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HERRSCHAFT/1538: Haltlose Spekulationen über Köhlers geheime Rücktrittsgründe (SB)



Großes Rätselraten über die tatsächlichen Gründe, die Horst Köhler zu seinem Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten bewegt haben sollen. Ein einziges Interview mit einigen mißverständlichen Passagen könne doch wohl nicht der Grund für einen solch spektakulären Schritt sein, räsonieren zahlreiche Kommentatoren und stellen Mutmaßungen darüber an, daß Köhler schon zuvor abgewirtschaftet und einfach keine Lust mehr gehabt habe. Am Offenkundigen des Vorgangs soll nicht weiter gerührt werden, weil die Äußerung, die Köhler zum Rücktritt veranlaßt hat, einfach zu unmißverständlich ist, als daß man sie bei genauerer Betrachtung noch verharmlosen oder beschönigen kann:

"Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ, bei uns durch Handel Arbeitsplätze und Einkommen zu sichern. (...)
Aber es wird wieder Todesfälle geben, nicht nur bei Soldaten, möglicherweise auch durch Unfall mal bei zivilen Aufbauhelfern. Das ist die Realität unseres Lebens heute, wo wir einfach zur Kenntnis nehmen müssen: Es gibt Konflikte. Man muss auch um diesen Preis sozusagen seine am Ende Interessen wahren." [1]

Es ist bezeichnend für die verbreitete Scheuklappenmentalität, daß diese Worte wieder und wieder zitiert werden können, ohne daß ihr Gehalt in den konkreten Zusammenhang politischen Handelns und verfassungsrechtlicher Legitimation gestellt wird. Köhlers Aussage war von so grundsätzlicher wie übergreifender Art, daß die nachgereichte Richtigstellung, er habe nicht den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr, sondern die Atalanta-Mission gegen Piraterie am Horn von Afrika gemeint, nichts richtig stellen oder gar präzisieren konnte, sondern den Schaden aufgrund ihres fadenscheinigen Charakters nur vergrößerte.

Nach wie vor gilt der Verteidigungsfall (Art 87a Abs. 2 GG) als einziger Anlaß, die Streitkräfte in eine kriegerische Auseinandersetzung zu führen. Nur wenn "das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht" (Art. 115a Abs. 1 GG), können die Verfassungsorgane einen Verteidigungsfall feststellen. Auslandseinsätze der Bundeswehr finden laut Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1994 ausschließlich zum Zwecke der Friedenssicherung im Rahmen von NATO- und UN-Mandaten statt. Das Gericht stützte sich dabei auf Art. 24 Abs. 2 GG:

"Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkung seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern".

Hinsichtlich dieses für den Beitritt der Bundesrepublik zur NATO zentralen Verfassungsgrundsatzes führte das BVerfG in seinem Urteil vom 12. Juli 1994 aus:

"Ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG ist dadurch gekennzeichnet, daß es durch ein friedensicherndes Regelwerk und den Aufbau einer eigenen Organisation für jedes Mitglied einen Status völkerrechtlicher Gebundenheit begründet, der wechselseitig zur Wahrung des Friedens verpflichtet und Sicherheit gewährt. (...) Auch Bündnisse kollektiver Selbstverteidigung können Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne von Art. 24 Abs. 2 GG sein, wenn und soweit sie strikt auf die Friedenswahrung verpflichtet sind." [2]

Bedenkt man, daß das Urteil des Karlsruher Gerichts bereits heftig umstritten war, wurde damit doch der Militarisierung der deutschen Außenpolitik Vorschub geleistet und ein Rückschritt in eine Zeit vollzogen, die man nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs als überwunden erachtete, dann ist die damit gesetzte Rechtsnorm um so strikter im Sinne der Gewaltvermeidung einzuhalten. Sie bindet jeden Einsatz der Bundeswehr, der über die unmittelbare territoriale Landesverteidigung hinausgeht, an völkerrechtliche Grundsätze und an ein Friedensgebot, das sich sicherlich nicht durch ökonomische oder andere Interessen relativieren läßt, deren nichterfolgte Durchsetzung weit von einer Bedrohung entfernt ist, die Leib und Leben der Bundesbürger betreffen könnte.

Gerade weil die Legitimation deutscher Kriegführung auf so schwachen verfassungsrechtlichen Füßen steht, insistieren die Funktionseliten in Politik und Medien auf einer Antiterrordoktrin, deren praktischer Widersinn nicht offenkundig genug sein kann, als daß man wider alle Vernunft an ihr festhielte. Immer noch gilt der Verfassungsgrundsatz nach Art. 26 Abs. 1 GG:

"Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen."

Nun kommt der Bundespräsident von einem Frontbesuch in Afghanistan und plaudert aus dem Nähkästchen imperialistischer Kriegsplanung, als ob es sich um das Selbstverständlichste der Welt handelte, daß Staaten und Staatenbündnisse ihre Interessen auch mit militärischen Mitteln durchsetzen. Tatsächlich trifft dies auf große Militärmächte zu, doch dies praktisch umzusetzen und ideologisch zu rechtfertigen sind zweierlei Dinge. Köhlers in seiner Rücktrittserklärung aufgestellte Behauptung, seine Kritiker, die ihm "unterstellen, ich befürwortete Einsätze der Bundeswehr, die vom Grundgesetz nicht gedeckt wären", ließen den "notwendigen Respekt für mein Amt vermissen" [3], war quasi die letzte Verteidigungslinie, die ihm zur Verfügung stand. Um die angebliche Unterstellung wirksam zu entkräften, hätte er schon ins Detail gehen müssen, doch eine genaue Analyse seiner Worte hätte die Lage nur noch verschlimmert.

Das nun ausgebrochene Rätselraten über die geheimen Gründe hinter dem offiziellen Grund für seinen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten ist nichts als die Fortsetzung der zuvor erfolgten Rechtfertigungsversuche Dritter, die Köhler eine mißverständliche und ungeschickte Rhetorik anlasteten und gleichzeitig bestätigten, daß er mit seiner präsidialen Militärdoktrin so falsch nicht liege. Als ehemaliger IWF-Chef weiß Köhler sehr genau Bescheid über den Zusammenhang zwischen geostrategisch definierten Hegemonialinteressen und der Produktivität einer Volkswirtschaft. Allein die Bundesbürger sollen weiterhin im Tal der Ahnungslosen leben und sich an Märchen über sinistre Gestalten, die in afghanischen Berghöhlen Pläne zur Welteroberung ausbrüten, erwärmen. Ein durch systematische Verdummung erzeugter gesellschaftlicher Frieden ist in Zeiten anwachsender sozialer Konflikte immer weniger gewährleistet, das hat auch der ehemalige Bundespräsident einsehen müssen. Er zog den schnellen Weg ins Privatleben dem langen Elend des Repräsentanten einer Gewaltordnung vor, die gegenüber den Betroffenen auf beiden Seiten der Front zu legitimieren zu einer immer unbequemeren Pflicht wird.

Fußnote:

[1] http://www.dradio.de/aktuell/1191138/

[2] http://www.servat.unibe.ch/law/dfr/bv090286.html

[3] http://www.bundespraesident.de/

1. Juni 2010