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HERRSCHAFT/1567: WikiLeaks ... mit exekutiver Ermächtigung gegen demokratisches Aufbegehren (SB)



Die Bereitschaft großer Internet-Unternehmen wie Amazon und Ebay, auf Zuruf staatlicher Stellen Dienstleistungen einzustellen, die der Whistleblower-Plattform WikiLeaks bei ihnen in Anspruch genommen hat, läßt von dem liberalen Mythos einer grundsätzlichen Interessendivergenz zwischen Staat und Kapital nicht viel übrig. Man zieht an einem Strang, wenn der Anschein erweckt wird, die Aktivitäten regierungskritischer Aktivisten könnten das Funktionieren der gesamtgesellschaftlichen Verwertungsbasis stören. Das ist im Falle der durch WikiLeaks zugänglich gemachten US-Diplomatenpost nur bedingt der Fall, da die damit an die Öffentlichkeit gelangten Manipulationen der US-Regierung im Verkehr mit anderen Staaten zumindest tendenziell bekannt waren. Sehr viel nackter, als die USA nach den Kriegen in Vietnam und im Irak, um nur zwei besonders eklatante Beispiele für imperialistische Menschenfeindlichkeit zu nennen, dastanden, können sie durch die Verifikation vieler Ränkespiele, die sich bereits in den Ergebnissen ihrer Außenpolitik abzeichneten oder gerüchtweise an die Oberfläche drangen, nicht mehr werden.

Es geht längst um mehr als die Enthüllung weiterer für diese und frühere US-Regierungen zwar peinliche, bisweilen aber auch nützliche Depeschen ihres diplomatischen Netzwerks. Ohnehin ist die Debatte um die Notwendigkeit sogenannter Vertraulichkeit im diplomatischen Verkehr ohne den geostragischen und ökonomischen Kontext der dabei verhandelten Entscheidungen irreführend. Wendete man den Anspruch auf demokratische Transparenz auf die Außenpolitik der Staaten an und bewertete ihre Aktionen anhand internationaler Rechtsnormen, dann resultierte dies idealerweise in sehr viel positiveren Ergebnissen für alle daran beteiligten Bevölkerungen, um deren Wohlbefinden es dem Anspruch nach geht. Die Geheimdiplomatie war und ist gerade dazu gedacht, Verträge und Rechte Dritter zum Vorteil der daran beteiligten Akteure zu verletzen, wie sich anhand zahlreicher historischer Beispiele belegen läßt. Die Interessen militärisch und ökonomisch starker Staaten in einer wahrhaft asymmetrischen Weltordnung durchzusetzen kann nur innerhalb eines nach außen abgeschotteten Vermittlungsraums gelingen, in dem Faktoren gegeneinandergerechnet werden, die mit dem offiziellen Verhandlungsziel nur das eine zu tun haben, daß sie sich als Druckmittel zu Lasten der schwächeren Partei einsetzen lassen. Derartiges Geben und Nehmen kann so inakzeptable Praktiken umfassen wie das Erlangen ökonomischer Vergünstigungen für die Inkaufnahme stillschweigend geduldeter Menschenrechtsverletzungen. Es kann aber auch die Ablösung mißliebiger Diplomaten oder Funktionäre durch Druckmittel aller Art betreffen, die nicht zuletzt durch Spionage, wie sie von US-Außenministerin Hillary Clinton angeordnet wurde, erwirtschaftet werden.

Dieser Marktplatz der Staatenkonkurrenz, dessen Akteure sich beim gemeinsamen Fototermin desto freundlicher die Hände schütteln, je unumkehrbarer die Hackordnung zuvor festgelegt wurde, soll keinesfalls durch eine Transparenz geschlossen werden, die den machiavellistischen Charakter angewandter Machtpolitik offenlegte. Öffentliche Diplomatie, unter der nicht jene PR-Fassade zu verstehen ist, die die US-Regierung mit dem Begriff "Public Diplomacy" meint, wäre aber auch in anderer Hinsicht wünschenswert, wie der ehemalige britische Botschafter in Usbekistan, Craig Murray, in der Tageszeitung The Guardian erklärt [1]. Er verweist auf Informationsdefizite in der isolierten Welt der Botschaften, der äußere Beratung durch nicht dem diplomatischen Korps zugehörige Experten und Organisationen nur gut tun könne. Craig Murray, der seinen Botschafterposten verlor, weil er die Folterpraktiken der usbekischen Regierung nicht tolerieren wollte, verweist auf den sozial exklusiven und damit ignoranten Habitus der diplomatischen Klasse. Dieser äußert sich unter anderem in dem karriereopportunen Verhalten, Vorgesetzten nach dem Mund zu reden und ihnen ein Bild vom Zustand des jeweiligen Landes zu vermitteln, das eher ihren politischen Erwartungen als der Realität vor Ort entspricht.

Wenn die US-Administration unisono mit ihren europäischen Verbündeten Geheimhaltung im Verkehr mit anderen Regierungen zur unabdinglichen Voraussetzung des Schutzes "unserer Sicherheit" darstellt, dann holt sie damit in erster Linie die Zustimmung der Funktionseliten ein. Deren Interesse deckt sich eher nicht mit dem des Fußvolks, dem die hohe Politik ein Buch mit sieben Siegeln bleiben soll, um nicht den klassenantagonistischen Charakter dessen zu erkennen, was auf dem diplomatischen Parkett ausgemacht wird. Im Rahmen des Hegemonialstrebens Washingtons ist der Begriff "Sicherheit" stets als Absicherung von Klasseninteressen zu verstehen, wie etwa die soziale Zusammensetzung der kämpfenden Einheiten belegt, die den Vormachtanspruch der USA in aller Welt zum Preis eigener Lebensgefährdung sichern sollen. Übersetzt auf die Anforderung bürgerlicher Unterwerfung unter das Primat staatlicher Handlungssouveränität wird dies von journalistischen und sozialwissenschaftlichen Meinungsbildnern mit der Behauptung, die Regierungen schützten die Demokratie gerade dadurch, daß die Bevölkerung nicht alles weiß. Was dennoch, wie im Falle WikiLeaks, zu ihnen durchdringen darf, muß zuvor durch die Konsensmaschinerie gejagt werden, sei doch der einzelne Mensch angesichts der Menge unreguliert auf ihn einstürmender Information schlichtweg überfordert.

So mußte US-Senator Joe Lieberman, Vorsitzender des Ausschusses für den Heimatschutz, den Internet-Dienstleister Amazon nur einmal nahelegen, WikiLeaks aus seinen Servern zu verbannen. Nach Vollzug der Maßnahme, die keiner expliziten Rechtsgrundlage bedurfte, schon ein Senator nicht der Exekutive angehört, kündigte er Amazon und anderen IT-Providern an, mit der Frage auf sie zuzukommen, "was sie in Zukunft zu tun gedenken um sicherzustellen, daß ihre Dienstleistungen nicht dafür verwendet werden, gestohlene, unter Geheimhaltung stehende Informationen zu verbreiten" [2]. Das in Anspruch genommene Eigentumsrecht dokumentiert den autoritären Charakter im Umgang mit Informationen, auf die jeder US-Bürger sein Recht auf demokratische Teilhabe geltend machen könnte.

Liebermans Sprecherin Leslie Phillips sekundierte mit der Erklärung, der Senator hoffe, daß "die Situation bei Amazon eine klare Botschaft an andere Unternehmen sendet, die ihre Verantwortung betrifft, WikiLeaks unter keinen Umständen zu Diensten zu sein". Dabei sei das Ausmaß der gewährten Dienstleistungen nicht von Belang, es ginge viel mehr darum, das Unbehagen der Regierung und ihre Erwartung deutlich zu machen, daß die Service-Provider WikiLeaks künftig als Kunden ablehnten [3].

Die willkürliche Verbannung von WikiLeaks aus dem Amazon-Serversystem Elastic Compute Cloud bestätigt, daß die von der IT-Wirtschaft empfohlene Auslagerung individueller Datenbestände vom PC in die Cloud keineswegs dieselbe Sicherheit bietet wie die Inanspruchnahme eigener Speichermedien. Man könnte diesen informationstechnischen Strukturwandel auch als schleichende Enteignung aller Netznutzer verstehen, die unter informationelle Selbstbestimmung nicht nur die Einführung von Privacy-Regeln in auf Datenexposition ausgerichteten sozialen Netzwerken verstehen. Die am Beispiel WikiLeaks demonstrierte Inpflichtnahme kommerzieller Unternehmen für Zwecke des Staatsschutzes läßt ahnen, wie schnell informationstechnische Systeme in Instrumente einer Repression verwandelt werden könnten, die in der Effizienz ihres Zugriffs auf den einzelnen Menschen beispiellos wäre.

Die Aufkündigung der Dienste des Bezahlservices Paypal wie anderer Finanzdienstleister, die WikiLeaks in Anspruch nahm, ist ebenso von besonderer Bedeutung für oppositionelle und dissidente Bewegungen. Mit ihrer Zahlungsfähigkeit wird auch ihre Handlungsfähigkeit unterbunden, und das desto wirksamer, als elektronische Zahlungsmittel an die Stelle anonym verwendbaren Geldes treten. Die Abschaltung der WikiLeaksadresse durch den DNS-Provider EveryDNS.net wiederum erinnert daran, daß das vermeintlich dezentrale und daher angeblich unkontrollierbare Internet durchaus über Knotenpunkte wie die Root Server verfügt, mit Hilfe derer sich ganze Länderdomains vom Netz nehmen lassen. Den Zugriff auf diese Infrastruktur auf internationaler Ebene zu legalisieren ist ein Ansatzpunkt, über den die Angleichung des virtuellen Raums an klassische Formen der Repression verfolgt wird.

Die Sperrung von WikiLeaks in öffentlichen Behörden und Einrichtungen wie der Library of Congress, die Androhung von Konsequenzen bei Nutzung von WikiLeaks durch Beamte und Angestellte der US-Regierung und die Verhaftung des WikiLeaks-Gründers Julian Assange nach einer internationalen Menschenjagd, die aufgrund des Vorwurfs eines Sexualdelikts unterhalb der Schwelle einer Vergewaltigung zustandekam, dokumentiert ohnehin, daß das konventionelle Arsenal exekutiver Maßnahmen längst nicht ausgedient hat. Hier ist an den im neuen Strategischen Konzept der NATO formulierten Anspruch zu erinnern, künftig auch für die Belange der Cybersecurity zuständig zu sein [4].

Die jüngsten WikiLeaks-Enthüllungen scheinen völlig unabhängig davon, in welchem Ausmaße sie herrschenden Interessen zuarbeiten oder diese konterkarieren, als Initialzündung für eine Offensive staatsschützerischer Maßnahmen genutzt zu werden, die von weitreichender Konsequenz für die Verfügbarkeit datenelektronischer Kommunikation sein könnten. Die Zeit dafür ist allemal reif, davon künden die diversen Kampagnen zur Dämonisierung des Internets als Universität des Terrors, als Hort sexueller Ausbeutung von Kindern, als rechtsfreier Raum zur massenhaften Verletzung von Urheberrechten, als Plattform zur Propagierung rassistischer, antisemitischer und extremistischer Propaganda, als Instrument wirtschaftsfeindlicher Sabotage und persönlichkeitsverletzender Diffamierung.

Das diesem Schwall an Mißbrauchsmöglichkeiten gegenüberstehende emanzipatorische Potential des Datennetzes wird seitens der US-Regierung und ihrer Verbündeten gerne glorifiziert, wenn es ihren strategischen Interessen dient. So schwärmte US-Außenministerin Hillary Clinton, die WikiLeaks aufs Schärfste verurteilt, im Januar in Richtung der Volksrepublik China: "Informationen war noch niemals so frei. Selbst in autoritären Ländern helfen die Informationsnetzwerke den Menschen, neue Tatsachen zu entdecken und Regierungen rechenschaftspflichtiger zu machen." [2] Ihr Chef Barack Obama ist nicht weniger begeistert von den freiheitlichen Möglichkeiten des Internets, und das nicht nur, weil sie bisher ungekannte Möglichkeiten der Einflußnahme auf die Bevölkerungen anderer Länder bieten, sondern weil er selbst auch auf den Flügeln des Internet-Aktivismus ins Weiße Haus gelangt ist.

Nun, da in aller Welt "neue Tatsachen" über die US-Regierung entdeckt werden, werden die dafür zuständigen Aktivisten von führenden Politikern in Washington als Terrorist diffamiert und zum Abschuß freigegeben. Allenthalben wird über die unterstellte Illegalität der Plattform WikiLeaks diskutiert, und nicht wenige Politiker und Kommentatoren auch in Europa gelangen zu dem Schluß, daß die Kriminalisierung solcher Aktivitäten dringend geboten ist. Wie illegal Angriffskriege der USA gegen Jugoslawien, Afghanistan und den Irak oder die Verschleppung und Folterung unbescholtener Menschen, wie illegitim die Alimentierung des Finanzkapitals und wie irreführend die Ankündigung seiner Regulation auch immer sein mag, tut dabei nichts zur Sache. Die Handlungs- und Geschäftsfähigkeit imperialistisch agierender Staaten ist so sakrosankt wie die dagegen gerichteten Aktivitäten ihrer Bürger verwerflich. Gerade weil diese inmitten der globalen Krise demokratischer Legitimation zu drastischen Mitteln der Aufklärung greifen, werden herrschende Interessen apodiktisch gegen das demokratische Interesse der Bevölkerungen, das sich in Initiativen wie WikiLeaks artikuliert, in Stellung gebracht.

Hinter dem einseitig zugunsten der exekutiven Ermächtigung der US-Administration in Anspruch genommenen Legalitätsprimat formiert sich eine Phalanx an administrativen Dekreten und legalistischen Manövern, mit denen dem Traum von einer unregulierten Sphäre globaler Kommunikation der Garaus gemacht werden soll. Ob die US-Depeschen sukzessive und massenmedial moderiert oder schockartig in Gänze auf die Menschheit losgelassen werden, WikiLeaks ist längst zu einem Symbol friedlichen demokratischen Aufbegehrens geworden, dessen Potential zu unkalkulierbar und unbeherrschbar ist, als daß ihm nicht Einhalt geboten werden müßte.

Fußnoten:

[1] http://www.guardian.co.uk/commentisfree/cifamerica/2010/nov/29/us-embassy-cables-middle-east

[2] http://www.guardian.co.uk/commentisfree/cifamerica/2010/dec/06/western-democracies-must-live-with-leaks

[3] http://searchcloudcomputing.techtarget.com/news/article/0,289142,sid201_gci1524505,00.html

[4] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/volk1469.html