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HERRSCHAFT/1479: Merkel sitzt aus, wozu Steinmeier ohnehin der Mut fehlt (SB)



Die in einigen Kommentaren zu vernehmende Ansicht, Bundeskanzlerin Angela Merkel habe sich auf eine Strategie des Aussitzens verlegt, indem sie einfach die Themen ihres Konkurrenten Frank-Walter Steinmeier okkupiert und ihm so in aller Ruhe das Wasser abgräbt, macht auch auf gegenteilige Weise Sinn. Die SPD buhlt mit allem, was Steinmeier bislang aufgefahren hat, um die Gunst der sogenannten Mitte, sprich des Kapitals. Ihr fehlt jeder Mut zum streitbaren Umgang mit den Kräften, deren erklärter Gegner die älteste Partei Deutschlands einst war. Ihr Kanzlerkandidat Steinmeier hat mit seinem Deutschlandplan einen Entwurf zur Bewältigung der sozialen Konflikte vorgelegt, der die Handschrift eines Regierungspolitikers aufweist, dem Opportunismus gegenüber den Mächtigen im Land seit langem zur zweiten Natur geworden ist.

Das Rezitieren einer neoliberalen Wachstumslogik, der einige symbolpolitische Attribute des sozialen Ausgleichs als wähleraffine Ornamente angeschraubt werden, wird im Verzicht auf die Forderung nach prinzipieller Verteilungsgerechtigkeit auf realpolitische Weise praktisch. Die Wiederherstellung des Klassenkompromisses früherer Jahre bleibt aus, da er sich politisch überlebt hat und nach Maßgabe der vollzogenen Krisenregulation nicht zu finanzieren ist. Steinmeier hat den rot-grünen Abschied von der klassischen Sozialdemokratie mitzuverantworten und kann nun nicht anders, als den Aufseher einer Anstalt des Förderns und Forderns zu geben. Seine Bewegungsfreiheit ist so gering, daß schon kleine Abweichungen vom Marsch in die neofeudale Restauration wie das selbstbestimmte Programm eines Aufbruch in bessere Zeiten wirken soll.

Das allerdings kauft ihm niemand ab, der die SPD nicht nur aus Tradition oder als kleineres Übel wählt. Jeder weiß, daß Steinmeiers Vollbeschäftigungszenario wenn überhaupt, dann nur nach Maßgabe der Kapitalinteressen zustandekommt. Das bedeutet noch geringere Elendslöhne zu noch schlechteren Arbeitsbedingungen insbesondere für das Heer der Erwerbslosen, denen sozialpolitisch das Wasser abgegraben wird, um sie zu vorauseilendem Gehorsam gegenüber den Anordnungen der Arbeitsagentur zu nötigen. Was immer sich die Wahlkampfstrategen der SPD einfallen lassen, ohne die Systemkrise als solche anzuerkennen und daraus Konsequenzen des gesellschaftlichen Wandels von unten zu ziehen, verödet unter dem Ansturm der krisengestählten Reorganisation des Kapitalismus als ein mit noch mehr Zwang und Not gepanzertes System der Herrschaftsicherung.

Steinmeier biedert sich mit der neoliberalen Diktion des Deutschlandplans, der sich gegen einen "Gleichverteilungs- und Bevormundungsstaat" ausspricht und ein Loblied auf die "individuelle und unternehmerische Freiheit" singt, so unverhohlen bei den Eliten an, daß er auch den Rest der klassischen SPD-Klientel zur Linken oder in die Wahlabstinenz treibt. So bedarf es Kanzlerin Merkel, deren Loblied auf die soziale Marktwirtschaft den noch nicht von der blinden Hoffnung auf schmalen Lohn für bereitwillig geleistete Unterwerfung eingelullten Bundesbürgern als Fanfare zur Befreiung der Kapitalmacht von den verbliebenen Ansprüchen auf soziale Gerechtigkeit in den Ohren gellt, keiner großen Anstrengung, sich eine SPD vom Leibe zu halten, die im Zweifelsfall eben doch schlechter als das Original ist.

Beide Regierungsparteien bauen darauf, daß das Gros der Bundesbürger auf die Restauration nationalkapitalistischer Dominanz Deutschlands hofft und meint, als Partikel dieser Formation auch in Zukunft besser zu leben als die meisten Menschen in der Welt. Von dieser vorherrschenden Einstellung profitieren vor allem die Unionsparteien, die nicht die Erblast mit sich herumtragen, je etwas anderes beansprucht zu haben als das Lied der Herrschenden zu singen. Je unverhohlener das Primat der Stärke angebetet wird, desto abträglicher ist es für eine Partei, die die Schwachen nur unter dem Vorwand in den Staub treten will, daß ihnen damit etwas Gutes getan wird. Die bei Restitution der Kapitalmacht notwendige Krisenbewältigung kann sich dererlei Sentimentalitäten nicht mehr leisten. Sie zielt auf eine sozialdarwinistische Hackordnung ab, bei der die drastisch gewachsene Staatsverschuldung gänzlich auf dem Rücken derjenigen abgearbeitet wird, die zur Produktivität nichts beizutragen haben. Da dies mit gebotener Rücksichtslosigkeit erfolgen wird, ist eine Sozialdemokratie, die sich als Moderatorin des Klassenkompromisses aus systemischen Gründen überlebt hat und dennoch nicht bereit ist, Position gegen die anstehenden Zumutungen einzunehmen, so überflüssig wie die von ihr ins gesellschaftliche Abseits geschickten "Überflüssigen".

24. August 2009