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HERRSCHAFT/1429: Je tiefer die Krise, desto radikaler ihre Überwindung (SB)



Auf Gipfeltreffen getätigte Zusagen zur Bereitstellung von Finanzmitteln für humanitäre Zwecke werden selten vollständig eingelöst. Im Fall des Welternährungsgipfels in Rom, auf dem im Mai 2008 insgesamt 22 Milliarden Dollar an Nahrungsmittelhilfen zugesagt wurden, hat man im Januar 2009 laut der Welternährungsorganisation FAO lediglich zwei Milliarden Dollar verfügbar gemacht (Financial Times, 27.01.2009). Gleichzeitig wurden Hunderte Milliarden Dollar in die Rettung der Banken gesteckt, so zum Beispiel in der Eurozone, die man im Oktober 2008 mit einem Refinanzierungsrahmen von 1700 Milliarden Euro krisenfest zu machen versucht hat. Der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, merkt dazu an, daß fast zur gleichen Zeit die Beiträge für die humanitäre Hilfe der Vereinten Nationen um durchschnittlich 50 Prozent gekürzt und tausende Entwicklungshilfeprojekte gestrichen wurden (Tagesspiegel, 23.02.2009).

Das extreme Mißverhältnis zwischen dem erheblichen Einsatz staatlicher Finanzmittel zur Sanierung jenes Akkumulationsmodells, dessen Nutznießer wesentlich zum Ausbruch dieser epochalen Krise beigetragen haben, und der bloßen Nothilfe für die Hungernden der Welt auf bloße Aneignungsinteressen zurückzuführen wäre zu kurz gegriffen. Der zunehmende Welthunger ist integraler Bestandteil der kapitalistischen Wirtschaftsweise, die ohne die Produktion existentiellen Mangels nicht funktionierte. Wenn die Grundbedürfnisse aller Menschen befriedigt und der Schmerz der Überlebensnot bewältigt wären, dann gäbe es für das Gros der Menschen keinen Anlaß mehr, sich den Anforderungen und Zumutungen staatlicher und ökonomischer Verfügungsgewalt zu unterwerfen.

Die nun häufig zu vernehmende Behauptung, jetzt müßten globaler Freihandel und internationale Arbeitsteilung erst recht vorangetrieben werden, um die Not in den Ländern des Südens zu bekämpfen, steuert zielgerichtet auf den Erhalt und die Qualifikation eines Mangels zu, der die zentrale Triebkraft marktwirtschaftlicher Dynamik bildet. Natürlich wird dies nicht so offen gesagt, anstelle dessen spricht man von Chancen und Möglichkeiten der ökonomischen Entwicklung und individuellen Vermögensbildung. "Sozial" an dieser Marktwirtschaft ist die Aufrechterhaltung des Überlebenskampfes unter Rahmenbedingungen, die die ordnungspolitischen, gesellschaftlichen und infrastrukturellen Voraussetzungen national und global strukturieren.

Eine der wesentlichen Momente, anhand derer sich die globalisierte Verwertungsdynamik entfalten kann, besteht in den unterschiedlichen Produktivitätsniveaus des kapitalistischen Weltsystems. Während in Afrika, Asien und Lateinamerika Millionen Menschen hungern und Zehntausende täglich aus Mangel an essentiellen Lebensvoraussetzungen wie Nahrung, Wasser, Heizung und medizinischer Versorgung sterben, wird in den Medien der Republik tagelang die Frage aufgeworfen, ob ein beim Einsturz des Kölner Stadtarchivs verschütteter Mann noch leben könnte. Breit angelegten Debatten über kulturelle oder konsumistische Geschmacksfragen stehen gelegentliche Meldungen gegenüber, daß die Zahl der weltweit Hungernden schon wieder angestiegen ist.

Die Tatsache, daß jedes Jahr 10.900.000 Kinder in den Ländern des Südens aus armutsbedingten Gründen einen ansonsten vermeidbaren Tod sterben, ist schon deshalb nicht vermittelbar, weil das Ignorieren des Massensterbens Voraussetzung der eigenen Sattheit ist. Das Wissen um den direkten Zusammenhang zwischen existentieller Not in den Elendsregionen der Welt und eigenem Wohlbefinden muß positiv affirmiert werden, um nicht in die Lage zu geraten, über den eigenen Tellerrand hinaus zu denken und politische Konsequenzen zu ziehen.

Ohnehin ist keineswegs gesichert, daß die Menschen nur unter Ausblendung der Not des anderen in der Lage wären, um den eigenen Bauchnabel zu kreisen. Schließlich gilt das Scheitern des anderen in sozialdarwinistischen Gesellschaften immer auch als Beleg dafür, daß man selbst die besseren Entscheidungen getroffen hat. Wie es um diesen Vergleich bei den Betroffenen bestellt ist, ist aus naheliegenden Gründen nicht mitteilbar. Die vermeintliche Exklusivität des eigenen Überlebensanspruchs wird so lange nicht widerlegt, als dessen unumkehrbare Negation jede Handlungsfreiheit vernichtet.

Im Unterschied zum vermeintlich goldenen Zeitalter kapitalistischen Wachstums breitet sich die Not auch in den westlichen Metropolengesellschaften, wo der Hunger zur alltäglichen Realität von Millionen wird, aus. Auch wenn dies in der Bundesrepublik, etwa im Unterschied zu den USA, wo offiziell über 30 Millionen Menschen mangelernährt sind und staatlich gewährte Lebensmittelhilfen mit stark zunehmender Tendenz nachgefragt werden, noch nicht so präsent ist, fällt die Distanzierung von den Problemen der globalen Armutsbevölkerung nicht mehr so leicht. Immer mehr Menschen müssen erleben, daß die medialen und politischen Beschwichtigungsfassaden ihre soziale Realität nicht mehr abbilden, sondern ausschließen.

Millionen Menschen leben in der Bundesrepublik unter Bedingungen, die sie vollständig in Anspruch nehmen, nur um ihr tägliches Überleben zu sichern. Das Versprechen kapitalistischer Reichtumsbildung, stetig mehr Zeit und Mittel für die eigentlich wichtigen Dinge des Lebens zur Verfügung zu haben, wird auf gegenteilige Weise wahr. Was immer man sich erträumt haben mag an persönlichem Lebensglück, reduziert sich auf Verluste, die einen wachsenden Aufwand an irrationaler Beschwichtigung verlangen, um noch in lohnens- und erstrebenswerte Lebensinhalte umgewidmet zu werden.

Vor diesem Hintergrund wäre allemal die Systemfrage zu stellen, und eben dies wird entschieden bekämpft. Dabei bedienen sich die Herrschenden zusehends der Mobilisierung nationalchauvinistischer und sozialrassistischer Ressentiments, wie das Einschwören der Bevölkerung auf die Ziele des in der Bundesrepublik angesiedelten Kapitals oder die Stigmatisierung von Langzeitarbeitslosen, Illegalen und Flüchtlingen als parasitäre Delinquenten belegen. Die noch an materieller Sicherheit partizipierende Bevölkerung soll vor dem Schattenwurf des globalen Krisenszenarios auf einen politischen Konsens festgelegt werden, der die Aufrechterhaltung kapitalistischer Klassenherrschaft absichert. Streitigkeiten über die konkrete Krisenbewältigung sind Bestandteil eines Blendwerks, das die Bundesbürger von der Alternativlosigkeit jener Verfügungsverhältnisse überzeugen soll, die auf der Wahrung des Abstands zwischen reichen und armen Regionen und Bevölkerungen basieren.

Die Bekämpfung des Welthungers wird demnach bestenfalls als Verteilungs- und Finanzierungsproblem behandelt, anstatt sich in diesem Zusammenhang Fragen zu stellen, die das Privateigentum an Produktionsmitteln und die Beweggründe wie Folgen imperialistischer Expansion betreffen. Daß die handelnden Akteure transnational organisiert sind, daß sie ihre Interessen mit kriegerischer Gewalt durchsetzen und daß der existierende Mangel Voraussetzung ihres Verwertungskonzepts ist, wollen viele Menschen lieber nicht so genau wissen. Sie könnten erkennen, daß sie selbst Objekt räuberischer Praktiken sind, indem sie für einen Nutzen haftbar gemacht werden, dessen sie nie teilhaftig wurden.

Die Bestimmung einer Position, die sich dieser Vereinnahmung widersetzt, ist überfällig. Sie wird in den kommenden Monaten, da die Weltwirtschaftskrise synchron mit den Krisen des Klimawandels, der Verknappung natürlicher Ressourcen und der Verteuerung von Lebensmitteln katastrophale Ergebnisse nicht nur in den Ländern des Südens zeitigt, mit neuer Dringlichkeit ganz oben auf der Agenda solidarischer Menschen stehen. Über reformkapitalistische Rezepturen zu debattieren, deren Verfechter die vermeintlich schönen Zeiten des Klassenkompromisses heraufbeschwören, reicht nicht aus, schließlich wurde dieser nicht umsonst pünktlich zum Ende des Systemantagonismus aufgekündigt. Nicht das Drehen an einigen Stellschrauben einer vermeintlich bewährten Mechanik, sondern der Austausch ihres Bedienungspersonals durch Menschen, die sich als Gattungswesen verstehen und das Problem "der Entfremdung des Menschen von dem Menschen" mit aller Entschiedenheit zu überwinden trachten, könnte als gemeinsame Aufgabe weiterführen.

10. März 2009