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HERRSCHAFT/1646: Costa Allegra - touristische Nöte am Rande der Armutsregion Ostafrika (SB)



Es besteht eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem großen Aufwand, der betrieben wurde, um die rund 1000 Passagiere und Besatzungsmitglieder des havarierten Kreuzfahrtschiffs "Costa Allegra" im westlichen Indischen Ozean unter anderem mit Wasser, Nahrung und elektrischem Strom zu versorgen, und der ganz und gar unzulänglichen Bereitschaft der sogenannten internationalen Staatengemeinschaft, die Nahrungsnot zahlloser Flüchtlinge auf der ganzen Welt zu beenden. Auch sie sind havariert, gestrandet oder wie auch immer man ihre von wesentlichen Versorgungsmöglichkeiten abgeschnittene Lage nennen möchte.

Während die Touristen freiwillig Geld für ihr Abenteuer ausgaben, das sich von ihnen zwar in dieser Form niemand gewünscht haben dürfte, aber immerhin glimpflich auszugehen scheint, wurde und wird das Heer an Flüchtlingen rund um den Globus von Gewalten heimgesucht, die sich weit außerhalb ihrer Einflußmöglichkeiten befinden.

Auf die Passagiere und Besatzungsmitglieder wartete auf der Seychellen-Hauptinsel Mahé, zu der das Kreuzfahrtschiff geschleppt wurde, eine nahezu vollständige Versorgung mit dem, was für einen westlichen Lebensstil als normal angesehen wird. In einigen Wochen dürfte von der Havarie und den wenigen Tagen, in denen den Betroffenen nicht alles in ausreichender Menge und sofort zur Verfügung stand, nur noch eine Erinnerung bleiben, die sich im sozialen Kontext sogar aufs trefflichste als aufregendes Ereignis verwerten läßt. Anders dagegen verhält es sich mit den Flüchtlingen, die aus Afrika über die Türkei nach Griechenland, übers Mittelmeer nach Lampedusa oder von Somalia nach Jemen gelangen wollen. Rund 44 Millionen Menschen weltweit befanden sich 2010 auf der Flucht. Tausende von ihnen sterben jedes Jahr bei dem vergeblichen Versuch, ihrer mißlichen Lage zu entfliehen, viele davon stammen aus Afrika.

Mit rechtlichen, militärischen, baulichen und anderen Mitteln versteckter bis offener Repression werden Menschen davon abgehalten, die Wohlstandsregionen dieser Erde aufzusuchen. Es werden nicht nur High-Tech-Grenzanlagen wie die zwischen den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Marokko in Stellung gebracht, sondern auch bilaterale Abkommen beispielsweise zwischen europäischen und afrikanischen Staaten zur Rückführung von Flüchtlingen geschlossen. Zudem finanzieren europäische Staaten den Aufbau und Betrieb sogenannter Auffanglager für afrikanische Flüchtlinge. Diese Einrichtungen, beispielsweise in der libyschen Wüste gelegen, sind berüchtigt. Die "eingesammelten" und zwangsweise dorthin verbrachten Menschen werden schlecht versorgt und sind brutaler Gewalt und Folter seitens des Wachpersonals ausgeliefert; mitunter wurden Flüchtlinge auch verschleppt und in der Wüste ausgesetzt, wo sie verdursteten. Es ist erst eine Woche her, da hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Italien wegen der Abschiebung afrikanischer Flüchtlinge nach Libyen zur Zahlung von 330.000 Euro Entschädigung verurteilt.

Im Nordosten Kenias "feiert" das Flüchtlingslager Dadaab, das aus drei Teilen aufgebaut ist, in diesem Jahr sein zwanzigjähriges Bestehen. Zum Feiern gibt es allerdings keinen Anlaß. Dort leben Menschen bereits in der dritten Generation, die meisten von ihnen kommen aus Somalia. Dadaab ist ein Zeltlager mit der Einwohnerzahl einer deutschen Großstadt wie Duisburg. Die jüngsten Kämpfe in Somalia haben zu einem erneuten Zustrom von zehntausenden Flüchtlingen geführt und die Zahl der Bewohner auf über 460.000 erhöht.

Allein in dieser Zeltgroßstadt haust bereits die 460fache Menge an Passagieren und Crewmitgliedern der "Costa Allegra". Doch zu ihrer Rettung fliegen keine Hubschrauber mit Mineralwasser herbei, werden keine Notstromaggregate installiert. Die Dadaab-Bewohner sind auch nicht im Zuge einer Urlaubsreise in Not geraten - möglicherweise haben sie für das Wort "Urlaub" nicht mal einen Begriff. Deswegen dürften ihnen Beschreibungen wie die folgende, die einer Touristik-Website über eine der früheren Kreuzfahrtreisen mit der "Costa Allegra" entnommen ist, befremdlich anmuten:

"Mir kam die Kabine extrem klein vor (12 qm), so dass wir Mühe hatten unsere Koffer unterzubringen. In der Kabine gab es alles was man sonst auch findet (Fernsehr, Telefon, Föhn, Safe, Minibar). Die Klimaanlage funktionierte einwandfrei ;-) und sehr leise. Überhaupt hatten wir mit dem meinerseits erwarteten Lärm kein Problem. Das 'Zimmermädchen' war auch immer sehr bemüht und freundlich, nur Handtuchtiere konnte sie nicht falten - brauch ich allerdings auch nicht unbedingt."

"Nicht unbedingt", aber doch irgendwie schon, sonst würde es nicht erwähnt werden ... die Not der Flüchtlinge hat unmittelbar mit dem westlichen Lebensstil zu tun. Würde der Wohlstandsraum Europa nicht gegen den berechtigten Überlebensanspruch der Menschen in den Armutsregionen dieser Welt mit allen Mitteln der Kunst der Herrschaftsausübung durchgesetzt, gäbe es womöglich keine Kreuzfahrtschiffe, die mit gut 600 Touristen an Bord den vor kurzem von einem Wirbelsturm heimgesuchten und seit langem von schwerer Armut und politischen Unruhen gepeinigten Inselstaat Madagaskar ansteuern. Nur um anschließend zwischen der Hunger- und Unruheregion von Somalia im Westen und dem von politischen Umbrüchen und ebenfalls großer Armut geprägten Jemen im Osten das Rote Meer zu durchfahren, um wiederum weiter nördlich mit Ägypten ein Land zu passieren, in dem mit westlichem Wohlwollen ein exzessive Folter betreibender Militärrat mit einigem Erfolg den arabischen Frühling ausnutzt und neue Seilschaften in immer gleichen Herrschaftsstrukturen etabliert.

Eine ähnlich aufwendige Logistik aufzubauen, um all die Flüchtlinge und Hungerleider in der Welt auf dem Niveau zu versorgen, wie es die havarierten "Kreuzfahrer" trotz aller Unbequemlichkeiten genossen, ist nicht möglich. Aber man könnte sehr wohl etwas daran ändern, damit erstens die Not gar nicht erst entsteht, indem sich beispielsweise die NATO-Staaten und ihre Verbündeten von jeglichem expansivem Interesse, das in Libyen in der Maske des humanitären Interventionismus auftrat, verabschiedeten, da solche Machenschaften das Elend nur verstärken; damit zweitens Flüchtlinge nicht als Illegale gebrandmarkt werden, nur weil sie das tun, was jeder andere Mensch in ihrer Lage ebenfalls tun würde - um das eigene Überleben und das der Angehörigen ringen und notfalls zu einer risikoreichen Reise ins Unbekannte aufbrechen, da dort eine höhere Chance auf eine Einkommensmöglichkeit besteht; damit drittens kein Militärapparat unterhalten wird, der im Rahmen der Staatenkonkurrenz die Funktion zugesprochen wird, Rohstoffnachschub und Handelswege zu sichern; damit viertens sogenannte Entwicklungshilfe nicht mißbraucht wird, um Absatzräume für Produkte oder Dienstleistungen der heimischen Wirtschaft zu schaffen; damit fünftens der Verschuldungsratio die Gültigkeit genommen wird, der nicht erst seit der Griechenlandkrise ganze Staaten in die Abhängigkeit geworfen hat; und damit sechstens, aber keineswegs letztens, das eigene Bildungssystem kräftig gegen den Strich gebürstet wird, damit die fünf zuvor genannten Maßnahmen, die beispielhaft für eine grundlegende Hinterfragung der vorherrschenden Verwertungsordnung stehen, nicht als ewiges Schreckgespenst von Generation zu Generation weitergetragen, sondern als Chance begriffen werden, nicht mehr so weiterzumachen wie bisher.

Ob dann die Handtuchtiere zum Wohlgefallen des Benutzers gefaltet werden, läge allein in seinem Ermessen und nicht dem irgendwelcher Bediensteten. Denn Diener und Herren könnte es nicht geben, sonst handelte es sich nicht um den Beginn von etwas anderem.

29. Februar 2012