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HERRSCHAFT/1699: Deutsche Einflußnahme auf soziale Kämpfe in der Türkei (SB)




Wolfgang Bosbach macht es sich leicht. Der Vorsitzende des Bundestagsinnenausschusses betrachtet den Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in Köln vor allem deshalb als "sehr problematisch", weil damit "innertürkische Konflikte und Auseinandersetzungen (...) nach Deutschland transportiert" [1] werden. Das Aufeinandertreffen von AKP-Anhängern und Gegendemonstranten könnte zu Übergriffen führen, unter denen die deutsche Polizei zu leiden hätte, obwohl sie ja gar nichts mit den Ursachen dieses Konflikts zu tun habe, meint Bosbach mit der Arglosigkeit eines Unionspolitikers, der weiß, daß er bei seiner auf ethnisch-nationale Identitätszuweisung abonnierten Klientel mit der Adressierung des Problems an Erdogan und seine Gegner nichts falsch machen kann.

Doch der mit der Grubenkatastrophe von Soma neuerlich entflammte Protest gegen einen Ministerpräsidenten, der die Stirn hat, den Tod von über 300 Arbeitern als eine Art nicht zu verhindernde Naturgewalt zu verharmlosen, ist allemal mit einer Bundesrepublik verknüpft, die in der Türkei massive Wirtschaftsinteressen hat und diese durch eine enge Zusammenarbeit im sogenannten Sicherheitsbereich flankiert. Mit der schlichtweg zu akzeptierenden Schicksalhaftigkeit derartiger Katastrophen wartete Erdogan bereits 2010 bei einer Methangasexplosion in einem staatseigenen Bergwerk in Zonguldak, bei der 28 Kumpel ums Leben kamen, auf. Dabei gibt es heute mehr denn je Belege für den Zusammenhang zwischen Kostensenkung und Anstieg der Unfallraten in türkischen Minen. Laut Kani Beko, dem Vorsitzenden der Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei (DISK), haben die Todesfälle in der Bergbauindustrie in den ersten neun Jahren der Privatisierungspolitik, die mit der Regierungsbildung durch die AKP 2002 begann, um 40 Prozent zugenommen. Gleichzeitig sanken die durchschnittlichen Löhne der Minenarbeiter in privatisierten Minen um 30 Prozent [2]. 2002 kam es zu 872 Todesfällen in der Bergbauindustrie, 2013 kehrten 1235 Kumpel nicht mehr von der Arbeit nach Hause zurück. Sie sterben in der Türkei durchschnittlich 8,5 mal häufiger unter Tage als in EU-Staaten, was die Türkei nach China und der Russischen Föderation zu dem Land mit den gefährlichsten Arbeitsbedingungen im Bergbau macht.

Alp Gürkan, Chef des Bergbaukonzerns Soma Holding, prahlte in einem Zeitungsinterview damit, daß sein 5,5 Millionen Tonnen Kohle im Jahr aus der Erde holendes Unternehmen den Preis für deren Förderung von 135 Dollar je Tonne auf nur 24 Dollar je Tonne aufgrund der "operativen Methoden der Privatwirtschaft" reduzieren konnte [3]. Wie nach der Katastrophe deutlich wurde, trugen dazu der verstärkte Einsatz von Subunternehmen, deren Arbeiter besonders schlechte Löhne erhalten, Einsparungen im Arbeitsschutz und, wie protestierende Bergleute berichteten, unzureichende Kontrollen der staatlichen Aufsichtsbehörden nicht unwesentlich bei. Die neoliberale Politik der AKP-Regierung hat dem Land zwar erhebliche Wachstumsraten beschert, die jedoch mit einer deutlichen Verschärfung der Ausbeutungsintensität erkauft wurden. So hat die AKP mit ihrem Amtsantritt 2002 die bis dahin gültigen Arbeitsschutzgesetze geschwächt, um den Arbeitsmarkt mit den üblichen Mitteln der Deregulierung der Beschäftigungsverhältnisse und des Ausbaus des Niedriglohnsektors zu flexibilisieren [4].

Damit wie mit der Privatisierung des Bergbausektors 2005 entsprach die AKP-Regierung den Strukturanpassungsforderungen des IWF, die zu erfüllen wiederum Voraussetzung für einen möglichen EU-Beitritt der Türkei war [5]. Die Entfesselung der sogenannten Marktkräfte erzeugte zwar hohe Wachstumsraten, doch kam der Ertrag des Booms lediglich der neofeudalen Minderheit eines neuen Unternehmertums zugute, das seinen gesellschaftlichen Einfluß mit dem Aufstieg der AKP verknüpft hatte. Heute noch kommen mehr als 70 Prozent der türkischen Haushalte auf ein Familieneinkommen von weniger als 1000 Dollar im Monat. Unter diesen muß fast die Hälfte mit weniger als 500 Dollar im Monat auskommen, und 20 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der offiziellen Armutsgrenze [6].

Die nicht zuletzt von der deutschen Bundesregierung betriebene Verzögerung des Beitritts der Türkei zur EU findet ihren tieferen Sinn auch darin, daß die statt dessen angebotene "privilegierte Partnerschaft" verhindert, daß der größte Handelspartner der Bundesrepublik die vergleichsweise höheren arbeitsrechtlichen Standards der EU einführen muß. Billigste Lohnarbeit, bei der insbesondere Frauen im jugendlichen Alter ohne jeden vertraglichen Schutz zwischen 70 und 80 Stunden die Woche an der Nähmaschine sitzen [7], um Textilien für den Export zu fertigen, wird zwar auch im informellen Sektor EU-europäischer Peripheriestaaten angeboten, ist aber unter den rechtlichen Bedingungen der Türkei noch leichter durchzusetzen.

Auch die Bedingungen des Kapitalexports aus Deutschland in die Türkei wurden durch die AKP-Regierung verbessert, etwa durch das Investitionsförderungsgesetz 2004, das in- und ausländische Investoren gleichstellt. Um das Land als Lieferanten günstiger Rohstoffe und billiger Arbeit, als Absatzmarkt deutscher Waren, als Standort zur Akkumulation deutschen Investivkapitals und als Drehscheibe für Wirtschaftsbeziehungen deutscher Unternehmen in den Nahen und Mittleren Osten zu nutzen, unterstützt die Bundesregierung den türkischen Staat auch bei der Unterdrückung der linken Opposition. Dies gilt nicht nur für die kurdische Befreiungsbewegung PKK, sondern auch für revolutionäre Parteien wie die DHKP-C, die in der Türkei wie in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft und daher verboten ist.

Wenn es in diesem Zusammenhang in der Bundesrepublik zur politischen Verfolgung türkischstämmiger Aktivistinnen und Aktivisten kommt, dann positioniert sich die Bundesregierung aktiv auf der Seite der AKP-Regierung gegen widerständige Teile der türkischen Bevölkerung. Diese Zusammenarbeit hat eine lange Tradition, wie die Kooperation deutscher und türkischer Geheimdienste im Kalten Krieg auch dann bewies, wenn in Ankara eine Militärjunta an der Macht war. Die Unterdrückung der türkischen Linken dauert bis heute an und wurde auch nicht durch die Proteste der Gezi-Park-Bewegung gestört. Bis auf einige vorsichtige Mahnungen an die Adresse Erdogans, es mit der Aufstandsbekämpfung nicht zu übertreiben, hielt sich die Bundesregierung weitgehend bedeckt. Die intensive Einmischung Berlins in den Sturz der Regierung Janukowitsch in der Ukraine durch den Euromaidan zeigt, daß je nach außenpolitischer Interessenlage, nicht jedoch nach humanitären oder menschenrechtlichen Erwägungen vorgegangen wird.

Ein Jahr später sorgt die kriminelle Verursachung der Katastrophe von Soma dafür, daß der zentrale soziale Konflikt, das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital, auf die Tagesordnung auch der Einbindung des Landes in EU-europäische Wirtschaftsinteressen gehoben wird. Friedliche gesellschaftliche und politische Bedingungen haben einen hohen Stellenwert für alle ausländischen Investoren. In Soma werden diese derzeit mit Mitteln hergestellt, die an diktatorische Verhältnisse erinnern. Die Stadt ist weiträumig durch Sondereinsatzkräfte der Polizei und Soldaten abgeschottet, der Gouverneur der Provinz Manisa hat alle Versammlungen unter freiem Himmel verboten, Menschenrechtsanwälte wurden verhaftet und mißhandelt.

Die Bundesregierung fühlt sich nicht minder bemüßigt, Linke, die sich in dem am Beispiel Soma überdeutlich werdenden Klassenkonflikt positionieren, zu observieren und, falls möglich, auch mit strafrechtlichen Mitteln zu drangsalieren. Beispielhaft für zahlreiche hier in Deutschland in den letzten Jahren gegen türkische Aktivistinnen und Aktivisten eröffnete Verfahren begann am 14. Mai vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf der Prozeß gegen Özkan Güzel mit der Verlesung der Anklageschrift und der Präsentation erster Beweismittel. Gegen Güzel, der in türkischen Gefängnissen gefoltert wurde, dort am Todesfasten teilgenommen hatte und seitdem am Wernicke-Korsakoff-Syndrom leidet, wird wegen Verstoßes gegen Paragraph 129b verhandelt. Er richtet sich unabhängig von Straftaten, die dem Angeklagten individuell nachgewiesen werden müßten, gegen dessen Assoziation mit einer "ausländischen terroristischen Vereinigung", zielt also in erster Linie auf seine politische Einstellung. Ebenfalls von der Kriminalisierung durch das Vereinigungsstrafrecht betroffen sind mehrere Mitgliederinnen und Mitglieder der Anatolischen Föderation, eines eingetragenen Vereins in Deutschland lebender türkischstämmiger Migrantinnen und Migranten [8].

So reicht es im Fall Güzel schon für eine Anklage aus, daß er als Gründungsmitglied Spenden- und Solidaritätsgelder für den in seinem Wohnort tätigen "Duisburger Familien- und Jugendverein" gesammelt hat und an der Organisation und dem Verteilen von Eintrittskarten für ein Konzert der linken türkischen Bandformation Grup Yorum beteiligt war. Ferner wird ihm vorgeworfen, Feriendörfer für türkische Kinder und Jugendliche mitorganisiert und an demokratisch legitimierten und verfassungsrechtlich geschützten Protestaktionen teilgenommen zu haben, bei denen er Transparente zum Aktionsort gebracht und dort auch selber getragen hat. Mitglieder rechter türkischer Organisationen bleiben in der Bundesrepublik hingegen weitgehend von derartigen Nachstellungen verschont.

Wenn also Erdogan am Samstag in Köln einen Wahlkampfauftritt veranstaltet und damit Proteste von möglicherweise 30.000 Gegendemonstranten provoziert, dann ist das keine innere Angelegenheit der Türkei. Es liegt im Interesse deutscher Kapitaleigner und Wirtschaftsunternehmen, die Türkei dauerhaft auf die Rolle eines neokolonial bewirtschafteten Peripheriestaats festzulegen und sich dabei der Unterstützung der reaktionärsten Kräfte unter ihren politischen Eliten zu versichern.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/erdogan-auftritt-in-koeln-konflikte-werden-nach-deutschland.694.de.html?dram:article_id=285853

[2] http://www.criticatac.ro/lefteast/the-soma-tragedy-kadere-karsi-against-fate/

[3] http://www.marxist.com/soma-massacre-anger-sweeps-turkey.htm

[4] http://murat-cakir.blogspot.de/2014/05/arbeitsschutz-unter-erdogan-per-gesetz.html#more

[5] http://www.wsws.org/de/articles/2014/05/17/pers-m17.html

[6] http://econoscale.com/2014/03/23/engineering-turkeys-middle-class-and-maslowian-politics/

[7] http://www.deutschlandfunk.de/tuerkei-wenig-schutz-fuer-arbeiter.795.de.html?dram:article_id=285431

[8] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0178.html

20. Mai 2014