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HEGEMONIE/1789: Syriza in der Offensive ... alles nur Provokation? (SB)




"Ich habe keinen Bock, ideologische Debatten zu führen mit einer Regierung, die gerade mal zwei Tage im Amt ist. Was wir brauchen, sind pragmatische Lösungen." Was Martin Schulz, der Präsident des EU-Parlaments, am Mittwochabend im ZDF polternd zum Besten gab, verrät, daß auch sogenannte Volksvertreter nicht gegen antidemokratische Ausfälle gefeit sind. Was wohl die Dauer einer Amtszeit mit der Gültigkeit des von der Bevölkerung erteilten Mandats einer Regierung zu tun haben mag, möchte man Schulz fragen und ihn daran erinnern, daß der Vorwurf der Ideologisierung eines der durchsichtigsten rhetorischen Manöver ist, um einen überzeugend argumentierenden Kontrahenten in der politischen Arena mundtot zu machen.

Auch wenn Schulz nach seinem Gespräch mit dem neuen griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras leisere Töne anschlägt und den Eindruck erweckt, daß der Syriza-Vorsitzende den verlangten pragmatischen Lösungen gegenüber aufgeschlossen sei, so täuscht das nicht darüber hinweg, in welchem Auftrag er nach Athen gereist ist. Obwohl Präsident eines Parlaments, in dem auch Abgeordnete griechischer Linksparteien sitzen, ist der SPD-Politiker ganz dem Interesse einer Bundesregierung verpflichtet, deren Vormachtstellung in der EU mit der Aufrechterhaltung des Schuldendienstes der südeuropäischen Krisenstaaten und der dadurch legitimierten Spardiktate steht und fällt. Die in Politik und Medien der Bundesrepublik nach dem Wahlsieg Syrizas und der schnellen Regierungsbildung in Athen ausgebrochene Unruhe wie der an die kollektive Beleidigung der neuen Athener Führung grenzende Tonfall verraten, daß noch keine Entwarnung gegeben werden kann.

Zwar hat Tsipras mit dem noch vor der Wahl ausgeschlossenen Austritt Griechenlands aus dem Euro signalisiert, daß mit ihm Politik im Sinne der führenden EU-Staaten zu machen sei. Dennoch hat die offensive Gangart, mit der es Syriza gelang, innerhalb nur weniger Stunden eine handlungsfähige Koalitionsregierung auf die Beine zu stellen und bereits erste Beschlüsse im Sinn der angekündigten Maßnahmen gegen die Austeritäts- und Privatisierungspolitik der Troika zu fassen, in den anderen Hauptstädten der EU Angst davor ausgelöst, daß die neue Athener Regierung vielleicht doch nicht so handzahm ist wie von vielen Kommentatoren und Analysten prognostiziert. Diese haben sich in ihrem Urteil vor allem auf den Sachzwang des Schuldendienstes berufen, der bei einer Rückkehr Griechenlands zur Drachme aufgrund des damit ungünstigeren Wechselkurses sogar noch drückender werden würde.

Der Gewißheit der Gläubiger, daß die von ihnen vergebenen Kredite in Kurs bleiben, weil es nur bei Strafe eines drastischen Verfalls des Euros zu einem dann nicht mehr auf Griechenland zu begrenzenden Schuldenschnitt kommen könnte, hat durch das Vorpreschen der Athener Regierung jedoch einen ersten Knacks bekommen. Auch wenn ihre Versuche, politische Verhandlungsmasse durch die Androhung, einstimmig zu treffende Entscheidungen des EU-Ministerrats eventuell zu blockieren, als bloße Provokationen gewertet werden, verfehlt die Aussicht auf eine solche Option ihre zersetzende Wirkung nicht. Allein die kurzfristig im Raume stehende Möglichkeit, Griechenland könne sich der gegen Rußland gerichteten Sanktionspolitik der EU verweigern, hat deutlich gemacht, daß die dezisionistische Eintracht, mit der insbesondere diese Maßnahme bislang durchgesetzt wurde, seit letztem Sonntag nicht widerstandslos herzustellen ist.

Wenn die den imperialistischen Ambitionen führender EU-Staaten ohnehin nie ausreichende außenpolitische und militärische Handlungsfähigkeit der Union auch nur zu dem Zweck in Frage gestellt wird, daß sich die Regierung eines Mitgliedstaates auf einem anderen Politikfeld aufmunitionieren will, dann wird der demokratische Ethos der Wertegemeinschaft schnell zu Makulatur. Die Schwierigkeiten, die sich die EU mit dem Anschluß der Ukraine an ihren Einflußbereich bereits eingehandelt hat, könnten durch ein Ausscheren einzelner Mitgliedstaaten aus der gemeinsamen Front gegen Rußland unbeherrschbar werden. Ob Martin Schulz auch in dieser Hinsicht mit Tsipras "Tacheles" geredet hat, wie er vor seinem Besuch in Athen ankündigte, oder der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier seinen griechischen Kollegen Nikos Kotzias im Ministerrat weichgeklopft hat, um dessen Zustimmung zur Verlängerung der gegen Rußland gerichteten Sanktionen zu erlangen, die gemeinsame Entscheidungsbasis weist auf jeden Fall Risse auf.

Insofern ist die Chance der griechischen Regierung, ein für sie günstiges Ergebnis im Rahmen einer Neuverhandlung des Schuldenregimes zu erlangen, nicht so gering wie allgemein eingeschätzt. An einer Machtprobe mit der Bundesregierung, die die Rückzahlung der griechischen Staatschuld im Interesse der Gläubiger, also unter anderem deutscher Banken, einfordert, könnten auch andere EU-Regierungen wie die Spaniens, Italiens, Portugals oder Zyperns Interesse haben. Die am Horizont drohende Gefahr einer massiven Entwertung des Euro begrenzt jedoch alle vorstellbaren Lösungsmöglichkeiten auf eine Streckung der Rückzahlungsfristen, einen weiteren bescheidenen Schuldenschnitt und bloße Modifikationen der Finanzaufsicht, die die Interessen der Gläubiger durchsetzt. So lange die gigantischen Mengen fiktiven Kapitals, die eine Sanierung stark überschuldeter Volkswirtschaften auf dem Weg einer durch Sparmaßnahmen erst recht rezessiv wirkenden Schuldenrückzahlung praktisch ausschließen, nicht umfassend abgeschrieben werden, wird die soziale Verelendung der dafür in die Pflicht genommenen Bevölkerungen kein Ende finden.

Daher bleibt das größte Faustpfand in dieser Auseinandersetzung der von Tsipras bereits ausgeschlossene Austritt Griechenlands aus dem Euro. Nur die ernstgemeinte Androhung eines solchen Schritts könnte die Bundesregierung so sehr in Schwierigkeiten bringen, daß sie zu weitreichenden Zugeständnissen genötigt wäre. Auf diesem Wege könnte auch die neoliberale Hegemonie in der EU so sehr in Frage gestellt werden, daß wieder andere politische Optionen möglich würden. Sollte die EU tatsächlich reformierbar sein im Sinne ihrer Erweiterung um eine Wirtschafts- und Sozialunion und der Abkehr von dem Versuch, als imperialistische Großmacht globale Wirksamkeit zu entfalten, dann stellte sich das am ehesten durch die Überwindung der monetären und administrativen Zwangsverhältnisse, die sich in der Krise dauerhaft etabliert haben, heraus.

Im Unterschied zu Syriza geht die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) nicht von einer Reformfähigkeit der EU aus, die menschenfreundliche Verhältnisse schaffte. Sie hat daher stets den Austritt Griechenlands aus der EU gefordert und aus diesem Grund eine Koalition mit Syriza ausgeschlossen. Eine bloße Lockerung des Schuldendienstes und der Finanzverwaltung der Troika ist für die KKE im Interesse bürgerlicher Kräfte, die darin die Chance auf eine Beendigung der wirtschaftlichen Stagnation erblickten. Zudem wollten die USA, Frankreich und Italien die Gewinne aus dem Schuldendienste neu verteilen, was auch im Interesse des griechischen Unternehmerverbandes sei [1]. Die griechischen Kommunisten, die sich bei dieser Wahl um ein Prozent von 4,5 auf 5,5 Prozent verbessern konnten, sind grundsätzlich nicht damit einverstanden, den Klassenwiderspruch lediglich zu befrieden. Da absehbar nicht in Aussicht steht, die Herrschaft des Kapitals im Kern aufzuheben, verlegt sich die KKE auf Fundamentalopposition in der Gesellschaft und im Parlament.

Sollte sich der Staub des rasanten Antrittes, mit dem Syriza und ihr kleiner Koalitionspartner Anel die Funktionseliten der EU verblüffen und empören, wieder legen, ohne daß sich an den herrschenden Verhältnissen in Griechenland viel geändert hätte, dann bliebe auch der nun hoffnungsfroh prognostizierte Ansteckungseffekt eines Linksrucks in anderen EU-Staaten aus. Spektakuläre Schritte wie die Aufkündigung der Zusammenarbeit Athens mit der Troika finden zu Recht Beifall. Weil die griechische Regierung die EU-Institutionen und die Regierungen der Mitgliedstaaten auf eine Weise herausfordert, die beispiellos für die Geschichte der Krise ist, müßte sie diese Gangart auch dann beibehalten, wenn nichts anderes mehr bliebe als aus dem Euro auszutreten. Je mehr die Offensive Syrizas auf eine offene Konfrontation mit Brüssel und Berlin hinausläuft, desto mehr steht für alle Linksparteien der EU auf dem Spiel. Sollte sich der Versuch einer linken EU-Regierung, aus einer ohnmächtigen Lage heraus wieder Handlungsfähigkeit zu erlangen und der eigenen Bevölkerung neue Lebensmöglichkeiten zu verschaffen, als bloßer Bluff erweisen, dann hätten sie allen Grund zu der Sorge, daß ihre Wählerbasis erodiert und zwischen den sozialdemokratischen Volksparteien und der außerparlamentarischen Linken künftig nur noch eine Lücke klafft.

Zur Desillusionierung der europäischen Bevölkerungen wird das Geschehen jedoch auf jeden Fall beitragen. Die harschen Zurechtweisungen an die Adresse Syrizas und die autoritäre Maßregelung, mit der ihr Vorhaben quittiert wird, die griechische Bevölkerung von den Auswirkungen der Austeritätspolitik zu entlasten, führen zumindest dazu, daß sich immer weniger Menschen etwas über den Klassencharakter EU-europäischer Gesellschaften vormachen. Sollte die neue Regierung in Athen auf autoritäre oder gar gewaltsame Weise von ihrem Vorhaben abgebracht werden, den Auftrag ihrer Wählerinnen und Wähler zu erfüllen, dann hätte dies nicht minder großen Erkenntniswert.


Fußnote:

[1] https://www.jungewelt.de/2015/01-30/034.php

30. Januar 2015


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