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HERRSCHAFT/1576: Legitimationskrise ... unverhoffte Gutheißung des tunesischen Widerstands (SB)



Frankreichs Außenministerin Michèle Alliot-Marie war schlecht beraten, als sie noch am 11. Januar 2011 dem tunesischen Diktator Ben Ali mit dem Angebot "sicherheitspolitischer Kooperation" zur Hilfe eilte und dabei die "Fachkenntnisse" französischer Sicherheitsbehörden hinsichtlich der zur Niederschlagung der Erhebung erforderlichen "Techniken zur Aufrechterhaltung der Ordnung" pries. Bei diesem Angebot handelte es sich natürlich nicht um ein Mißverständnis, wie die langjährige Verteidigungsministerin der Regierung Sarkozy nach dem schmählichen Abgang des tunesischen Präsidenten glauben machen wollte. Sie hatte das normale außen- und sicherheitspolitische Prozedere der EU und Frankreichs in Fällen, in denen der eigene Einfluß auf die nordafrikanische Peripherie akut gefährdet ist, im Sinn und dementsprechend gehandelt. Zudem steht es einer Garantin der Kapitaleliten Frankreichs gut zu Gesicht, die gewaltsame Unterdrückung sozialer Widersprüche nicht allein in Frankreich, sondern auch in der Einflußsphäre der ehemaligen Kolonialmacht gutzuheißen.

Aus dem allgemeinen Erstaunen darüber, daß eine der modernsten Gesellschaften des Maghreb als erstes arabisches Land aufstand, um sein mit polizeistaatlicher Brutalität herrschendes Regime davonzujagen, läßt sich auch ein gegenteiliger Schluß ziehen. Gerade weil die tunesische Bevölkerung nicht in gleichem Ausmaß verelendet ist wie die Ägyptens und Algeriens, weil sie mehr Bildungs- und Informationsmöglichkeiten als die dort lebenden Menschen hat, ist sie eher bereit, das Heft in die eigene Hand zu nehmen. Um so mehr Anlaß haben die Regierungen der EU, das Aufkommen sozialen Widerstands nicht nur für arabische Despotien, sondern auch die eigenen Gesellschaften zu fürchten.

Nun wird mit großer Geschwindigkeit der Entwicklung in Tunesien durch einen Schwenk um 180 Grad im Verhältnis zum gestürzten Präsidenten Ben Ali Rechnung getragen. Lieber gestern als heute wird der ehemalige Gesprächspartner zur Persona non grata erklärt, werden die Sperrung seiner Konten und ein Einreiseverbot für ihn wie seinen Clan in die EU ins Auge gefaßt. Politiker, die sein repressives Regime jahrelang gestützt haben, erklären ihre Solidarität mit der tunesischen Bevölkerung und verdammen Ben Ali als den Diktator, der er war. Auf das Eingeständnis, mit seiner Anerkennung als Staatschef eines der EU auf vielerlei Weise dienlichen Landes für die Aufrechterhaltung seines Gewaltregimes gesorgt zu haben, wartet man ebenso vergeblich wie auf Aufklärung über die Gründe, weshalb dies geschah.

Dabei steht der freundschaftliche Umgang mit denjenigen Despoten des Nahen und Mittleren Ostens, die sich durch ihre prowestliche Haltung als Bündnispartner empfehlen, zu den in Anspruch genommenen Werten der EU in krassem Widerspruch. Dies wird von führenden EU-Funktionären wie dem Diplomaten und Berater des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) Robert Cooper unter Verweis darauf, daß man durchaus mit doppelten Standards agieren könne, wenn es erforderlich sei, durchaus eingestanden. Auch deutsche Politiker wie die ehemalige Staatssekretärin im Auswärtigen Amt, Kerstin Müller, und ihr damaliger Chef und Parteigenosse Joseph Fischer waren dieser realpolitischen Praxis nicht abgeneigt. Obwohl 2005 beim Weltgipfel zur Informationsgesellschaft in Tunis lautstarke internationale Proteste gegen die grausamen und repressiven Maßnahmen der Regierung Ben Ali aufbrandeten, hielt die rot-grüne Bundesregierung die enge Zusammenarbeit mit seinem Regime aufrecht. Müller gesteht heute zwar ein, daß man damals Fehler gemacht habe, dennoch wirkt ihre im Deutschlandfunk zum Ausdruck gebrachte Begeisterung für die Rebellion der Tunesier ähnlich wie die euphorische Unterstützung, mit der sie die sogenannte orangene Revolution in der Ukraine trotz ihres orchestriert prowestlichen Charakters in den Himmel demokratischer Emanzipation hob, wie eine Pose, mit der für den fortschrittlichen Charakter der eigenen Partei geworben werden soll.

Hintergrund dieser opportunistischen Kurskorrektur der EU-europäischen Außenpolitik ist nicht nur die geostrategische Bedeutung der Region, die der Kooptation und Kontrolle der EU nicht entgleiten soll. Vergessen gemacht wird, daß die anwachsende Repression in den eigenen Gesellschaften und die trotz des vermeintlichen Endsiegs liberaler kapitalistischer Demokratien unverbraucht wirkende Schärfe des Antikommunismus keinem anderen Zweck dienen als der Durchsetzung des Kapitalregimes zu Lasten der Lohnabhängigen und Versorgungsbedürftigen. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern der Regierungsgebäude, in denen die Pläne zur Refinanzierung der durch die Alimentierung der Banken in Not geratenen Staaten geschmiedet werden, daß die Auszehrung des öffentlichen Sektors, die Kürzungen an allem, was den Menschen an öffentlichen Leistungen direkt zugute kommt, zugunsten der Aufrechterhaltung kapitalistischer Verwertungslogik noch lange nicht beendet ist. Konnte man die Krise des Finanzmarkts noch auf die Gier der Spekulanten und die angebliche Maßlosigkeit verschuldeter Konsumenten schieben, anstatt sie als Ausdruck des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit in Richtung einer grundlegenden gesellschaftlichen Veränderung zu treiben, so führt die Staatsschuldenkrise zu einer Diskreditierung des politischen Systems, die die Widersprüche seiner ideologischen Repräsentanz auf die Spitze ihrer Haltlosigkeit treibt.

Um so angestrengter ist man bemüht, mit einem schnellen Kurswechsel - gestern Präsident, heute Diktator - die Rochade zwischen Gut und Böse in Tunesien zu verorten. Wären die EU-Regierungen genötigt, gegenüber den eigenen Bevölkerungen Farbe zu bekennen, sprich den fortgesetzten Vollzug von Kapital- und Herrschaftsinteressen in die schlichte Perspektive zu setzen, daß denen, die unten sind, nichts anderes zugedacht ist, als daß sie unten bleiben, um die Rechnungen zu begleichen, die der Unwerte wie Kriege, Armut, Hunger, Umweltzerstörung am Band produzierende Kapitalismus akkumuliert, dann könnten ihnen unliebsame Überraschungen ins Haus stehen. Da übt man sich in lieber symbolpolitischen Pirouetten, die, mögen sie noch so ungelenk und peinlich wirken, allesamt akzeptabler erscheinen als das Eingeständnis, daß die Entwicklung in Tunesien in ihrer embryonal noch unregulierten Form eine Bedrohung nicht nur für arabische Despoten, sondern die herrschende Ordnung überhaupt ist.

20. Januar 2011