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HERRSCHAFT/1716: "Transitzonen" - Migrationsregimes im autoritären Maßnahmestaat (SB)



Transitzonen - das hört sich nach Passage an, nach sicherem Geleit in unübersichtlichem Gelände. Wenn Kanzleramtschef Peter Altmaier zur Schaffung derartiger Räume im grenznahen Gebiet erklärt, man wolle bei der dort erfolgenden Klärung des Asylanspruchs Geflüchteter niemanden in Haft nehmen und auch keinen Zwang ausüben, und dies dadurch belegt, daß es so etwas im Flughafenverfahren auch nicht gebe [1], dann erweckt er absichtlich einen falschen Eindruck. Menschen im Flughafenverfahren sind de facto eingesperrt, sie befinden sich in einem umgrenzten und von Zäunen umgebenen Gebiet, wo innerhalb weniger Tage über ihren Asylanspruch befunden werden soll, damit die Geflüchteten bei negativem Bescheid ohne weitere Verzögerung abgeschoben werden können. Die maximal beschleunigte Abfertigung geht ausschließlich zu ihren Lasten, stehen sie doch einem bürokratischen Prozedere gegenüber, das sie ohne ausreichend zur Verfügung gestellt Beratung nicht verstehen können. Sie werden durch die gefängnisartige Situation eingeschüchtert und können nur in einem sehr begrenzten Maße Rechtsmittel in Anspruch nehmen.

Anders, als daß die sogenannten Transitzonen auf ein Zwangssystem der Bewegungskontrolle und Migrationsverhinderung hinauslaufen, ist es gar nicht vorstellbar. Sie sollen eingerichtet werden, um "illegale Migration" zu verhindern. Wer auch immer sich aufmacht, seine Situation in den reichen Metropolengesellschaften Westeuropas zu verbessern, und dafür lebensgefährliche Strapazen in Anspruch nimmt, läßt sich durch bloße Rechtsvorschriften und Verfahrensregeln nicht aufhalten. Wäre es so, dann würde nicht über die Einrichtung derartiger Zonen diskutiert. Mit ihnen werden Räume der vorverlagerten Flüchtlingsabwehr aufgebaut, die ihrer immanenten Sachzwanglogik gemäß schrittweise zu konkreten Architekturen der Bewegungseinschränkung wie Zäunen und Mauern und militärischen Formen der Grenzsicherung führen werden.

Daß die Vorstellung, die Bundesrepublik führe eine durch moderne Überwachungstechnik zwar modifizierte, im Kern ihrer physischen Gewaltanwendung jedoch eindeutige Form der Lagerhaft für Migrantinnen und Migranten ein, manchem Sozialdemokraten in Anbetracht der eigenen Geschichte politischer Verfolgung unangenehm ist, kann nicht erstaunen. Daß die SPD ihren Part zur Verschärfung des Migrationsregimes im Sinne intensivierter Selektion und beschleunigter Abschiebung beitragen wird, ebensowenig. Mit der neuen Wanderungsbewegung aus den Kriegs- und Elendsgebieten des Nahen und Mittleren Ostens, Afrikas und Südosteuropas wird auch dieser Partei die Rechnung einer Reichtumsproduktion eröffnet, die ohne die währungs- und ordnungspolitische Absicherung des von Nord nach Süd steil abfallenden Produktivitätsgefälles längst eingebrochen wäre.

Nichts könnte die Behauptung, bei der kapitalistischen Globalisierung handle es sich um ein Wachstumsprojekt, von dem alle Beteiligten gleichermaßen profitierten, besser widerlegen als die notgetriebene Flucht vor Krieg und Armut, mit der die EU jetzt konfrontiert ist. Die zur Nutzung von Preis- und Standortvorteilen auf allen Stufen der Verwertung von Arbeit und Ressourcen geschaffene Durchlässigkeit der Grenzen für den Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital wird durch die freie Bewegung aller Menschen nicht nur konterkariert, sondern akut bedroht. Während den globalen Funktionseliten so gut wie kein Ort der Welt versperrt ist, weil die Öffnung auch der letzten Nischen lokaler Subsistenz und regionaler Selbstorganisation für das Wertwachstum der ökonomisch führenden Staaten alle dagegen gerichteten Schutzgarantieren aus dem Feld schlägt, soll das Milliardenheer billig verfügbarer Arbeitskraft keinesfalls aus seiner sozialökonomischen Konditionierung auf sklavenähnliche Ausbeutbarkeit ausbrechen.

Gerät hier etwas in Bewegung, wie es zu allen Zeiten der Fall war, wenn die Menschen versuchten, den elenden Bedingungen feudalistischer Abhängigkeit und kolonialistischer Herrschaft zu entkommen, dann kann das etablierte Machtverhältnisse erschüttern und zu ihrer Ablösung durch neue Kräfte führen. Massenhafte Wanderungsbewegungen waren stets Triebkräfte sozialer Veränderung, das gilt auch in einer Zeit, in der die Gültigkeit universaler Menschenrechte zumindest formalrechtliche Gleichheit in aller Welt herstellen soll. Nicht die immer noch auf sich warten lassende Durchsetzung dieser Rechte ist in erster Linie für den anwachsenden Strom flüchtender Menschen verantwortlich, sondern die anwachsende soziale Not, die den Krieg gebiert und nicht umgekehrt.

In Anbetracht der aus ökonomischer Ausbeutung, politischer Unterdrückung und ökologischer Verwüstung resultierenden Unmöglichkeit, angemessene und sichere Lebensverhältnisse in Anspruch nehmen zu können, hat dieser Krieg lange vor seiner offenen militärischen Eskalation begonnen und hört mit dem Schweigen der Waffen längst nicht auf. Seit die sozialen Bruchlinien auch in europäischen Klassengesellschaften immer deutlicher hervortreten und die informationstechnische Rationalisierung der Arbeitsgesellschaft im Verbund mit dem austeritätspolitischen Krisenmanagement immer mehr Menschen jeglicher Aussicht darauf beraubt, irgendwann in ihrem Leben noch einmal jenes Wohlstandsniveau zu erreichen, das im Klassenkompromiß der Nachkriegszeit die Scheinidylle einer sozial homogenen BRD erzeugte, dringen seine Ausläufer auch in die sauberen Gassen und warmen Wohnzimmer des bislang durch die Drittstaatenregelung geschützten EU-Hegemons vor.

Was nicht begriffen wird und werden soll, ist die Totalität der vermeintlich nur gegen flüchtende Menschen gerichteten Maßnahmen administrativer Verfügungsgewalt. Bereits mit dem Arbeitsregime Hartz IV wurde ein staatsautoritärer Zugriff auf die Vermögens- und Lebensverhältnisse der dadurch verwalteten Bevölkerung etabliert, der den Meldeauflagen und Bewegungseinschränkungen in der Bundesrepublik lebender Asylbewerber ähnelt. In den urbanen Lebenswelten wird soziale Segregation durch Hausrecht, Mietkostenniveau, Konsumpflicht und Mobilitätskosten geschaffen. Wer die Städte mit dem Auto befährt und auf Autobahnen zwischen ihnen hin und her reist, ist in einer zeitlich wie räumlich ganz anderen Dimension unterwegs als Fahrradfahrer und Fußgänger. Wer sich das teure Monatsticket nicht leisten kann, fährt nur selten von der Peripherie ins Zentrum, um von Reisen durchs Land ganz zu schweigen.

Wo die von teurer fossiler Energie befeuerte Mobilität der Reichen in scharfem Kontrast zur Immobilität der Armen steht, bedarf es keiner Transitzonen. Brechen die Menschen jedoch massenhaft auf, um die Welt zu Fuß zu durchwandern, dann erscheint die räumliche Durchlässigkeit kapitalistischer Reichtumsproduktion plötzlich als ein Problem, dessen man durch innovative Formen der Bewegungskontrolle Herr werden will. Dazu aufgebotene Maßnahmen wie die EU-Agentur Frontex, die Einrichtung von Sammellagern außerhalb der EU-Grenzen, für die die politische Aufwertung autoritärer Regimes nicht gescheut wird, die polizeiliche Erfassung Geflüchteter in der biometrischen Datenbank Eurodac oder der militärische Einsatz gegen Schleuser weisen Merkmale eines Ausnahmezustands auf, der ansonsten erst in bürgerkriegsartigen Situationen verhängt wird. Dabei wird fugenlos an einen Antiterrorismus angeknüpft, der schon bisher antimuslimischen Rassismus produzierte, um bürgerliche Freiheiten aller Art einzuschränken.

So wirft die sogenannte Flüchtlingskrise den langen Schatten eines Maßnahmestaates voraus, der den sozialen Antagonismus unter dem Vorzeichen der Sicherung bestehender Privilegien vertieft und dabei nicht einmal rassistisch argumentieren muß, weil dies in der Bevölkerung wie von selbst geschieht, wenn nur an den richtigen Stellschrauben gedreht wird. Was die Bundeskanzlerin an Kritik einzustecken hat, ist der Preis für die Qualifikation bestehender Herrschaftsverhältnisse in Richtung auf eine Krisenbewältigung, die das Aufkommen sozialer Aufstandsbewegungen weitsichtig einkalkuliert. Nicht die Anwesenheit von Geflüchteten erzeugt die Krise, sie ist in Form vertiefter sozialer Widersprüche längst manifest und bedarf eines unverdächtigen Titels, um diejenigen zu treffen, die sich aufgrund ihres vermeintlichen Geburtsrechtes einbilden, in sicherer Distanz zu dem Elend in den Ländern des Südens zu leben.

Je virulenter die Ahnung, daß diese Entfernung schrumpft und der verbliebene Genuß sozialer Privilegien befristet sein könnte, an die Oberfläche drängt, desto mehr scheint die Bereitschaft zu wachsen, regressive Antworten an die Stelle streitbarer Fragen nach den Urhebern dieses Elends treten zu lassen. Diesem Verlauf eines quasi naturwüchsigen Sozialdarwinismus Einhalt zu gebieten, wäre die Aufgabe einer Linken, die etwas von der Sprengkraft sozialer Antagonismen weiß und sich durch die Ergebnisse strategischer Feindbildproduktion nicht in die Irre führen läßt.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/peter-altmaier-zur-fluechtlingspolitik-wir-koennen.694.de.html?dram:article_id=335741

[2] HERRSCHAFT/1715: Selektive Flüchtlingsabwehr - Die Guten ins Töpfchen ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1715.html

3. Oktober 2015


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