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HERRSCHAFT/1676: Papst Franziskus - Klerikaler Gegenentwurf zur Befreiungstheologie (SB)




Erfüllte Jorge Mario Bergoglio SJ, der sich nun Papst Franziskus nennt, all das, was man mit seinem historischen Namensgeber zu Recht oder Unrecht assoziiert, wäre er niemals Pontifex maximus geworden. Was vom neuen Oberhaupt der katholischen Kirche zu erwarten ist, brachte Kathrin Göring-Eckardt von Bündnis 90/Die Grünen, Präses der Synode der EKD, im Gespräch mit Jasper Barenberg vom Deutschlandfunk eher unfreiwillig auf den bestürzenden Punkt:

Göring-Eckardt: (...) Aber ich glaube, mit diesem Papst verbindet sich auch die Hoffnung, dass man die Fragen, die es in der Welt gibt, wo Christinnen und Christen nur zusammenstehen können, sei es die ökologische Frage oder noch viel stärker die soziale Frage, dass man die gemeinsam angeht, und bei einem Papst aus Lateinamerika denkt man auch sofort immer daran, dass die Theologie der Befreiung dort herkommt und dass da dieses gemeinsame Handeln ja im Vordergrund stand und auch steht.
Barenberg: Mit dieser Theologie der Befreiung allerdings hat offenbar jedenfalls, soweit wir bisher wissen, der neue Papst nun überhaupt nichts am Hut. Da ähnelt er wohl eher seinen Vorgängern.
Göring-Eckardt: Da ähnelt er eher seinen Vorgängern und trotzdem ist, glaube ich, bei der Bekämpfung der Armut, bei der Frage, wie man auf Menschen zugeht, auf ihren Alltag zugeht, ökumenisches Handeln angesagt, gemeinsames Handeln angesagt, ich sage noch mal: gemeinsames Handeln eigentlich aller Menschen guten Willens. Und damit hat man, glaube ich, eine gute Grundlage. Auch wenn ich nicht annehme, dass dieser Papst ein Verfechter der Theologie der Befreiung ist, gibt es natürlich trotzdem die Auseinandersetzung mit dieser Tradition. [1]

Sei es aus schierer Unwissenheit oder beliebigkeitsgespeister Ignoranz - beiläufiger und zugleich apodiktischer könnte man die Befreiungstheologie nicht für entsorgt erklären und ihrem Gegenentwurf in Gestalt neu definierter christlicher Almosen auf Grundlage der herrschenden Verhältnisse das Wort reden. Erinnern wir uns: In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts brach sich in der katholischen Kirche Lateinamerikas eine Strömung Bahn, die sich als Befreiungstheologie der Armen und Unterdrückten annahm. Sie vertrat die Auffassung, daß die Verbesserung der elenden Lebensverhältnisse über alle anderen Erwägungen zu stellen sei. Wer die christliche Botschaft so ernst nahm, daß er nichts unversucht ließ, die Leiden seiner Mitmenschen zu lindern, geriet damit zwangsläufig in Konflikt mit den weltlichen Machthabern wie auch der Kirchenführung, die keineswegs bereit war, ihre Beteiligung an der Herrschaft für christliche Werte und das leidende Volk preiszugeben. Glauben und Kirche schließen die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse aus, lautete die Doktrin des Vatikans, welche die Heilslehre allein auf den Erlösungsgedanken reduzierte. Wem es einfallen sollte, die Rettung der Menschen über die ihrer Seelen zu stellen und damit die Macht der Kirche in ihren Grundfesten zu erschüttern, mußte neben der Verfolgung durch staatliche Kräfte auch mit Sanktionen von kirchlicher Seite rechnen.

Konservative katholische Theologen wie der damalige Kardinal Joseph Ratzinger, welcher der einflußreichen Glaubenskongregation vorstand, brandmarkten die Befreiungstheologie als abweichlerisch und von marxistischem Gedankengut des Klassenkampfs beeinflußt. Im Vorfeld der ersten Reise Papst Benedikt XVI. nach Lateinamerika, bei der er im Frühjahr 2007 Brasilien besuchte, setzte der Vatikan erneut ein deutliches Zeichen gegen die Befreiungstheologie. Im Laufe der zurückliegenden Jahrzehnte war etlichen namhaften Vertretern der Glaubensüberzeugung, die Kirche stehe in der Verantwortung, die Armen und Entrechteten zu verteidigen, die Erlaubnis zu lehren und zu publizieren entzogen worden. Als Exempel tadelte der Vatikan nun mit dem spanischen Jesuiten Jo Sobrino, der seit vielen Jahren in El Salvador lebte und Erzbischof Oscar Romero nahestand, einen prominenten Protagonisten der Befreiungstheologie. Man warf ihm vor, seine Schriften, die in Lateinamerika weithin bekannt sind, seien "entweder irrig oder gefährlich", wobei man nur aus taktischen Erwägungen beim Papstbesuch vorerst von weitergehenden disziplinarischen Maßnahmen absah.

Oscar Romero wurde am Abend des 24. März 1980 von einem Attentäter der Todesschwadronen in San Salvador ermordet. Da er dem Militärregime kritisch gegenüberstand, galt er damals weithin als eine Leitfigur des Widerstands gegen die Diktatur. Er war eine "Stimme jener, die keine Stimme haben" und weit über die Grenzen El Salvadors hinaus als mutiger Fürsprecher der Armen und Unterdrückten bekannt. Romero sprach die Menschen an, weil er es verstand, das Evangelium in einfachen Worten auszulegen und mit aktuellen politischen Forderungen zu verbinden. Er prangerte die Verbrechen der Regierung in seinen Predigten an und forderte soziale Reformen. Da er zahlreiche Todesdrohungen erhalten hatte, schwebte er in ständiger Lebensgefahr. Bei seiner Beisetzung feuerten Scharfschützen vom Nationalpalast aus in die Zehntausende zählende Menschenmenge und töten dabei etwa 40 Trauergäste.

Da Romero als Anhänger der Befreiungstheologie galt, stand ihm die Mehrzahl der anderen Bischöfe El Salvadors ablehnend gegenüber. Ihnen war zutiefst suspekt, daß dieses schwarze Schaf im erzbischöflichen Ornat keine Grenzen zwischen dem kirchlichem Lehramt und der politischen Tätigkeit mehr ziehen mochte. Damit nicht genug, machte er die seit fünfzig Jahren regierenden Militärs öffentlich für die Menschenrechtsverletzungen verantwortlich und geißelte die Besitzverhältnisse im Land, das von vierzehn reichen Familien beherrscht wurde. Und nicht zuletzt ließ er sogar ein gewisses Verständnis für den bewaffneten Widerstand der Guerilla erkennen, da deren Kampf von struktureller Gewalt provoziert worden sei.

Jorge Mario Bergoglio, so heißt es, stand damals offenbar auf der anderen Seite. Ihm wurde verschiedentlich eine zu große Nähe zur argentinischen Militärdiktatur der Jahre 1976 bis 1983 zur Last gelegt. Der Menschenrechtsanwalt Marcelo Perrilli warf Bergoglio 2005 vor, in das Verschwinden der Jesuiten Franz Jalics und Orlando Yorio im Jahr 1976 verwickelt gewesen zu sein, und erstattete deshalb Anzeige bei einem Gericht in Buenos Aires. Ein Sprecher des Kardinals bezeichnete dies als Verleumdung. Nachdem sie wieder freigekommen waren, sagten Jalics und Yorio gegenüber dem Generaloberen des Jesuitenordens, Pedro Arrupe, in Rom aus, sie seien von Bergoglio denunziert worden. Noch während die beiden Priester verschwunden waren, hatte Bergoglio Arrupe brieflich mitgeteilt, Jalics und Yorio seien aus dem Jesuitenorden ausgeschlossen worden. Während der Militärdiktatur kam es zu weiteren Entführungen und Mißhandlungen von Seminaristen, Mitarbeitern des Colegio Máximo San José und politischen Aktivisten in San Miguel. Betroffene und Zeitzeugen sind der Ansicht, daß dies nicht ohne das Wissen Bergoglios geschehen konnte, der während seiner Amtszeit als Ordensprovinzial seinen Sitz im Colegio Máximo hatte. 2010 erklärte ein ehemaliger Jesuit, der Bergoglio als Chauffeur gedient hatte, dieser habe sich während der Diktatur mehrfach mit dem Juntamitglied Admiral Emilio Massera getroffen. Bergoglio habe gesagt, es sei ihm bei den Treffen darum gegangen, den Jesuitenorden und seine Novizen zu schützen.

Der argentinische Journalist Horacio Verbitsky hat diese obskuren Verstrickungen des neuen Papstes und der katholischen Kirche umfassend recherchiert und in fünf Büchern veröffentlicht, die nun eine breitere Leserschaft auch außerhalb Argentiniens finden dürften. Scheint diese Vergangenheit Kardinal Bergoglios, der vor acht Jahren der aussichtsreichste Gegenkandidat Ratzingers gewesen sein soll, damals noch eine gewisse Rolle im Konklave gespielt zu haben, so gelten solche Bedenken inzwischen offenbar als nicht mehr zeitgemäß.

Vor Bergoglio hatte kein Papst gewagt, sich nach Franziskus von Assisi zu nennen, einem ehemaligen Kaufmann, der seinen Reichtum hinter sich ließ, um die Armut nicht nur zu predigen, sondern auch zu leben. Ob er die katholischen Kirche damit an den Rand eines Schismas gedrängt oder dieses im Gegenteil verhindert hat, dürfte den Theologen- und Historikerstreit noch in ferner Zukunft beflügeln. Fest steht hingegen, daß sich der neue Papst vorzüglich auf gewisse an Franziskus erinnernde Merkmale seiner Lebensführung reduzieren läßt, die ihn - wenn nicht aus eigener Kraft, so doch als Gallionsfigur der römischen Kurie - außerordentlich wertvoll machen. Er hat als Kardinal auf Privilegien verzichtet, in einer bescheidenen Wohnung statt im Bischofspalast gelebt, den Autobus oder die U-Bahn genommen und die Armenviertel aufgesucht. Seinen Landsleuten riet er, nicht nach Rom zu reisen, sondern das Geld lieber den Armen zu spenden. Er verkörpert jene Bescheidenheit und Demut, die geeignet sein könnte, seiner Kirche in Lateinamerika und aller Welt ein soziales Profil zu verleihen und die Abwanderungsbewegung zu anderen Konfessionen zu beenden. [2]

Zugleich gilt der neue Papst als streng konservativ in Fragen der kirchlichen Morallehre und hat sich als dezidierter Gegner von Verhütung und Abtreibung einen Namen gemacht. Als heftiger Gegner der gleichgeschlechtlichen Ehe sprach er in diesem Zusammenhang sogar von einem "Plan des Teufels", als diese in Argentinien als erstem Land des Kontinents gesetzlich geregelt wurde. Der 76jährige hat sich andererseits bei vielen Gelegenheiten als volksnah gezeigt, Ungerechtigkeit und Ausbeutung angeprangert. Es steht zu befürchten, daß sich der neue Papst in Lateinamerika enormer Popularität erfreuen und auf diesem Wege vielen progressiven Kräften einen schweren Schlag versetzen wird.

Wolfgang Thierse, Vizepräsident des Deutschen Bundestages und Mitglied im Zentralrat der Deutschen Katholiken, hat der neue Papst bereits für sich eingenommen. Es sei erstaunlich und begründe Hoffnung, daß er sich Franziskus nenne. "Das ist eine programmatische Namenswahl: ein Heiliger der Armut, ein Heiliger des Sozialen, ein Heiliger der Bewunderung und eines erstaunlichen Verhältnisses zur Natur." [3] Robert Zollitsch, Erzbischof von Freiburg und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, hebt hervor, daß Franziskus in Buenos Aires als Kardinal der Armen gelte, einer, der nah bei den Menschen sei, ihre Nöte und Sorgen kenne und sich dieser annehme: "Das sind für mich Töne, die in die Zukunft führen und auch in die jetzige Gegenwart sehr gut hinein passen." [4] Der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck, der zugleich die in Lateinamerika tätige bischöfliche Hilfsaktion Adveniat leitet, hebt hervor, daß der Heilige Franziskus von Assisi mehr als ein Programm sei. Dieser habe bescheiden gelebt, sei von tiefer Gottverbundenheit gewesen und habe eine große Reform angestoßen, die der Kirche viele Türen öffnete. [5]

In ausdrücklicher Nachfolge des "Heiligen der Armen" verkörpert der neue Papst durch seine persönliche Bescheidenheit und den fast schon asketischen Lebenswandel Glaubwürdigkeit in seinem sozialen Engagement. Wenngleich ein Kardinal des konservativen Lagers, unterstützte er sogar die Bewegung der ausgeschlossenen Arbeiter MTE, die Müllsammler in Genossenschaften vereint, oder die Stiftung La Alameda, die für die Rechte versklavter Textil- und Landarbeiter kämpft. Er hielt den Eliten seines Landes Defizite in der Sozialpolitik vor, wobei er jedoch eine politische Rolle von Priestern strikt ablehnt. Aus Sicht unbedarfter Betrachtung wie auch strategischen klerikalen Kalküls könnte Franziskus mithin der Befreiungstheologie nicht näher, und ihr gerade deshalb so fern wie der Mond sein - einen Gegenentwurf par excellence, der der katholischen Kirche ein vorzügliches frisches Tarnkleid zu bescheren verspricht.

Fußnoten:

[1] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/2040565/

[2] http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/papst-franziskus-seine-bedeutung-fuer-lateinamerika-a-888833.html

[3] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/2040465/

[4] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/2040590/

[5] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/2040921/

14. März 2013