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HEGEMONIE/1818: NATO-Land Türkei - Kriegsabsprachen ... (SB)



Carte blanche für Erdogan! Was immer dem türkischen Präsidenten angelastet wird, ist, wenn seine Waffen sprechen, vergeben und vergessen. Der von ihm befohlene Angriff auf die mehrheitlich kurdische Enklave Afrin im Norden Syriens ist in jeder Hinsicht eine völkerrechtswidrige Aggression, zumal ihr zahlreiche Angriffe der türkischen Streitkräfte auf das Gebiet der Demokratischen Föderation Nordsyrien in den letzten beiden Jahren vorausgegangen sind. Diese auch unter dem kurdischen Namen Rojava bekannte Region ist Zufluchtsort Hunderttausender Menschen aus den kriegsgeplagten Regionen Syriens und des Iraks und blieb nach der Vertreibung des Islamischen Staates aus Kobani von größeren Militäroperationen weitgehend verschont.

Nachdem die kurdischen Selbstverteidigungskräfte YPG/YPJ gegen den IS obsiegt haben, sind sie für die großen Akteure im Kampf um die Neuordnung Syriens wie der Hegemonie über den Nahen und Mittleren Osten entbehrlich geworden. Nur im Schutz der komplexen Bündnis- und Konfliktkonstellationen, in die die USA, Rußland und die regionalen Akteure Syrien, Iran, Saudi-Arabien und Türkei verstrickt sind, konnte das Gesellschaftsexperiment im Norden Syriens florieren. Sozial bestimmt von egalitären Prinzipien, die angesichts tiefverwurzelter patriarchaler Strukturen insbesondere auf dem Gebiet der Geschlechtergerechtigkeit auf spektakuläre Weise hervortraten, und politisch getragen von der Idee eines Konföderalismus, der mit der Tradition nationalstaatlicher Konkurrenzverhältnisse zu brechen versucht, hat sich inmitten des explosiven Gebräus aus fundamentalistischer Selbstbehauptung und imperialistischer Interessenpolitik ein Freiraum etabliert, der bei allen vorhandenen Widersprüchen der Solidarität linker Bewegungen sicher sein sollte.

Nicht zufällig wurde den nordsyrischen KurdInnen seitens westlicher Regierungen die Anerkennung vorenthalten, die sie für den Erfolg, gesellschaftlich integrierte und zudem sozialökologisch fortschrittliche Strukturen in einer von Kriegen und Katastrophen bestimmten Region der Welt geschaffen zu haben, verdient hätten. Die Mißachtung der in Syrien lebenden Minderheit dieses größten Volkes der Welt ohne eigenen Staat betrifft insbesondere die sozialen Errungenschaften, von denen in den Berichten und Stellungnahmen zum Syrienkrieg nur selten die Rede ist. Lediglich die militärischen Leistungen der YPG/YPJ werden anerkannt, zugleich jedoch steht das öffentliche Zeigen ihrer Symbole hierzulande unter Strafe. "Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut", behauptete Bundeskanzlerin Merkel bei einer Preisverleihung an den dänischen Urheber der sogenannten Mohammed-Karikaturen, Kurt Westergaard, vor sieben Jahren. Wer heute in Deutschland Mut faßt und ein Bild des Kurdenführers Abdullah Öcalan auf der Straße schwenkt, um seine Freilassung aus menschenrechtswidriger Isolationshaft zu fordern, wandert womöglich selbst in den Knast.

Die politische Verfolgung für ihre Interessen eintretender KurdInnen in der Bundesrepublik erweist sich nun, da ihre Gebiete im Norden Syriens unter anderem mit deutschen Leopard-Panzern angegriffen werden, vollends als komplementärer Bestandteil einer Hegemonialstrategie, die der Bundesrepublik als Akteur im Nahen und Mittleren Osten mehr Einfluß verschaffen soll. Bislang wurde nicht einmal das Angebot einer Aufrüstung türkischer Leopard-Panzer durch die deutsche Rüstungsfirma Rheinmetall, das Außenminister Gabriel seinem türkischen Amtskollegen Chavusoglu in Aussicht gestellt haben soll, zurückgenommen. Ob die AKP-Regierung kurdische Städte im Südosten der Türkei in Schutt und Asche legt oder eine völkerrechtswidrige Aggression gegen ein Nachbarland vom Zaun bricht, in Berlin zeigt man sich duldsam über alle Anstandsgrenzen hinaus. Wie sehr man sich dabei an Grausamkeiten mitschuldig machen könnte, die im Falle kurdischer Menschen immer auch die Möglichkeit einer genozidalen Eskalation in sich bergen, ist in der Hauptstadt der Berliner Republik einmal mehr aus den Augen und aus dem Sinn geraten.

Auf keinen Fall möchte sich die Bundesregierung durch vorschnelle Kritik ins Abseits machtpolitischer Interessen manövrieren. Wie sehr die Verhältnisse in Syrien nach dem weitgehenden Sieg über den IS in der Schwebe sind, zeigt auch die Duldung des türkischen Überfalls auf den Kanton Afrin durch die USA wie Rußland. Mehr noch als die Regierung in Washington, die sich darauf zurückzieht, daß sich das Anti-IS-Bündnis mit den kurdischen Selbstverteidigungskräften nicht auf Afrin erstreckt, fürchtet der Kreml, daß ein Bruch mit der AKP-Regierung den eigenen strategischen Zielen schaden könnte. Der russische Präsident Putin hat den türkischen Luftangriffen und dem darauffolgenden Einmarsch zugestimmt, das belegt der Abzug der russischen Soldaten aus Afrin wie die Erklärung Erdogans, für den Angriff über die Rückendeckung Rußlands zu verfügen. Wer wollte angesichts der großen Einigkeit, mit der die NATO-Staaten und Rußland in der Sache an einem Strang ziehen, noch unvereinbare Interessengegensätze zwischen diesen beiden Akteuren konstatieren?

Wie immer sich die Verhältnisse am Boden sortieren mögen, die wenn auch mehrheitlich kurdische, so doch multiethnische Bevölkerung der Demokratischen Föderation Nordsyrien sitzt in jedem Fall am kürzeren Hebel. Das nicht nur, weil der politische Einfluß eines Volkes ohne Staat gering ist, sondern auch, weil die aus dieser Not geborene Tugend, die nationalstaatliche Organisationsform insgesamt durch ein konföderales Modell für die Region überwinden zu wollen, für alle staatlichen Akteure gefährlich ist. So gering der Einfluß der quasi zwischen allen Stühlen sitzenden kurdischen Bevölkerung ist, so sehr könnte die Idee, das Erbe kolonialistischer Territorialpolitik, das die politischen Gewaltverhältnisse im Nahen und Mittleren Osten zementiert hat, durch Strukturen konföderalistischer Selbstorganisation hinter sich zurückzulassen, um sich greifen.

Eine solche Idee so wehrhaft zu machen, daß die sie tragende Bevölkerung zumindest zwischenzeitlich auf der Weltbühne auftaucht, ist in Zeiten allgemeiner politischer Regression nicht gering zu schätzen. Die sich daraus ergebenden Zwänge, Bündnisse mißliebiger Art einzugehen und sich mit Akteuren gutzustellen, die die eigenen politischen Prinzipien keineswegs teilen, sind nur unter größten Schwierigkeiten und bei stets drohendem Ausverkauf der gesellschaftspolitischen Ideale in einen dauerhaften Vorteil zu verwandeln. Wie anders jedoch ist der Kampf um politische Selbstbestimmung und die Möglichkeit realer Gesellschaftsveränderung unter den Bedingungen imperialistischer Konkurrenz auf der Höhe der Zeit durch soziale Bewegungen und Minderheiten zu führen?

24. Januar 2018


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