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HERRSCHAFT/1644: Joachim Gauck - Idol der kalten, antikommunistischen Herzen (SB)




Nun wird alles gut. Die schnelle Einigung auf einen "Präsidenten der Herzen", der ein als "liberalkonservativ" firmierendes, in der politischen Praxis jedoch neokonservativ zu dechiffrierendes Bekenntnis verkörpert, eint das Volk, um Deutschland im merkantilen Wettbewerb bestehen und auf dem Schlachtfeld der Staatenkonkurrenz neue Siege erringen zu lassen. In hoher Rotation wurden die möglichen Nachfolger Christian Wulffs vorgestellt und verworfen, um nur zwei Tage nach dessen Rücktritt denjenigen Kandidaten zu präsentieren, der die ganze Zeit wie ein Elefant im Raume stand. Auf eine Gelegenheit wie diese haben die Anhänger Joachim Gaucks, wenn sie nicht ohnehin aktiv an der hochnotpeinlichen Demontage des Amtsinhabers beteiligt waren, nur gewartet. Das ganze Land drohte Schaden zu nehmen, so daß das anschwellende Lamento über das beschädigte Amt des Bundespräsidenten einen Kandidaten von tadellosem Renommee und unbefleckter Glaubwürdigkeit hervorbringen mußte.

Wie Claudia Roth jubilierte, könne Gauck der Demokratie Glanz verleihen und sie wieder modern machen, habe er doch die Herzen der Menschen bereits vor 20 Monaten gewonnen. Was auf der rot-grünen Agenda 2010 als Modernisierung der Arbeitsgesellschaft stand, hat sich längst zum Exportmodell für die ganze EU entwickelt. Den Preis der Arbeit senken, um auch letzte Reserven in die Knochenmühle einzuspeisen, ist ein Programm, das der Sarrazin-Bewunderer Joachim Gauck ebenso aus ganzem Herzen unterschreiben kann wie die Notwendigkeit, deutsche Truppen dorthin zu schicken, wo sie das tödliche Handwerk, das sie gelernt haben, auch ausüben können. "Freiheit und Verantwortung" - diese fast zum zweiten Namen des künftigen Präsidenten gewordene, nicht nur bei der FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hoch im Kurs stehende Leitdoktrin läßt sich auf der Rollbahn höherer Verwertungseffizienz unschwer als die Schrödersche Devise vom "Fördern und Fordern" erkennen.

Wo dieser noch den Sozialstaat aktivieren wollte, ist man in der Krise des Kapitals weiter vorangekommen - künftig soll es in Europa wieder darum gehen, überhaupt, das heißt unter jeder nur denkbaren und undenkbaren Bedingung, überleben zu dürfen. Was den Bundesbürgern als griechisches Elendspanorama täglich druckfrisch im Tenor eines Mitleids, an das seine Urheber selbst nicht glauben, weil ihnen der Platz an den Fleischtrögen über alles geht, präsentiert wird, soll dort bleiben, wo man es angeblich selbst verschuldet hat. Davor, daß griechische Indolenz auch an Rhein und Elbe einkehrt, da seien Schuldenbremsen, Sparkommissare und Sperrkonten vor. Das sich dahinter verschanzende Kartell aus Staat und Kapital weiß längst, daß auch deutsche Gestade von einer nicht mehr zu steigernden Wertproduktion und dem Verlust an Kreditwürdigkeit heimgesucht werden. In einer EU, in der die vor 20 Jahren vom heutigen Finanzminister Wolfgang Schäuble propagierte Kerneuropaidee endlich Gestalt annimmt und die Bundesregierung den Zuchtmeister wider den Schlendrian eines für die Subjekte der Arbeitsgesellschaft ganz und gar deplazierten Freiheitsgedankens gibt, bedarf selbst der vor allem Repräsentativfunktionen erfüllende Bundespräsident der Statur des Machers und Vollstreckers.

Wer eignete sich dazu besser als ein Antikommunismus reinsten Wassers ausschwitzender, das liebe Geld mit protestantischer Ethik segnender und das Hegemonialstreben der transatlantischen Achse zur globalen Freiheitsmission erhebender Pastor aus jenem Teil Deutschlands, der als Synonym für überwundenes Unrecht Rechtstaatlichkeit gerade dann hochleben läßt, wenn sie zum Aushängeschild vermeintlich naturwüchsiger Ungleichheit verkommt. Die mit Erfolgsgarantie versehene Nominierung eines "Bürgerrechtlers", der diesen demokratischen Auftrag ausschließlich auf nämlichen "Unrechtstaat" angewendet wissen will, zum Präsidentschaftskandidaten kann als Willensbekundung der bürgerlichen Parteien zu einer Krisenbewältigung verstanden werden, die nach tatkräftigem Vollzug all jener Grausamkeiten und Einschränkungen verlangt, die eine in Turbulenzen fallende Welt wieder ins Prokrustesbett der von ihren Eigentümern verlangten Bestands- und Herrschaftsicherung pressen sollen.

Mit einem Präsidenten Joachim Gauck und einer Kanzlerin Angela Merkel verfügt die Bundesrepublik über ein Spitzenduo, das in jenem Abgrund namens DDR vor allem eins gelernt hat - der Traum von einer in sozialer Solidarität und klassenfreiem Frieden lebenden Gesellschaft ist nicht nur aus, sondern hätte nie geträumt werden dürfen. Wo Freiheit Markt und Kapital, Gerechtigkeit Preis- und Leistungsvergleich, Verantwortung die Sicherung von Privateigentum und Klassenherrschaft meinen, da wird dem Menschen der Platz zugewiesen, den Herkunft und Biologie diktieren. Seinen Beitrag zum größeren Nutzen leistet er klaglos, weil er nicht wahrhaben will, daß die ihm versprochene Freiheit in ihrer Begrenzung besteht.

Aus dem Frontstaat der Ära des Kalten Krieges ist längst ein europäischer Hegemon geworden, der den ihn ursprünglich einzubindenden europäischen Staatenbund in ein Lehen seiner produktiven und geopolitischen Ambitionen verwandelt hat. Die dem Realsozialismus entgegengehaltene Waren- und Konsumkultur wird selbst für die eigene Bevölkerung immer unbezahlbarer, so daß die europäischen Peripheriestaaten leisten müssen, was in besseren Zeiten noch im Binnenraum erwirtschaftet werden konnte. Die zentrifugalen Tendenzen der dem Zentrum unterworfenen Peripherie und die sozialen Bruchlinien der eigenen Gesellschaft unter Kontrolle zu bekommen, während die Interessen des deutschen und transnationalen Kapitals expansiv entwickelt werden, verlangt nach neuen Formen exekutiver Ermächtigung. Die Regierung bezieht ihre Legitimation aus Sachzwangpostulaten, weil die demokratische Zustimmung der ohne eigenes Zutun materiell immer schlechter gestellten Bevölkerung drastisch zu verfallen droht.

Hier nun erfüllt Gauck die Aufgabe des neuen Sinn schaffenden Legitimitätsproduzenten. Sein jeglichen emanzipatorischen Gehalts enthobener Freiheitspathos gelangt im untoten Leerlauf antikommunistischer Inquisition zur "wehrhaften Demokratie", die etwas zu verteidigen habe, was sich nicht in Standesprivilegien und Verwertungsprimat erschöpft. Die Frage, was genau das sei, bleibt ungestellt, solange der Blick vom Hoffen und Warten auf den versprochenen Anteil am kollektiven Raubzug verstellt ist. Wo die bunte Warensammlung kapitalistischer Produktivität und die Kurzweil kulturindustrieller Angebote noch nicht jeden Platz besetzt haben, von dem aus das herrschende Gewaltverhältnis zu durchschauen wäre, soll der Überschuß an Ideologie letzte Gewißheit über die Alternativlosigkeit der herrschenden Ordnung verschaffen.

Als deren Hohepriester eignet sich Gauck, als ehemaliger Sachwalter der Vergeltung historischer Schuld mit den Finessen der Gesinnungsnormierung und -überprüfung bestens vertraut, in besonderer Weise. Die fast frenetische Zustimmung aus Medien und Politik zu seiner Kür, der trotz seiner offenkundigen Widerlegung geschürte Mythos von einem Deutschland, das keine Parteien mehr, sondern nur noch ein Wahlvolk kennt, die quer durch die Lager einst linksalternativer Grüner und rechtskonservativer Christsozialer reichenden Ergebenheitsadressen, all das verrät den entschiedenen Willen zur Konsolidierung politischer Macht in einer wieder stärker korporatistisch organisierten, ihre ökonomische, ethnische und religiöse Heterogenität fast ständestaatlich organisierenden Klassengesellschaft.

Erster Ertrag der Kür eines ausgesprochenen Antikommunisten für das Amt des Bundespräsidenten ist die fast geräuschlos erfolgte Ausgrenzung der parlamentarischen Linken aus diesem Prozeß. Nicht nur als willkommene Revanche für 2010, als Die Linke als einzige Partei mit einer eigenen Nominierung Position gegen beide Kandidaten des bürgerlichen Lagers bezogen und damit einer potentiellen Stimmenmehrheit für Gauck die Grundlage entzogen hatte, sondern zu ihrer präventiven Stigmatisierung als in Zeiten des nationalen Notstands unzuverlässige, wider alle Wendevernunft an längst überwundenen Gesellschaftsidealen festhaltende und damit potentiell gefährliche Partei erfüllt der Kandidat schon jetzt seinen Zweck. Gesine Lötzschs Wort vom "Kandidat der kalten Herzen" ist die angemessene Antwort auf die antidemokratische Usurpation einer Wahl, auf der sich die Wiedergänger des Antikommunismus ein Stelldichein geben.

20. Februar 2012