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HERRSCHAFT/1603: Sozialdemokratische Verfügungsinnovation - Krisenmanagement mit Sarrazin (SB)



Alle strategische Planung war vergebens. Das Parteiausschlußverfahren gegen Thilo Sarrazin auf den Gründonnerstag zu legen in der Hoffnung, das Ereignis werde im Feiertagstrubel untergehen, war in Anbetracht der nach wie vor nicht beendeten Auseinandersetzung um seine Behauptungen von vornherein naiv. Auch wenn man nicht weiß, ob sich die SPD-Führung schon vor Festlegung dieses Termins über den Verbleib Sarrazins in der Partei klar war, so spricht die Abhaltung des Verfahrens zu einer Zeit allgemeinen Desinteresses am medialen Politzirkus dafür, wie quer dieser Knochen der Sozialdemokratie im Magen liegt. Die sogenannte Sarrazin-Debatte wurde niemals beendet, noch handelte es sich um einen bloßen Disput. Im Anschlag ist ein Qualifikationssprung der Atomisierung der Gesellschaft zugunsten des direkteren Zugriffs auf ihre verbliebenen Verwertungspotentiale. "Wir gegen die anderen" ist das Leitmotiv einer Vereinnahmung, die die von Überlebenskonkurrenz freie Subjektivität solidarischer Menschen rückstandslos zerschlagen soll, um die Trümmer jener Fremdheit auszuliefern, die als Produkt herrschaftlicher Interessen in der Projektion auf den angeblichen Freßfeind vergessen gemacht werden soll.

Wenn SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles heute im Deutschlandfunk erklärt, daß Sarrazin "seine sozial-darwinistischen Äußerungen relativiert, Missverständnisse klargestellt und sich auch von diskriminierenden Äußerungen distanziert" habe, dann kann sie damit vielleicht sich selbst beruhigen. Diejenigen SPD-Mitglieder, die Sarrazins kurze Erklärung für ein opportunistisches Manöver der Schadensbegrenzung halten, fürchten zu Recht um die verbliebene sozialdemokratische Identität ihrer Partei. Nahles hat nicht von ungefähr den Begriff "relativieren" gewählt. Von Widerruf kann keine Rede sein, und Mißverständnisse ob der Position Sarrazins hat es niemals gegeben.

Anfang Januar 2010 wurde das Ergebnis einer Untersuchung veröffentlicht, in der der Politologe Gideon Botsch vom Moses-Mendelssohn-Zentrum der Universität Potsdam Sarrazins Interview in Lettre International (Heft 86, Oktober 2009) auf seinen rassistischen Gehalt hin überprüfte. Die Studie war von den Berliner SPD-Verbänden Alt-Pankow und Spandau in Auftrag gegeben worden, um, wie der Spandauer SPD-Kreisvorsitzende Raed Saleh im Tagesspiegel (10.01.2010) erläuterte, durch eine wissenschaftlich fundierte Außensicht dem Anliegen seines Kreisverbands mehr Gewicht zu geben, Sarrazin aus der SPD auszuschließen.

Wie kaum anders zu erwarten gelangte Botsch zu dem Urteil, daß Sarrazins Aussagen "in zentralen Passagen eindeutig als rassistisch zu betrachten" seien. Dabei stellte der Wissenschaftler mit seinem Urteil nichts fest, was man nicht schon vorher wußte, wenn man Rassismus für eine vernichtende Selbstbehauptungsstragie hält. Auch der von Botsch verwendete Begriff des "sozialen Rassismus", dem Sarrazin mit der "Verbindung von Abstammung und einer bestimmten Schichtzugehörigkeit im Sinne von Vererbung" (Süddeutsche Zeitung, 08.01.2010) fröne, teilte nichts mit, was dem Interview nicht eindeutig zu entnehmen war.

Dem trotz dieser Intervention gescheiterten ersten Parteiausschlußverfahren folgte ein halbes Jahr später die Veröffentlichung des Buches "Deutschland schafft sich ab", mit dem Sarrazins sozialrassistische Offensive vollends Fahrt aufnahm und über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus wahrgenommen wurde. Auf zahlreichen, meist ausverkauften Vorträgen wurde der auf muslimische Mitbürger zugespitzte Affront gegen alle angeblich unproduktiven Menschen bejubelt. Der massive Zuspruch, den Sarrazin auch in den Reihen der SPD erhielt, legte den feindseligen Kern einer kaum verhohlen nationalistischen Demagogie offen, die zu grundlegender Gesellschaftskritik hätte Anlaß geben müssen.

Diese fand jedoch lediglich in jenen Teilen der Linken statt, deren Sicht auf den fortgeschrittenen Stand des Sozialkonflikts noch nicht durch das islamfeindliche Ressentiment so getrübt war, daß sie Sarrazins Offensive als bloßen kulturalistischen Reflex verharmloste. Die diesem zugrundeliegende Vergewisserung der Zugehörigkeit zum privilegierten Kollektiv der Herkunftsdeutschen wurzelt in der Ausgrenzung all derjenigen, die sich aufgrund ihrer kulturellen Autonomie als nicht verwertungstauglich disqualifiziert haben sollen. Völlig ungeachtet der Frage, ob dies tatsächlich zutrifft, und jenseits aller sozialökonomischen Nachteile, die MigrantInnen auszuhalten haben, wird das Fremde als Antwort auf alle Mißstände generalisiert, die dem Primat kapitalistischer Verwertung geschuldet sind.

Nur mit dem Attribut nationaler Zugehörigkeit lassen sich auch all diejenigen von der Gültigkeit dieser Antwort auf den zentralen Konflikt der Gesellschaft überzeugen, die schon jetzt Opfer der Verwertungskrise des Kapitals sind. Ihre zum Teil sogar dankbar hingenommene Maßregelung durch das Hartz IV-Regime belegt den Erfolg einer Bezichtigungsstrategie, die den Klassenwiderspruch mit Begriffen wie dem der "Eigenverantwortung" und der "Leistungsgerechtigkeit" entsorgt hat. Als Sachwalterin des "aktivierenden Sozialstaats" steht die SPD an vorderster Front dieses Affronts gegenüber all jenen, denen die markwirtschaftliche Konstitution der Bundesrepublik desto mehr zum Verhängnis wird, als ihnen die Lebensgrundlage durch das neoliberale Krisenmanagement entzogen wird.

Der politische Erfolg der Sozialdemokratie in der BRD beruht auf der Transformation von einer klassenkämpferischen Arbeiterpartei, als die die SPD noch nach dem Zweiten Weltkrieg galt, zum Instrument der Befriedung des Klassenantagonismus. Dies erreichte sie, indem sie Verfügungsinnovationen antizipierte, um sich abzeichnende Brüche mit herrschaftskonformen Regulativen aufzufangen. Was mit Willy Brandt und Helmut Schmidt in Zeiten des revolutionären Aufbruchs gelang, hat Gerhard Schröder mit der Adaption neoliberaler Ideologie zur Durchsetzung der vertieften Globalisierung des Kapitals fortgesetzt. Die seit drei Jahren vollends manifest gewordene Krise des kapitalistischen Weltsystems verlangt nach immer stärkeren Dosierungen eines Beschwichtigungsgiftes, das die Menschen daran hindert, sich über ihre widrige Situation klar zu werden und sich auf die ihren Interessen adäquate Seite des Widerspruchs zu stellen.

Sarrazin stellt dieses Gift in so hoher Potenz zur Verfügung, daß sein Ausschluß aus der SPD dem Verlust eines Aktivpostens gleichkäme, der den Niedergang der Sozialdemokratie um ein weiteres beschleunigte. Nachdem sich Parteien dieses Typs nicht nur in Deutschland, sondern europaweit zu Steigbügelhaltern einer neofeudalen Restauration gemacht haben, befürchten ihre Vordenker zu Recht, entbehrlich zu werden, wenn sie diesen Kurs aufgeben. Zwar hat man noch Probleme damit, sich offen zum rassistischen Charakter der biologistischen und kulturalistischen Thesen Sarrazins zu stellen. Gleichzeitig möchte man auf die soziale Repression, die diesem Affront zugrundeliegt, nicht verzichten. Da hinlänglich deutlich geworden ist, daß von der reintegrativen Wirkung des "Förderns und Forderns" lediglich sinnentleerte disziplinatorische Gängelung bleibt und somit der unzureichende Charakter einer Arbeitsgesellschaft, der es an für die Kapitalakkumulation rentabler Lohnarbeit schlichtweg mangelt, in den Mittelpunkt der Kritik rückt, wächst die Bereitschaft in der SPD, an einer Feindbildproduktion und Antwortkonstruktion zu partizipieren, für die das Parteimitglied Sarrazin auf exemplarische Weise steht.

Man ist sich bewußt, daß die Zurichtung der Bevölkerung auf ihre unter dem Zeichen des Austeritätsregimes verschärfte Verwertungstauglichkeit erhebliche Spannungen erzeugt, die es zu kanalisieren gilt. Zudem handelt es sich beim kulturalistischen Ressentiment um eine alle westlichen Metropolengesellschaften in der Durchsetzung ihrer imperialistischen Politik legitimierende Letztbegründung, also um ein Element der nächsthöheren Ebene staatlicher Verfügungsgewalt, die nicht zu adaptieren den eigenen Partizipationsanspruch schwächt.

Es ist daher nicht übertrieben, das Verhältnis von Sarrazin und seiner Partei in das Bild vom Jäger und Gejagten zu fassen. Dabei geht es nicht um Sarrazin als Person, die möglicherweise gar nicht so strategisch denkt, als daß sie die SPD absichtlich vor sich hertriebe. Daß deren Chef Sigmar Gabriel seine Ablehnung der Positionen Sarrazins innerhalb weniger Monate revidiert hat und sich nun für seinen Verbleib in der SPD ausspricht, ist ebenso Ausdruck der Kapitulation gegenüber der sozialrassistischen Umwertung aller Werte, die der ehemalige Bundesbanker betreibt, wie die angebliche Glaubwürdigkeit eines Widerrufs, der die Intelligenz seiner Adressaten nicht wirkungsvoller verhöhnen könnte. Was dieser wachsweiche Opportunismus führender Politiker in grundlegenden Fragen gesellschaftlicher Werte und Moral für die künftige Entwicklung der Bundesrepublik bedeutet, werden nicht nur die davon direkt Betroffenen am eigenen Leib erfahren. Es reicht nicht mehr, "wehret den Anfängen" zu rufen, denn diese sind bereits gemacht.

siehe dazu auch:
BERICHT/052: Dreikönigstreffen mit Sarrazin ... vom Diskurs zum Tribunal (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prber052.html

26. April 2011