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HERRSCHAFT/1710: Liberaler Paternalismus - kein Widerspruch in sich ... (SB)



Nicht autoritär bevormunden, sondern sanft manipulieren soll das Ziel einer Maßnahme der Bundesregierung sein, für die jüngst Expertinnen und Experten gesucht wurden, die über "hervorragende psychologische, soziologische, anthropologische, verhaltensökonomische bzw. verhaltenswissenschaftliche Kenntnisse" [1] verfügen sollen. Auch wenn der Vorstoß der Bundeskanzlerin, für wirksames Regieren auf Methoden behaviouristischer Art zu setzen, eher den Anschein vorsichtigen Experimentierens aufweist [1], verrät die Initiative doch, daß das notorische Mißtrauen gegenüber demokratischen Willensbildungsprozessen vor dem Hintergrund einer Krise, die andere europäische Bevölkerungen bereits massenhaft aufbegehren ließ, zu "proaktiven" Interventionen Anlaß gibt.

Die Menschen mit der Technik des Nudging (Anstupsen) zu Handlungen zu bewegen, die sie von sich aus nicht vollzogen hätten, erscheint nicht als bahnbrechende Innovation, sondern dem kleinen Einmaleins der Werbewirtschaft entnommen. Neu am Einsatz unterschwelliger Verhaltensmanipulationen, die etwa energiesparende oder gesundheitsfördernde Auswirkungen haben sollen, ist lediglich das Eingeständnis, zu einer administrativen Maßnahme greifen zu wollen, die im demokratischen Verfassungsstaat eigentlich nicht vorgesehen ist. Doch auch hier sind die Übergänge fließend, werden doch seit jeher fragwürdige Entscheidungen wie die Refinanzierung überschuldeter Banken aus Steuermitteln oder die Einführung einer von Verzinsung abhängigen kapitalgedeckten Rente als Ausdruck vernünftiger Politik ausgewiesen. Die darin enthaltene Ratio kapitalistischer Vergesellschaftung, die Menschen für das Erreichen nationaler Wirtschaftsziele mit ihrer materiellen Existenz in die Pflicht zu nehmen und damit ihre Bereitschaft zum sozialen Widerstand zu schwächen, bleibt demgegenüber exklusives Herrschaftswissen.

Die nun diskutierte Frage, ob es sich beim Nudging nicht um eine illegitime Form der Gängelung handelt, kann sich nur denjenigen stellen, die daran glauben, daß eine kapitalistische Klassengesellschaft nicht von vornherein auf sozialökonomischen Gewaltverhältnissen basiert. Nicht umsonst entspringen Konzepte wie das des Liberalen Paternalismus, das der Technik des Nudging zugrundeliegt, dem strategischen Arsenal einer sozialtechnokratischen Elite, der die sozialen Widersprüche ihrer Gesellschaft allzu bewußt sind, als daß sie den von sich selbst beanspruchten Freiheitsethos allen Menschen zubilligte. Der Verhaltensökonom Richard Thaler und der Verfassungs- und Verwaltungsrechtler Cass Sunstein, der während der ersten Obama-Administration das Office of Information and Regulatory Affairs (OIRA) im Weißen Haus leitete, propagieren ein positives Verständnis des Paternalismus im Sinne dessen, daß er "Wahlmöglichkeiten auf eine Weise zu beeinflussen sucht, die für die Wählenden vorteilhafter sind, als sie es selbst beurteilen würden". [2]

Die Anmaßung, besser als die Menschen selbst zu wissen, was für sie gut ist, ist Kern aller demokratisch bemäntelten Herrschaftsstrategien autoritären Zuschnitts. Die neoliberale Doktrin vom Staat als Unternehmen und seinen Funktionseliten als Managern desselben setzt die Inanspruchnahme einer Definitionsmacht voraus, die auf den Kommandohöhen kapitalistischer Herrschaft in Handlungsanweisungen verwandelt wird, die die Vergeblichkeit in staatstragenden Fensterreden beschworener demokratischer Ideale nicht besser belegen könnten. Um keinen vermeidbaren Widerstand zu provozieren, existiert bereits ein gut ausgebautes Instrumentarium des Akzeptanzmanagements. Mit hochentwickelten PR-Techniken des Green- oder Pinkwashing, der demoskopischen Inszenierung vermeintlicher Mehrheiten oder Mediationsstrategien wie Bürgerbeteiligung oder Sozialpartnerschaft werden Bündnisse geschmiedet, die selbst das Führen neuer Staatenkriege möglich machen sollen. So liberal sich dieser Paternalismus auch geben mag, bleibt er ein in Zuckerwatte gewickelter Knüppel, der spätestens dann blank gezogen wird, wenn das in jeder Lebens- und Sterbenslage teilbare Marktsubjekt zum kollektiven Widerstand übergeht.

Wie eine Verhaltensökonomie, die sich an angeblich irrationalen Entscheidungen des Homo oeconomicus abarbeitet und damit eine marktideologisch fundierte Konformität schafft, laut der der Mensch mit privatwirtschaftlicher Isolation und sozialdarwinistischer Selbstbehauptung die beste Wahl für sein Leben trifft, will der Liberale Paternalismus Abweichungen von einer Norm beseitigen, in denen noch der Funke des Aufbegehrens gegen die totale Unterwerfung unter die technologische und ökonomische Verfügbarkeit des Menschen glimmt. Um einen Nutzen zu legitimieren, der immer nur denjenigen zugute kommt, die ihn als allgemeines Ziel von Staat und Gesellschaft bestimmen und durchsetzen können, werden die Verluste, die er erzeugt, individualpsychologisch pathologisiert und den Expertinnen und Experten sozialstrategischer Regulation überantwortet.

Wie irrational die Unterwerfung unter den jeweils Stärkeren tatsächlich ist, zeigt das in die Länge ganzer Generationen gestreckte Elend einer Klasse von Lohnabhängigen und Versorgungsbedürftigen, der das Vermögen, sich als solche zu begreifen und Widerstand gegen die Imperative paternalistischer Realpolitik zu entfalten, längst ausgetrieben wurde. Die Menschen in den Griff administrativer Verhaltensregulation zu nehmen, bezweckt denn auch nichts anderes, als die unterstellte Alternativlosigkeit herrschender Verhältnisse so unumkehrbar zu machen, daß nicht einmal mehr der Gedanke an ihre Überwindbarkeit aufkommen kann.


Fußnoten:

[1] http://www.welt.de/wirtschaft/article138326984/Merkel-will-die-Deutschen-durch-Nudging-erziehen.html

[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Soft_paternalism#cite_note-3

13. März 2015


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