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HERRSCHAFT/1767: Jagdszenen auf dem Marktplatz der Politik (SB)



"Verrat!" schallt es aus den Parteizentralen der Grünen und SPD, "Verrat!" tönen die Gazetten herrschaftsaffiner Beschwichtigung. Der angekündigte Übertritt der Landtagsabgeordneten Elke Twesten von der Fraktion der Grünen in die der CDU im niedersächsischen Landtag wird als verachtenswürdiger Akt egoistischen Eigennutzes gegeißelt und als großer Schaden an der Glaubwürdigkeit der Demokratie beklagt. Der hohe Ton moralischer Herabwürdigung und das wütende Polemisieren gegen eine Politikerin, die ihre Schäfchen ins Trocken zu bringen versucht, soll tunlichst verdecken, daß der "Verrat" den politischen Funktionseliten in der sogenannten Marktdemokratie längst zur zweiten Natur geworden ist.

Wer den moralischen Hochsitz erklimmt, um über andere das Kreuz zu brechen, kann tief fallen, wenn er die Empörung nicht ganz und gar für sich zu mobilisieren weiß, also wird besonders heftig in die Tasten persönlicher Bezichtigung gegriffen. Der nicht das erste Mal erfolgte Schritt des Übertrittes grüner Politiker in die Reihen der Union - Oswald Metzger hat schon vor Jahren vorgemacht, wie leicht sich ideologisch konforme Brücken vom grünen ins schwarze Lager bauen lassen - ist ein Ergebnis der neuen Bürgerlichkeit, der sich die einst linksalternativen Grünen verschrieben haben. Unter der rot-grünen Bundesregierung wurden die dazu erforderlichen Kurskorrekturen auf Bundesebene vollzogen, seitdem steht auch schwarz-grünen Koalitionen nichts mehr im Wege. Nicht wenige grüne Wählerinnen fühlten sich damals zutiefst betrogen durch die Kriegsbeteiligung Deutschlands und die rot-grüne Agenda-Politik, mit der die hegemonialen Ambitionen des deutschen Imperialismus ihre zweckförmige Gestalt annahmen.

Der angeblichen Veredelung des Wählerwillens in der repräsentativen Demokratie liegt nichts anderes als die Durchsetzung der Staatsräson auch und gerade gegen das Mandat der Bevölkerung zugrunde. Wäre dem nicht so, dann gestände man dem angeblichen Souverän weit mehr Möglichkeiten zu basisdemokratischer Kontrolle und Intervention zu, als ihn alle vier Jahre unter dem Abfeuern ganzer Breitseiten massenmedialer Indoktrination an die Wahlurnen zu treiben. In welchem Ausmaß Regierungen unter korporatistischen, bündnispolitischen und ideologischen Einflüssen stehen, ist allemal bekannt und durch die Wählerinnen nicht zu verhindern. Unter diesen Umständen "Verrat" zu rufen, weil eine Abgeordnete aus mutmaßlich persönlichen und revanchistischen Gründen eine Landesregierung kippt, demaskiert die Urheber dieser Bezichtigung als bigotte, ihre defizitäre Glaubwürdigkeit durch moralische Überfliegerei verbergende Meute.

Mit dieser verletzenden Maßregelung soll dementiert werden, daß es sich bei der parlamentarischen Demokratie um einen Marktplatz der Chancen und Interessen handelt, auf dem sich jeder und jede nach bestem Wissen und Gewissen schlägt. Letzteres als grundgesetzlich vorgegebene Maßgabe politischer Verpflichtung zu verstehen schließt eben nicht aus, daß persönliche Motive für eine solche Entscheidung ausschlaggebend sein können. Wer will denn darüber befinden, wie opportunistisch das Abstimmungsverhalten vieler Parlamentarier und Parlamentarierinnen ist, wenn Fraktionsdisziplin eingefordert wird und Karriereambitionen zur Disposition stehen? Die Beispiele dafür, daß das Gewissen der Abgeordneten ein wohlfeiles Handelsgut ist, auch wenn kein Geld fließt oder andere Formen direkter Vorteilsnahme ruchbar werden, sind Legion. Der Ärger über die weitere Demontage rot-grüner Erfolgsträume ist verständlich, aber die Nachstellungen, denen Elke Twesten ausgesetzt ist, sind einfach nur Ausdruck einer zumal stark maskulin eingefärbten Zusammenrottung selbstgerechter Mandatsträger.

5. August. 2017


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