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HERRSCHAFT/1647: Zweckdienliche Empörung über Wulffs Ehrensold (SB)



Die Empörung über den Ehrensold, der dem ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff zusteht, ist dem kleinlichen und beschränkten Charakter der Vorteilsnahme, die ihm zum Verhängnis wurde, ähnlicher, als die in sie einstimmende Bevölkerung wahrhaben möchte. Selbstverständlich stehen die Privilegien, die Bundestagsabgeordnete, Regierungsmitglieder und der Staatschef nach ihrer Mandats- und Amtszeit in Anspruch nehmen können, in krassem Mißverhältnis zum ökonomischen Elend, das Bürger dieses Landes und vor allem anderer Weltregionen in anwachsendem Maß erleiden. Doch das ist nicht erst seit der Affäre Wulff, die erst bewirkt hat, daß der Begriff des "Ehrensolds" überhaupt einer größeren Zahl von Bundesbürgern bekannt wurde, Ausdruck einer Klassenherrschaft, für die die Kaste der Politiker Kapitalinteressen mehrheitlich schützt als in Frage stellt.

Der nach der erfolgreichen Demontage Wulffs nun nicht minder aggressiv geschürte Ärger darüber, daß ein noch relativ junger Amtsträger nach nur zwei Jahren ein fürstliches Salär mit nach Hause nehmen soll, lenkt denn auch in erster Linie von den realen Machtverhältnissen in dieser Eigentumsordnung ab. Wie bereits im Falle der Debatte über Managergehälter bleibt die Klasse der wirklich reichen, über Grundbesitz, Aktienvermögen und Produktionsmittel in Milliardenhöhe verfügenden Bundesbürger völlig verschont von Fragen, die das kapitalistische Gewaltverhältnis in Frage stellen könnten.

Es wird auch nicht danach gefragt, inwiefern die Privilegien der medialen, bürokratischen und politischen Funktionseliten dafür Sorge tragen, daß der zentrale soziale Konflikt dieser Gesellschaft nicht in aller Schärfe öffentlich ausgetragen wird. Wenn nicht nur die Privatmedien, sondern auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk antikapitalistische Stimmen weitgehend ausblenden, wenn sie die einzige im Bundestag vertretene Partei, die eine derartige Position zumindest teilweise vertritt, mit breit orchestrierten Kampagnen unter Gesinnungsverdacht stellen, wenn die bei ihnen propagierten Werte mit Antikommunismus synonym zu setzen sind, wenn Scharfmacher in ihren Redaktionen Kriegshetze betreiben und sich auf nationalchauvinistische Weise am sozialen Elend in anderen EU-Staaten schadlos halten, dann fungieren sie als Priester eines Kulturstaates, zu dessen Erhöhung hin und wieder auch ein Sünder aus den eigenen Reihen geopfert werden muß.

Sich über Wulffs Ehrensold zu empören und über den Ehrensold des ehemaligen NSDAP-Mitglieds Walter Scheel, Bundespräsident von 1974 bis 1979, unbeschadet schweigen zu können ist Ergebnis dieser höchst aktiv betriebenen Widerspruchsregulation. Die NS-Vergangenheit mehrerer Bundespräsidenten böte für eine Debatte um die aus diesem Amt resultierende lebenslange Vergütung mehr als genug Stoff, doch die Verfehlungen ehemaliger Funktionseliten der DDR sind aus naheliegenden Gründen viel interessanter. Die Begünstigung Wulffs zum Eklat zu machen, während die notorische Korrumpierbarkeit von Politikern durch hochdotierte Beraterverträge und Versorgungsposten nach Ende der Mandats- oder Amtszeit und andere Formen partikulärer Einflußnahme auf angeblich demokratische Entscheidungsprozesse selbstredend akzeptiert werden, dokumentiert die allgemeine Blindheit gegenüber dem Kartellcharakter des Verhältnisses von Staat und Kapital.

Wulff zu unterstellen, er sei aus persönlichen und nicht politischen Gründen zurückgetreten, weshalb er keinen Ehrensold beanspruchen könne, obwohl die ihm zur Last gelegten Verfehlungen stets den Amtsträger und nicht die Privatperson zum Gegenstand hatten, paßt ins Bild einer bürgerlichen Moral, die all das unberücksichtigt läßt, was ihren interessenbegründeten Charakter offenlegte. Ihre argumentative Stärke liegt in der Schwäche der von ihr als unredlich und eigennützig angeprangerten Menschen, die allerdings das ihrige zu diesem Scherbengericht beitragen, wenn sie die moralische Währung anerkennen, mit der das Konto ihres gutbürgerlichen Leumunds belastet wird.

Bezahlt wird die Rechnung, die einem Wulff eröffnet wird, nicht wirklich von diesem. Bezahlt wird sie zuvörderst von denjenigen, denen die selektive Effizienzlogik neoliberaler Erwerbsmoral längst den Rücken einer angemessenen und respektablen Lebensführung gebrochen hat. Die bei Wulff skandalisierte Vorteilsnahme trägt Früchte im sozialrassistischen Angriff auf "Pleitegriechen" und "Sozialschmarotzer", auf die unzureichender Produktivität bezichtigten Mitglieder ethnisch-religiöser Minderheiten, auf das Existenzrecht von Flüchtlingen und das Lebensrecht dem biologistischen Leistungsprimat ungenügender, als bloße Kostenfaktoren negativ bilanzierter Menschen.

Wenn die Bourgeoisie sich gegenseitig zerfleischt, gibt es für die durch ihre Herrschaft benachteiligten und unterdrückten Menschen keinen Anlaß zur Schadenfreude. Die Verschärfung sozialer Rücksichtslosigkeit, antikommunistischer Demagogie und kulturalistischer Suprematie, für die ein Joachim Gauck steht, läßt ahnen, wie die Ernte aussehen soll, die nach diesem nun bald drei Monate währenden Volksvergnügen, es einem von "denen da oben" mal richtig zeigen zu können, eingebracht werden soll. Wie reif die Frucht bürgerlicher Verkennung der diese Gesellschaft maßgeblich kontrollierenden Gewalten ist, belegt die Farce, daß es einer neokonservativen Kamarilla Feindseligkeit säender und kriegstreibender Meinungsführer gelingt, die Anprangerung eines von ihr hochgeschriebenen Politikers zum Substitut des überfälligen sozialen Widerstands gegen diejenigen Interessen zu machen, die das Niederreißen symbolpolitischer Fassadenfunktionen nicht im geringsten tangiert, weil derartige Spektakel ganz zu ihrem Vorteil sind.

1. März 2012