blutige Aufstandsbekämpfung, die der des Jahres 1989 gleichkäme, hätte selbst dann ihre internationale Anprangerung zur Folge, wenn sie im Sinne des transnationalen Kapitals gegen eine Erhebung revolutionärer Arbeiterinnen und Arbeiter gerichtet wäre. Was immer an gewaltsamer Erzwingung erfolgt, wird der Einparteienherrschaft zugeschlagen, anstatt als Ergebnis eines Kapitalverhältnisses anerkannt zu werden, das weltweit die gleichen Widerspruchslagen erzeugt. Was sich die NATO-Staaten bei der militärischen Bewältigung ihrer gesellschaftlichen Widersprüche in neokolonialistischen Kriegen unter dem paradoxen Titel des Stabilitäts- und Demokratieexports unbeschadet von vergleichbarer Kritik leisten können, wird bei der chinesischen Führung als Ergebnis autoritärer Herrschaft gebrandmarkt.

Während die sozialen und legitimatorischen Kosten für Chinas Integration ins kapitalistische Weltsystem von der KPCh beglichen werden sollen, die mit diesem Schritt einen Verfall der Volksrepublik nach dem Vorbild der Sowjetunion verhindern konnte, soll der Nutzen in den Bilanzen der wirtschaftlichen Akteure aufgehen, die in China investieren und produzieren. Der verstohlene Blick darauf, was man sich von der chinesischen Führung angesichts der anwachsenden Problematik, auch in der westlichen Staatenwelt materiellen Mangel und soziales Elend verwalten zu müssen, abgucken kann, ist denn auch starr darauf gerichtet, nicht mehr als das zu tun.

Eine Diskussion des chinesischen Entwicklungsweges unter Inanspruchnahme der sozial fortschrittlichen Ziele, die die KPCh zumindest vom Anspruch her verfolgt, ist ebenso unerwünscht wie eine Anerkennung erfolgter Verbesserungen, wenn dies die Glaubwürdigkeit der Partei untermauerte. Die aus den zahlreichen Arbeitskämpfen erwachsende Formation einer Klasse, die sich nicht nur nach der Erfüllung des Konsumversprechens sehnt, das die von ihr produzierten Waren verkörpern, wird erst recht nicht unterstützt, könnte dies doch über die Grenzen der Volksrepublik hinaus unerwünschte Entwicklungen in den eigenen Gesellschaften fördern. Die Beziehungen zu China sind von einem wirtschaftsstrategischen Nutznießverhältnis geprägt, das im besten Fall die eigene Teilhaberschaft an der dort praktizierten Ausbeutung billiger Lohnarbeit schützt und im schlimmsten Fall zu der kriegerischen Bekämpfung des Landes als perspektivischem Gewinner in der globalen Staatenkonkurrenz kulminiert. Um die dort lebenden Menschen geht es anders, als hierzulande glauben gemacht wird, nur auf eine Weise - sie sollen auch in Zukunft den Wohlstand derer mehren, die Rechte fordern, um die Fragen von Macht und Eigentum nicht stellen zu müssen.

30. Mai 2013