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HERRSCHAFT/1495: "Parallelgesellschaften" ... Angriff auf die atomisierte Gesellschaft (SB)



In der Debatte um das Interview des SPD-Politikers und Bundesbankvorstandsmitglieds Thilo Sarrazin darf das Schlagwort von den "Parallelgesellschaften" nicht fehlen. Eingebracht hat es der Publizist Ralph Giordano, dem dieser angebliche Mißstand schon seit längerem Anlaß für verletzende Ausfälle gegen in Deutschland lebende Muslime ist. Giordano unterstützt Sarrazin inhaltlich uneingeschränkt. Dieser habe, so Giordano gegenüber dem Nachrichtensender N24, "mit dem, was er gesagt hat, vollkommen recht". Zwar hätte Sarrazin nicht die "Schreibart des Schriftstellers" getroffen, "aber wie es aussieht in den Parallelgesellschaften, das hat er genau getroffen" (Focus Online, 06.10.2009).

Wo immer der 86jährige Giordano seine Kenntnisse hernimmt, er bezieht sie ausschließlich auf die muslimische Minderheit, die er mitunter mit Verbalinjurien heimsucht, wenn er etwa ganzkörperlich verhüllte Frauen als "menschliche Pinguine" diffamiert. Wenn sich ein Schriftsteller dadurch qualifiziert, daß er verletzende Vergleiche zieht, die jedem nationalchauvinistischen Deutschen auf der Zunge liegen, dann ist die Republik mit begnadeten Autoren überfüllt. Giordano sekundiert all jenen, die den Blick über den eigenen Gartenzaun in ausschließlich apologetischer Weise riskieren, mit kulturalistischen Klischees, die vergessen machen, daß dem angeblichen Sachstand der "Parallelgesellschaften" eine vor allem sozialökonomische Bedeutung zukommt.

Niemand anders als Thilo Sarrazin sorgt mit seinen sozialrassistischen Äußerungen [siehe POLITIK/KOMMENTAR-RAUB/0916] über Gruppen, die nicht seiner - am Kontostand bemessen - verdienstvollen Klasse angehören, dafür, daß Millionen Menschen in der Bundesrepublik von der Teilnahme am öffentlichen und kulturellen Leben ausgeschlossen sind. Das von seiner Partei eingeführte Kontroll- und Arbeitsregime Hartz IV hat die Voraussetzung dafür geschaffen, daß Bürger dieser Republik unter ghettoartigen Umständen leben müssen, daß sie eine Schattenexistenz führen, da sie vermeintlich selbstverständliche Dinge des Lebens nicht in Anspruch nehmen können, daß sie vereinsamen, weil soziale Beziehungen unter die ökonomische Kuratel, anstatt des Staates für das Überleben des anderen aufzukommen, gestellt werden. Der an ihnen vollzogene Ausschluß schafft eine Sphäre der gesellschaftlichen Parallelität, in der der soziale Notstand zur Regel verstetigt wird.

Der von Sarrazin artikulierte und von Giordano geteilte Ärger über ganze Gruppen der Bevölkerung, die ihrem Vergesellschaftungsprimat gemäß nicht produktiv sind und sich dennoch anmaßen, Mensch und Bürger wie jeder andere zu sein, versteckt seinen sozialrassistischen Kern hinter der Maske kultureller Differenzen, die als inakzeptabel anzugreifen den kleineren Teil des verhandelten Affronts darstellen. Die Verknüpfung fremdartiger Lebensweise mit sozialer Delinquenz bildet den Sprengstoff, mit dem Sarrazin und Giordano zündeln. Die Verteidigung ihres arrivierten Sozialstatus gegen die Subalternen meint die inländische Bevölkerung nicht minder als die exponierten Araber und Türken, die als Popanz der klassenapologetischen Ausgrenzungsstrategie herhalten müssen.

Der Anspruch, aus der Mitte der Gesellschaft heraus zu argumentieren und die deutsche Leitkultur zu repräsentieren, bringt eine sozialchauvinistische Suprematie in Stellung, die durchzusetzen der Herrschaft über die staatlichen Institutionen, privatwirtschaftlichen Konzerne und Mainstreammedien bedarf. Dies kann nur funktionieren, indem den Subalternen das Recht auf unteilbare Menschenwürde und gleichberechtigte Partizipation von vornherein abgesprochen wird. Sie sollen in Vorleistung gehen und sich ersteinmal bewähren, damit sie dann von den Herren des Landes, die weit über die Maßgabe des Grundgesetzes hinaus verpflichtende Werte und Normen setzen, gnädigerweise geduldet werden.

Mit der gleichen argumentativen Stichhaltigkeit könnten die Betroffenen von der Parallelgesellschaft der Kapitalmacht- und Funktionseliten sprechen. Diese genehmigen sich trotz und wegen ihrer minoritären Position antidemokratische Praktiken und bourgeoise Privilegien, die den oligarchischen Charakter kapitalistischer Herrschaft offenlegen und sich mit dem ideellen Gleichheitsgebot des Grundgesetzes nicht vereinbaren lassen. Um eine solche Volte nicht einmal denken zu können, wird von oben nach unten geherrscht, bestimmt, dekretiert. Ökonomische, politische und publizistische Macht setzen ihre Definitionsgewalt über die Auslegung der Verfassungsinhalte schon deshalb Hand in Hand durch, um keinen Widerspruch vernehmbar werden zu lassen, der das reale gesellschaftliche Gewaltverhältnis in Frage stellt.

Der Vorwurf, in der Bundesrepublik existierten illegitime Parallelgesellschaften, richtet sich insbesondere gegen die sich dort möglicherweise entwickelnden Formen der Streitbarkeit und des Widerstands. Die mit der Durchdringung der Gesellschaft durch den flexiblen Kapitalismus bezweckte Atomisierung wird durch Gemeinschaftsformen, in denen Menschen sich ohne Aufsicht und Einflußnahme Dritter solidarisch zeigen, auf systembedrohende Weise in Frage gestellt. Das ist der wesentliche Grund dafür, daß in der Debatte um das Sarrazin-Interview nur der kulturalistische Affront, nicht jedoch die sozialrassistische Offensive in Frage gestellt wird. Indem Giordano das heterogene Nebeneinander der Kulturen und Religionen, der Lebensformen und Sozialbiotope zum Anlaß bitterer Vorwürfe nimmt, erweist er sich als Herold jener neokonservativen Ordnung, die zu vertiefen Programm der neuen Bundesregierung ist.

11. Oktober 2009