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HEGEMONIE/1799: Zwischen allen Stühlen - Türkeis Linke in Not (SB)



Auf der Jagd nach den Putschisten hat die AKP-Regierung in Ankara wenig Grund, sich zurückzuhalten. Dank der internationalen Rückendeckung, mit der ihr attestiert wird, auf der Seite der Demokratie zu stehen und deren Feinde legitimerweise zu bekämpfen, kann sie mit einem groben Besen kehren, sprich auch alle übrigen Gegner ihres Regimes inhaftieren. Dies hat Präsident Erdogan schon vor dem gescheiterten Putschversuch auf eine Art und Weise getan, die an persönlich motivierte Rachefeldzüge erinnerte, wenn er etwa die Staatsanwaltschaft mit der Verfolgung ihn angeblich beleidigender Journalisten beauftragte. Die große Zahl von politischen Gefangenen, die sich diese Regierung seit Jahren leistet, wie die massive Unterdrückung kritischer Journalisten und Anwälte sprechen ebenfalls dafür, daß die jetzigen «Säuberungen», um ein Wort Erdogans aufzugreifen, keine Ausnahme von der demokratischen Regel, sondern die Regel der zum Normalfall gewordenen Ermächtigung der Exekutive sind.

Mit der Durchsetzung einer Verfassungsänderung zur Etablierung eines Erdogans Befugnisse stark ausweitenden Präsidialregimes ging die Schwächung der parlamentarischen Opposition einher, die in der Aufhebung der parlamentarischen Immunität von 50 der 59 Abgeordneten der linken kurdischen HDP gipfelte. Die Anschläge von Suruc und Ankara, denen zahlreiche linke Aktivistinnen und Aktivisten zum Opfer fielen, wurden niemals vollständig aufgeklärt, so daß der Verdacht einer mehr oder minder direkten Regierungsbeteiligung nicht ausgeräumt werden konnte. Schließlich demonstriert die AKP-Regierung mit dem Krieg gegen die kurdische Bevölkerung im Südosten des Landes ihren Willen, Fakten zu schaffen, die jede denkbare Friedenslösung unmöglich machen.

Zwar mehren sich die Stimmen, die die Verschärfung der politischen Lage in der Türkei als rechtstaatlich und demokratisch bedenklich kritisieren, doch handelt es sich meist um die gleichen Personen, die die bislang erfolgte Unterdrückung der linken Opposition als Maßnahme gegen den Terrorismus gutgeheißen und durch die Kriminalisierung kurdischer und türkischer Linker im eigenen Land mitvollzogen haben. Nun gelte es erst recht, die Verhandlungen zum EU-Beitritt der Türkei dafür zu nutzen, mäßigenden Einfluß auf die AKP-Regierung auszuüben. Dieses Argument erinnert daran, daß die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei seit jeher mehr ein Mittel der politischen Einflußnahme denn Ausdruck des ernstzunehmenden Willens sind, mit dem bevölkerungsstarken Land die Stimmengewichtung innerhalb des Europäischen Rates zu Lasten Deutschlands und Frankreichs zu verändern. Die von Angela Merkel statt dessen angebotene «privilegierte Partnerschaft» ist Ausdruck der Instrumentalisierung des Beitrittsprozesses zur Durchsetzung hegemonialer Interessen insbesondere der Bundesrepublik in der EU-Peripherie. Was immer Ankara auf diesem Wege abverlangt wird, stößt dort auf wachsenden Widerstand. Man ist immer weniger bereit, Zugeständnisse an die Minderung der eigenen Souveränität zugunsten eines Beitrittsprozesses zu machen, der sich noch über Jahrzehnte hinziehen kann und im Vergleich mit der schnell erfolgten Aufnahme politisch und ökonomisch stark entwicklungsbedürftiger Staaten wie Bulgarien und Rumänien deutliche Züge kolonialistischer und kulturalistischer Suprematie aufweist.

Letzteres gilt allerdings auch für das Verhältnis des türkischen Staates zur kurdischen Minderheit, das zwar originär der Neuaufteilung des Nahen und Mittleren Ostens durch die europäischen Kolonialmächte nach dem Ende des Osmanischen Reiches geschuldet ist, in der Integration der Türkei in die Phalanx antikommunistischer Frontstaaten jedoch fugenlos auf diese überging. Die von Erdogan in seiner 14jährigen Amtszeit erfolgreich vollzogene Entmachtung der traditionell als Garant der kemalistischen Staatsdoktrin auftretenden Generalität hat nichts daran geändert, daß auch kurdische Autonomiebestrebungen, die die territoriale Integrität der Türkei nicht in Frage stellen, unter Einsatz aller gewaltsamen Mittel bekämpft werden. Auch in dieser Hinsicht steht die EU stets an der Seite Ankaras, dessen Truppen unter anderem mit deutschen Waffen gegen die eigene Bevölkerung vorgehen.

So kann die Frage nach der Positionierung demokratischer Kräfte in diesem Putschversuch aus der Sicht unterdrückter Kolonialsubjekte und der Lohnabhängigenklasse nicht auf die beiden Akteure dieses Machtkampfes beschränkt bleiben. Weder die, wie die jüngsten Entwicklungen zu bestätigen scheinen, zielgerichtet auf dem Weg zur Präsidialdiktatur befindliche AKP-Regierung noch ein weiteres Militärregime können im Interesse einer Bevölkerung liegen, die in beiden Fällen unter autoritären Maßnahmen und kapitalistischer Verelendung zu leiden hat. Die in der Bilanzierung dieses Putschversuches angestellten Überlegungen zur Legitimität und Legalität der einen wie anderen Seite verraten mehr über das Interessen ihrer Urheber am schönen Schein einer Wertegemeinschaft, die ihrerseits staatsautoritären und interessenpolitischen Maßnahmen frönt, die die Realität des europäischen Imperialismus besser charakterisieren als die Fensterreden führender Politiker.

Es ist im übrigen kein Zufall, daß die NATO bei der Frage, wie Erdogan zur Räson scheindemokratischer Verhältnisse zu bringen wäre, kaum genannt wird. Wenn eine supranationale Organisation Druck auf die Türkei ausüben könnte, dann die transatlantische Militärallianz, die für die Rolle des Landes als hegemonialer Akteur in der Region unverzichtbar ist. Gleiches gilt allerdings für die NATO, der die Türkei als südöstlicher Pfeiler des Bündnisgebietes und Brücke in die islamische Welt dient. Gerade weil dieser ebenso als Wertegemeinschaft fungierende Kriegsakteur beste Verbindungen ins türkische Militär unterhält, wurden dessen Eingriffe in die demokratischen Verhältnisse des Landes letztlich auch durch ihn respektive die Regierungen der NATO-Staaten gutgeheißen. Ging es im Kalten Krieg vor allem um die Begrenzung der sowjetischen Hegemonialsphäre, so dient die Unterdrückung kommunistischer und sozialistischer Bewegungen heute dem politischen und ökonomischen Zugriff auf die Peripherie der westeuropäischen Metropolengesellschaften.

So war die Zerschlagung der arabischen Demokratiebewegung in Syrien, Libyen oder Ägypten keineswegs allein das Werk der durch sie angegriffenen Despoten, sondern wurde durch das pragmatische Manövrieren westlicher Krisen- und Konfliktpolitik bis zur absehbaren Unumkehrbarkeit vollendet. Diese Beispiele stehen, da mögen noch so viele Krokodilstränen vergossen werden, Pate bei der zukünftigen Entwicklung in der Türkei. Das stellt emanzipatorische und revolutionäre Kräfte einmal mehr vor das Problem, eine Gegenposition in den nicht eigens ausgewiesenen, sondern erst herzustellenden Zwischenräumen jenseits von konventioneller Lagerbildung und Ideologieproduktion zu schaffen.

18. Juli 2016


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