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HERRSCHAFT/1778: Staatsbewahrer SPD - erfüllte Pflicht und überflüssig ... (SB)



November 1959 in der Stadthalle von Bad Godesberg - die SPD nimmt Abschied von der Arbeiterklasse. Die Zeiten, in denen das aller Überlebensmittel beraubte, über nichts als seine Haut verfügende Proletariat als "Ausbeutungsobjekt der herrschenden Klasse" der Willkür der Fabrikbesitzer, Schlotbarone und Banker ausgeliefert war, sollten unwiederbringlich vorbei sein. Zwar mußten ArbeiterInnen in der BRD nach wie vor ihre Haut zu Markte tragen, aber die sie verwertende Wirtschaft sollte eine "soziale" sein. Von der ordoliberalen Fraktion des westlichen Wirtschaftsliberalismus als wirksame Waffe im Krieg der Ideologien erdacht, gab die SPD im Godesberger Programm den Grundzügen der "sozialen Marktwirtschaft" den Zuschlag. Zwar taucht der Begriff als solcher erst in den 1990er Jahren in den Programmen der Partei auf, aber die 1959 getroffene Aussage, der Arbeiter habe sich zum gleichberechtigten Staatsbürger emanzipiert, bedurfte einer politökonomischen Begründung. Sie bestand in der Abkehr von der Orientierung auf marxistische Gesellschaftskritik zugunsten eines demokratischen Sozialismus, "der in Europa in christlicher Ethik, im Humanismus und in der klassischen Philosophie verwurzelt ist".

So wurde die Geschichte der Klassenkämpfe in eine des Kampfes für "Freiheit und Gerechtigkeit" einer Gesellschaft umgedeutet, in der "nur Begabung und Leistung", nicht Privilegien tradierter Art, sozialen Aufstieg möglich machen sollten. "Die Sozialdemokratische Partei ist aus einer Partei der Arbeiterklasse zu einer Partei des Volkes geworden", und der "Arbeitnehmer", dem das marktwirtschaftliche Kommando als bürgerlicher Befreiungsschlag schmackhaft gemacht wird, "muß aus einem Wirtschaftsuntertan zu einem Wirtschaftsbürger werden" [1]. Mit den sozialdemokratischen Weihen für den Homo oeconomicus wurde die Anschlußfähigkeit an neoliberale Strategeme wie "Leistungsgerechtigkeit" und "Eigenverantwortung" hergestellt, selbst das zwischenzeitlich etwas aus der Mode geratene "Volk" wurde rehabilitiert, so daß Sozialdemokraten der völkischen Restauration das braune Wasser zumindest dort abgraben können, wo man sich in der Anerkennung des sozialdarwinistischen Leistungsprimates einig ist.

59 Jahre später treffen die GenossInnen unweit des Ortes, an dem das legendäre Godesberger Programm verabschiedet wurde, erneut in Bad Godesberg, nunmehr ein Ortsteil der Bundesstadt Bonn, zusammen. Seit 1998 bis auf ein Intermezzo von 2009 bis 2013 ununterbrochen an der Regierung beteiligt, ist die SPD für eine Form von sozialer Gerechtigkeit zuständig, die sich in einem stetig abnehmendem Anteil der ärmeren Hälfte der Bevölkerung am Erwerbseinkommen und einem drastisch zunehmenden Reichtum am oberen Ende der Pyramide ausdrückt. Verfügte die schlechter verdienende Hälfte der BRD-Bevölkerung in den 1960er Jahre noch über ein Drittel des Einkommens und war es 1995 noch ein Viertel, so sind es heute weniger als 20 Prozent, was seit 1913 nicht mehr der Fall war. Nichts könnte die historische Aufgabe der Sozialdemokratie, die erwerbsabhängige Bevölkerung unten und die überflüssig gemachten Millionen draußen zu halten, besser demonstrieren als der von ihr erbrachte Dienst am Staat des Kapitals, Deutschland gerade dadurch zum Krisengewinner, Exportweltmeister und EU-Hegemon zu machen.

Der dafür zu entrichtende Preis, die lohnabhängige Bevölkerung unter permanenter Androhung des finalen sozialen Absturzes in die politische Resignation und Regression zu treiben, taucht auf dem Konto der neuen Rechten als Aktivposten auf. Nicht, daß die Klientel der AfD vorhätte, sich gegen die anwachsende Staatsautorität aufzulehnen, ganz im Gegenteil. Deren Ausbau zu einer rigiden Autokratie, mit der sich die Ziele des deutschen Imperialismus noch besser verwirklichen lassen als unter der ohnehin in seinem Sinne erfolgreichen Kanzlerin, soll lediglich den dazu auserkorenen Angehörigen einer Volksgemeinschaft zugutekommen, die erst noch mit identitärer Verächtlichkeit zu konstitutieren ist. Weiß und national, inspiriert von einem christlichen Schöpfergott mit patriarchaler Werteordnung und eurozentrischem Machtanspruch, will man unter sich sein und auch den linken Nachbarn nicht dabei haben, es sei denn, er unterwirft sich der neuen Sitten- und Hackordnung.

Der Stärkung dieser Entwicklung gegenüber verblassen alle anderen Vorwürfe, die den GenossInnen mit der Entscheidung für eine Neuauflage der Großen Koalition gemacht werden, zu harmlosen Petitessen. Daß der Parteivorsitzende Martin Schulz am Wahlabend unter viel Jubel kategorisch erklärte, nicht für eine Große Koalition zur Verfügung zu stehen, und sich nun auf staatsbürgerliche Verantwortung beruft, dementiert nicht zuletzt die damals erklärte Absicht, im Bundestag dafür zu sorgen, daß die Führung der parlamentarischen Opposition nicht an die AfD fällt. Nun könnte der Schaden kaum größer sein. Aus dem opportunistischen Bündnis der bisherigen Regierungsparteien kann vor allem die neue Rechte Honig saugen. Einmal mehr bestätigt sich ihre These von der undemokratischen Herrschaft eines Establishments aus PolitikerInnen mit von Eigennutz genährtem Sitzfleisch, so daß es einer Bevölkerung, der letzte sozialistische Flausen mit aller massenmedialen und kulturindustriellen Wucht ausgetrieben wurden, leichtfällt, den deutschen Imperialismus mit einer neuen Elite aus noch aggressiveren FunktionsträgerInnen auszustatten.

Dabei erledigt das sozialdemokratische Führungspersonal diese Aufgabe inzwischen mit einer kalten Entschiedenheit, dergegenüber bei der rot-grünen Zustimmung zur Beteiligung der Bundeswehr am Überfall der NATO auf Jugoslawien zumindest noch einige Krokodilstränen vergossen wurden. "In einer Welt voller Fleischfresser haben es Vegetarier sehr schwer" [2], erklärte Außenminister Sigmar Gabriel mit Blick auf die seiner Ansicht nach unzureichende Bereitschaft der Bundesrepublik, internationale Interessenpolitik auch mit Waffengewalt durchzusetzen. Den Habenichtsen der Welt zuzurufen, der von ihnen bestaunte Reichtum sei ganz allein aus eigener Arbeit erwirtschaftet worden, um sie noch wirksamer ausnehmen zu können, und sei es unter Androhung von Gewalt, ist eine dieser Strategien, die Sozialdemokraten wie ihm leichtfallen und für Höheres empfehlen. Den türkischen Außenminister freundschaftlich zu umwerben und die kurdische Linke in der Bundesrepublik mit Repressalien zu überziehen, während die Regierung in Ankara den Krieg gegen Syrien und die dort lebenden KurdInnen eröffnet, ist ein aktuelles Beispiel für das Ringen um die besten Plätze an den Fleischtöpfen.

Sich davon nicht verdrängen zu lassen bedarf in einer Welt in Zahl wie Wirkung anwachsender Krisen und Katastrophen eines Willens zur Grausamkeit, den die SPD, wenn sie in den Koalitionsverhandlungen tatsächlich mehr als in den Sondierungsvereinbarungen für ihre Klientel erreichen will, unter Beweis zu stellen hat. Sich in der Opposition zu erneuern erscheint demgegenüber um so attraktiver, als den GenossInnen das Beispiel der Parti socialiste warnend vor Augen steht. Bei den Parlamentswahlen 2012 noch mit 29,4 Prozent stärkste Fraktion in der französischen Nationalversammlung konnte sie fünf Jahre später nur noch 7,44 Prozent der WählerInnen für sich gewinnen. Die PS versank in der politischen Bedeutungslosigkeit, weil ihr arbeiterfeindlicher Liberalisierungskurs noch nicht einmal den Scheinerfolg eines prosperierenden nationalen Gesamtproduktes hervorbrachte, auf den sich die SPD beruft, wenn sie dem Staat des Kapitals zuarbeitet und ihren WählerInnen suggeriert, das würde sich für sie auszahlen.

Je mehr sich Merkel und Schulz als VollstreckerInnen einer staatspolitischen Sachzwanglogik präsentieren, die den letzten Akt in der Karriere der Kanzlerin einleitet, desto leichter machen sie es der AfD, künftig mit am Kabinettstisch einer neurechten Koalition zu sitzen. Eine SPD, die nichts als ihre bewährte Rolle spielen will, bei Gefahr sozialrevolutionärer Umbrüche Bourgeoisie und Kapital den Rücken zu stärken, macht sich angesichts des Aufmarsches der neuen Rechten in Deutschland und ihrer liberalautoritären Pendants in Washington, Paris, Warschau, Budapest und Wien so überflüssig, wie es die PS in Frankreich bereits vorexerziert hat.


Fußnoten:

[1] https://web.archive.org/web/20140723181855/http://www.hdg.de/lemo/html/dokumente/DieZuspitzungDesKaltenKrieges_programmGodesbergerProgramm/

[2] https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/gabriel-spiegel/1185862

22. Januar 2018


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