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HERRSCHAFT/1540: Iran vor einem Jahr ... statt der sozialen die "Twitter-Revolution" (SB)



Verhalten fallen die Rückblicke auf die Massenproteste gegen die iranische Regierung vor einem Jahr aus. Was im Westen als "Twitter-Revolution" gefeiert wurde, setzte ein IT-gestütztes Kommunikationsmittel, das nicht nur als Instrument der Mobilisierung verwendet wurde, sondern eine programmatische Aussage zum Inhalt dieser vermeintlichen Revolution traf, an die Stelle sozialer Forderungen. In der britischen Tageszeitung The Guardian (09.06.2010) kritisiert der Herausgeber des Bloggernetzwerks Global Voices, Hamid Tehrani, daß der Hype um Twitter eher westliche Fantasien über neue soziale Medien spiegelte als die Realität im Iran: "Der Westen war nicht auf die Bevölkerung des Irans fokussiert, sondern auf die Rolle westlicher Technologie. Twitter war für die Verbreitung dessen, was passiert ist, wichtig, aber seine Rolle wurde übertrieben" [1]. Laut Tehrani gab es zur Zeit der von der iranischen Opposition als gefälscht verurteilten Präsidenschaftswahl weniger als tausend aktive Twitter-Nutzer im Land. Zwar wären Informationen aus Teheran verbreitet worden, diese wurden jedoch nur von wenigen aufgegriffen: "Wenn jemand twitterte, daß 700.000 Menschen vor einer Moschee demonstrierten, erwies sich, das sich nur etwa 7000 Menschen zeigten", so Tehrani.

Die Proteste fanden auch ohne diese Mobilisierungsform statt, und den Demonstranten ging es kaum in erster Linie darum, schnellere Fortschritte bei der Optimierung des Kapitalismus durch informationstechnische Systeme zu erzwingen. Die von westlichen Medien hochgespielte Rolle sozialer Medien im allgemeinen und Twitters im besonderen spiegelt den herrschaftsförmigen Charakter eines Liberalismus, der die Austragung konkreter sozialer Widersprüche auf die Freiheit beschränkt, über sie reden zu können. Zumindest in der westlichen Berichterstattung spielten die sozialen Anliegen der iranischen Bevölkerung fast keine Rolle, stets ging es um die Überwindung repressiver Praktiken der theokratischen Staatsmacht. Im Ergebnis schien das Ziel der Protestbewegung darin zu bestehen, demokratische Verhältnisse nach westlicher Maßgabe einzuführen, ohne am Klassencharakter der iranischen Gesellschaft etwas zu ändern.

Heute, da die Oppositionsbewegung die ursprünglich für den Jahrestag der Präsidentenwahl geplanten Demonstrationen abgesagt hat, erweist sich der zumindest für Teile dieser heterogenen Bewegung geltende prowestliche Charakter und ihr Verzicht auf explizite Kapitalismuskritik als Hemmschuh für eine neue umfassende Mobilisierung. Es ist nicht allein die von der iranischen Führung ausgehende Repression, die die derzeitige Schwäche der Oppositionsbewegung bedingt, es ist ihr Mangel an einer Kritikfähigkeit, die sich ebenso gegen kapitalistische wie theokratische Herrschaft wendet. Auf die großen sozialen Probleme der iranischen Bevölkerung hat die Führung der grünen Opposition keine Antworten, die sich wesentlich von denen neoliberaler Regierungen im Westen unterscheiden.

Warum sollten die Iraner angesichts der brutalen Umlastung auf dem Finanzmarkt erzeugter Verluste auf Lohnabhängige, wie sie in Griechenland zu erleben sind, glauben, daß sie nach einem Sturz der Regierung in Teheran nicht vom Regen in die Traufe kämen? Der hohe Preis einer nur gewaltsam zu erzwingenden politischen Veränderung ist nicht zu rechtfertigen, wenn die Menschen anschließend auf modifizierte Klassenherrschaft im gleichen Verwertungssystem treffen. Wenn sich eine Revoeution nicht so bunt wie in den Staaten Osteuropas gestaltet, in denen postkommunistische durch neoliberale Regimes ersetzt wurden, sondern tatsächlich revolutionäre Ziele im Sinn einer Systemüberwindung verfolgen, dann ist die Begeisterung westlicher Politiker und Journalisten schnell verflogen. Ein Elitenwechsel, der den eigenen Interessen nützt, indem er die Brisanz sozialökonomischer Schieflagen entschärft, ohne sie gradezurücken, ist immer willkommen, die soziale Revolte hingegen wird als Bedrohung verstanden.

Die im Westen geübte Kritik am repressiven Charakter des "Mullah-Regimes" legt keine Rechenschaft darüber ab, wieso die Regierungen in den USA und der EU der iranischen Führung im sogenannten Atomstreit zu wachsender Legitimität gegenüber der eigenen Bevölkerung verhelfen. Da sie die iranische Opposition damit in die Nähe einer fünften Kolonne derjeingen Kräfte rückt, die den Iran aus hegemonialen Gründen unter Druck setzen, läuft jede Oppositionsbewegung, die sich nicht eindeutig gegen diesen Affront wendet, Gefahr, als Agent der äußeren Feinde identifiziert zu werden. Dort wie hier soll die Begeisterung für eine Welt, in der mediale Überversorgung und materielle Unterversorgung Hand in Hand gehen, alles vergessen machen, was die Verhältnisse tatsächlich verändern könnte.

Fußnote:

[1] http://www.guardian.co.uk/world/2010/jun/09/iran-twitter-revolution-protests

12. Juni 2010