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HERRSCHAFT/1919: Der Griff der Herrschaft ... (SB)



Der Mythos Gerechtigkeit und Gleichheit herstellender linker Politik erweist sich desto mehr als solcher, je widriger die materiellen Bedingungen eigener Existenzsicherung sind. Warum sich für Schwache, Unterworfene und Gedemütigte einsetzen, wenn die Umverteilung des großen Kuchens doch der Zufriedenheit genüge tut? Dass dieser aus dem Blut und den Schmerzen vieler Menschen gefertigt wird, die nicht dazugehören, weil sie die falsche Staatsangehörigkeit oder Hautfarbe haben, geht niemanden etwas an. Erst den eigenen Staat, die eigene Nation, die eigene Kultur versorgen, wer anderes vorschlägt, macht sich unbeliebt. Prinzipiell mit Herrschaft brechende Positionen sind, wenn sie überhaupt noch eingenommen werden, unpopulär, weil sie voraussetzen, das eigene Wohlergehen nicht an erste Stelle zu stellen.

Ein genuin sozialrevolutionäres Selbstverständnis strebte mithin den Bruch mit Staat und Nation, mit Patriarchat und Kapital an, anstatt der aus diesen Machtkomplexen gespeisten Krisendynamik affirmativ hinterherzulaufen. Dies nicht nur auf parlamentarische, sondern populistische Weise zu tun zeichnet die Restbestände der als links identifizierten Partei diesen Namens aus. Während sie insgesamt um Staatskonformität und damit Regierungsfähigkeit bemüht ist, indem sozialdemokratische Umverteilungspolitik propagiert und zur NATO ein zumindest ambivalentes Verhältnis gepflegt wird, verlegen sich Teile der Partei darauf, die Erfolgsrezepte der AfD anzuzapfen, die inzwischen bei der Sonntagsfrage auf ein stabiles Zustimmungsniveau von bis zu 15 Prozent kommt.

Populismus ist nicht nur populär, weil er beim Volk verfängt, sondern weil seine Zwecke und Mittel auf der Ebene des realen Sozialdarwinismus verbleiben. Was einer rechtsextremen Weltanschaung billig ist, kann für eine Linke fruchtbar gemacht werden nur über die Verkürzung herrschaftskritischer Fragen auf vulgärmaterialistische Antworten. Volkstümliche Wahrheiten leuchten ein, weil die Konstitution des Eigenen stets des Anderen, Fremden bedarf, das als nicht dazugehörig zur Adressatin all dessen gerät, das das eigene Wohlergehen verhindert. Wo das rechte Original nationale und ethnische Minderheiten ohne Umschweife beim Namen des Übels nennt, wo es soziale und ideologische Feinde in den eigenen Reihen bezichtigt, dem deutschen Volk in den Rücken zu fallen, sucht seine linke Mimesis Zuflucht bei Hahnemann. Dessen Simileprinzip, also Ähnliches mit Ähnlichem zu heilen, bekämpft das Übel aus sich selbst heraus, ohne sich mit ihm gemein zu machen, besagt zumindest die Theorie der Homöophatie.

Im Wechselspiel politischer Maskentänze ist damit klassischerweise die Annäherung der parlamentarischen Mitte an den rechten Rand gemeint, dem die BürgerInnen zum Preis einer generellen Rechtsverschiebung des politischen Spektrums abspenstig gemacht werden sollen. Dabei fallen Populismus und Staatsräson üblicherweise in eins, wie etwa der Asylkompromiss 1992 gezeigt hat, der ausländerfeindliche Politik institutionalisierte und dies als Willkommensgeschenk an angeblich notorisch fremdenfeindliche Ostdeutsche rechtfertigte. Wenn heute Sahra Wagenknecht von Bild TV gefragt wird, wieso eine "weit links" stehende Politikerin bei den Anhängern einer rechten Partei so gut ankomme, dann negiert diese ideologische Verortung alles, was noch mit sozialem Widerstand antikapitalistischer Art assoziiert wird. Derartige Umtriebe könnten nicht wirksamer exorziert werden als anhand des Beispiels einer Exkommunistin, die ihre Liebe zur sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards und einer leistungsgerecht formierten Klassengesellschaft entdeckt hat.

Vor allem jedoch muss dieser Gegensatz aufgemacht werden, um ideologische Trennschärfe zu erzeugen. Erst so kann links nicht als rechts erscheinen und doch eine Wirkung entfachen, die ideologisch Unvereinbares mühelos überspielt. Für Wagenknecht sind die WählerInnen der AfD "ganz viele ganz normale Menschen, die einfach entsetzt sind über die Regierungspolitik, die (...) einfach nicht mehr wissen, was sie wählen sollen, weil sie sich von keiner Partei mehr vertreten fühlen." [1] Während die naheliegende Frage, warum diese Menschen nicht die Partei Die Linke wählen, anstatt der AfD zu zweistelligen Ergebnissen zu verhelfen, lieber nicht gestellt wird, postuliert Wagenknecht eine bürgerliche Normalität nach dem paternalistischen Strickmuster "Denn sie wissen nicht was sie tun".

In eben jener Generaldebatte am 7. September im Bundestag, die Sahra Wagenknecht durch den sachgerechten, auch von ausgesprochenen BefürworterInnen der EU-Sanktionspolitik gegen Russland verwendeten Begriff "Wirtschaftskrieg" in die Pole Position parlamentarischer Opposition katapultierte, machte die Kovorsitzende der AfD, Alice Weidel, explizit, was nicht zu wissen laut Wagenknecht der Goldstandard bürgerlicher Normalität ist. Weidel forderte unter anderem, die Staatsausgaben auf das Wesentliche zu konzentrieren, namentlich innere und äußere Sicherheit, Gewährleistung von Rechtsstaatlichkeit und öffentlicher Ordnung, die "illegale Migration und Einwanderung in die Sozialsysteme" zu bekämpfen, nicht mehr in Windkraft und Photovoltaik zu investieren, sondern statt dessen neue Atomkraftwerke zu bauen.

Die AfD ist nicht gegen Krieg, er soll viel mehr im nationalen Interesse geführt werden, und dafür soll mehr und nicht weniger Geld ausgegeben werden. Sie will Menschen, die durch Kolonialismus, Krieg und Klimakatastrophe in Lebensgefahr geraten, keinen Zutritt gewähren, aber auch keine Mittel zur Verfügung stellen, selbst wenn diese als klimapolitische Ausgleichszahlung rechtsstaatlich begründet werden. Doch auch das der AfD angeblich so am Herzen liegende deutsche Volk soll keine Vergünstigungen erhalten - das geplante Bürgergeld gilt ihr als unsozial, weil es ohne Lohnarbeit ausgezahlt werden soll. Die AfD-Fraktion will daher eine "Bürgerarbeit", also einen an den Erhalt von Sozialleistungen gekoppelten Zwangsdienst einführen und Leistungsbeziehende einer Residenzpflicht unterwerfen, sprich ihre Bewegungsfreiheit einschränken [2].

"Die Bürger dieses Landes, die arbeitende Bevölkerung und der Mittelstand, die Industrie brauchen Freiheit und Luft zum Atmen", lautet das Credo einer Alice Weidel, und wem dies Anlass ist, ihr zuzustimmen, weiß auch, wem Freiheit und Luft genommen werden soll. Dazu zählen all diejenigen, die - so die Bild TV-Moderatorin in Überleitung zu Wagenknechts Buch "Die Selbstgerechten" - einem "Woke-Wahnsinn" frönen. Der ursprünglich in der Black-Lives-Matter-Bewegung in den USA entstandene Begriff "Woke" stand ursprünglich dafür, rassistischen und sexistischen Aggressionen die gebührende Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, sprich gegen Ausfälle dieser Art entschieden vorzugehen.

Seine Verwendung im deutschsprachigen Raum als rechter Kampfbegriff hat auch bei Bild Einzug gehalten und dort den bisherigen Platzhalter für derartige Anwürfe, den "Gender-Wahn", um eine zweite Verbalinjurie ergänzt. Wo sich die VerfechterInnen autoritärer Maßregelungen übertrumpfen, ist längst kein Platz mehr zur Erörterung der Frage, was es mit der Befreiung von Patriarchat und Geschlechterbinarität auf sich haben könnte, ganz im Gegenteil. Der Kampf für maskuline Dominanz und gegen Feminismus, für Ehe und Familie und gegen die Aufweichung tradierter Geschlechterrollen ist ein Kernanliegen der AfD, wie unter anderem die ehemalige AfD-Politikerin Franziska Schreiber berichtet hat [3]. Das ist kein Kulturkampf, wie häufig vermutet. Der Zugriff auf die Körper der Frauen, auf ihre kostenlos verrichtete Reproduktionsarbeit ist Bedingung und nicht Zweck dieser Gesellschaft, ist Voraussetzung gesellschaftlicher Produktion und wird ihr unterworfen. Dagegen kämpft der feministische Antikapitalismus, deshalb ist dem Patriarchat jede Infragestellung der von ihm verfügten Ordnung so verhasst.

Grundlegende Fragen wie diese werden von Wagenknecht ignoriert, wenn sie sogenannte Identitätspolitik, Veganismus oder sozialökologischen Aktivismus als "Lifestyle" und "Marotte" einer urbanen Linken verwirft, die längst den Kontakt zu den Lohnabhängigen verloren hätte. Fernab davon, die Probleme der ArbeiterInnen auf den Begriff der Klassengesellschaft zu bringen oder gar das globale Prekariat zum Widerstand gegen den Kapitalismus anzuhalten findet die Normalität der AfD-AnhängerInnen in der von ihr propagierten "Leistungsgerechtigkeit" neoliberalen Widerhall [4].

Was Wagenknecht als selbstgerecht verurteilt, meint eben nicht nur den liberalen Feminismus einer Baerbock, die ganze neun Tage brauchte, um sich zum Aufstand der iranischen Frauen zu Wort zu melden, die einer Türkei zuarbeitet, wo Frauenrechte mit den Füßen getreten werden, die die Aufnahme Finnlands und Schwedens gut heißt auch unter der Bedingung, dass der Befreiungskampf kurdischer Frauen dadurch immer schwieriger wird. Der moralische Impetus der Gerechtigkeit nach Wagenknecht steht in diametralem Widerspruch zu den emanzipatorischen Kämpfen von Minderheiten, die allesamt verdächtigt werden, einem "woken Wahnsinn" zu frönen.

Wo Kritik vonnöten wäre, weil Minderheitenrechte von den SpitzenpolitikerInnen der Regierungskoalition wie den AgentInnen kulturindustrieller Warenästhetik für ganz andere, nicht selten konträre Zwecke instrumentalisiert werden, weil jedem queeren Gegenentwurf, jedem Aufstand gegen patriarchale Normalität durch sich progressiv gebende Inklusionsmanöver der Zahn unbestechlicher Streitbarkeit gezogen werden soll, schweigt Wagenknecht vielsagend. Zwischentöne etwa der Art, dass sich auch unter Lohnabhängigen und Erwerbslosen queere Menschen befinden, die schwerwiegende soziale Probleme haben, dass People of Colour bis heute Nachteile erleiden können, die zu umschiffen aufgrund ihrer Sichtbarkeit unmöglich ist, dass es VeganerInnen gibt, die keinem konsumistischen Trend folgen, wenn sie tierliche Subjektivität respektieren, finden im holzschnittartigen Raster ihrer Lifestyle-Demagogie keinen Platz.

Zugespitzt gesagt geht es der Linken-Politikerin um nichts Geringeres, als die bisherigen Ergebnisse des jahrzehntelangen Kampfes der radikalen Linken gegen Rassismus, Sexismus und Kapitalismus abzuräumen um des Friedens mit den herrschenden Verhältnissen willen. Dass deren SachwalterInnen gerade Krieg führen und Wagenknecht einige gut begründete Einwände dagegen ins Feld führt, ändert nichts daran, dass sie als eine Art Einpersonenabbruchunternehmen nicht nur die schicke Lifestylekonkurrenz demontiert, sondern mit dem groben Besen populistischer Normalitätshuberei die Forderungen und Kämpfe von Menschen verächtlich macht, die ein rotes Tuch für die extreme Rechte sind. Ordnung muss sein, das gilt erst recht zwischen Mann und Frau, zwischen Weiß und Schwarz, zwischen Deutschen und Ausländern.

Wagenknecht hält die Debatte für das von der Bild TV-Moderatorin angeführte Beispiel für Transrechte für "Schwachsinn", ein im übrigen behindertenfeindlicher Begriff, was anzumerken selbstverständlich den Vorwurf autoritärer Sprachregulation nach sich zieht. Zu behaupten, es gebe größere Probleme als diese, kappt jede Verbindung zu den kapitalistischen und patriarchalen Grundlagen der sich täglich zuspitzenden Systemkrise. Das größere Problem eines notwendigen fundamentalen Bruches mit dieser Gesellschaftsordnung will Wagenknecht auf keinen Fall zu ihrem machen, also braucht sie einen Popanz, auf den einzudreschen gerade das verhindert.

Die Linken-Politikerin geriert sich als Stimme des Volkes, wenn sie in Bild TV behauptet, der Kampf diskriminierter Minderheiten laufe darauf hinaus, den Leuten vorschreiben zu wollen, wie sie zu denken, zu reden und zu leben haben. Dass auch Deutschland ein mit struktureller Gewalt drohender und zwingender Staat ist, der zahlreichen Menschen innerhalb wie außerhalb seiner Grenzen nämliches vorschreibt, bestreitet sie mit dieser Behauptung aktiv. Anstatt den Missbrauch von Antidiskriminierungspolitik zur Beschönigung des deutschen Kriegskurses zu kritisieren, ohne die Notwendigkeit des Kampfes gegen Homo- und Transphobie, gegen Feminizide und Rassismus zu leugnen, erhebt sie den Vorwurf der Selbstgerechtigkeit. Die damit gemeinte "Lifestyle-Linke" macht sie so zur Platzhalterin jener brutalen Bürgerlichkeit, die von Thilo Sarrazin bis Alexander Gauland schon immer wusste, wer sich auf welcher Sprosse der sozialen Hackordnung einzufinden hat. Das ist kompatibel mit Bild und Compact, mit maskulinistischer Selbstbehauptung und paternalistischer Arroganz, mit AfD und offensichtlich auch Teilen der Linkspartei.

Wenn die "Lifestyle-Linke" selbstgerecht sei, woraus speist sich dann die Gerechtigkeit, die Sahra Wagenknecht dem entgegensetzt? Sie scheint aus einer Art gerechtem Kapitalismus hervorzugehen, dessen globale Zerstörungskraft schlicht überblendet wird durch Umverteilungsansprüche nach dem Motto Deutsche zuerst, und dann eine ganze Weile niemand mehr. Wo die Norm der Identitätspolitik als weiß, europäisch, männlich und christlich gesetzt wird, war es einmal Sache der Linken, für all diejenigen einzutreten, die als davon abweichend ausgegrenzt, stigmatisiert und unterdrückt werden. Das steht nicht im Widerspruch zum Kampf gegen Klassenherrschaft, sondern erweitert und beflügelt ihn auch durch die Kampfansage an Kolonialismus und Patriarchat. Vielleicht wird der tradierte Klassenbegriff im Verlauf dieser Kämpfe auch transformiert, was angesichts dessen, dass er von Wagenknecht nicht mehr ausgesprochen, dafür aber chauvinistisch aufgeladen wird, kein Schaden wäre.

Fußnoten:
[1] https://www.youtube.com/watch?v=Y5BCkF9agRU

[2] https://www.jungewelt.de/artikel/437877.sgb-ii-b%C3%BCrger-hartz-noch-zu-viel. html

[3] http://schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar697.html

[4] http://schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1910.html

11. November 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 178 vom 24. Dezember 2022


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