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PROPAGANDA/1373: "Aussteigerprogramm" für Taliban ... eine Posse neokolonialer Verkennung (SB)



Wo Stabilität in andere Länder exportiert, wo Nation-Building betrieben und Demokratie verordnet wird, da muß man sich nicht wundern, wenn der sich ob der Vielzahl der wohlmeinenden Zuwendungen sträubende Einheimische mit Mitteln zur Räson der Neuen Weltordnung gebracht werden soll, die eher dem Baukasten zivilgesellschaftlicher Sozialingenieure als dem Arsenal militärischer Besatzer entsprungen zu sein scheinen. Das von Außenminister Guido Westerwelle ins Gespräch gebrachte Aussteigerprogramm für gemäßigte Taliban erweckt den Eindruck, man habe es in Afghanistan mit einigen verblendeten Irrläufern zu tun, die eine an und für sich gute Sache aus völlig irrationalen Beweggründen gefährden.

Seinem marktwirtschaftlichen Credo gemäß gibt es unter den "Taliban-Terroristen" viele "Mitläufer", "die nicht aus fanatischer Überzeugung, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen auf einen falschen Weg geraten sind" (Bild am Sonntag, 24.01.2010). Wenn diese Analyse zuträfe, dann wäre es wohl am einfachsten, der afghanischen Bevölkerung insgesamt aus ihrer wirtschaftlichen Misere herauszuhelfen, so daß sich das Problem der Taliban wie von selbst erledigte. Daß diese Möglichkeit gar nicht erst in Betracht gezogen wird, demonstriert, wie unseriös diese Abwerbung vermeintlich käuflicher Taliban ist.

Die Theorie, hinter gedungenen Söldnern, die sich den Taliban, den Regierungstruppen, den diversen Warlords oder mehreren Parteien zugleich als Kämpfer zur Verfügung stellten, wenn nur der Preis stimmt, stände ein nur kleiner Kern ideologisch fest im religiösen Fundamentalismus verwurzelter Fanatiker, dient ausschließlich dazu, den Widerstand gegen die Besatzer zu diskreditieren. Die mit dem Spekulieren über "gemäßigte Taliban" ins Feld geführte Spaltungsstrategie hätte längst Ergebnisse erbracht, wenn es lediglich einiger Dutzend Millionen Dollar bedürfte, wankelmütige Besatzungsgegner aufzukaufen. In Anbetracht der Milliarden, die für die militärische Seite der Kriegführung der NATO aufgewendet werden, wäre die Rekrutierung dieser Kräfte eine Kleinigkeit gewesen.

Was im Irak funktioniert hat, als die US-Regierung große Teile des sunnitischen Widerstands mit umfassender finanzieller Alimentierung auf die eigene Seite gezogen hat, läßt sich nicht ohne weiteres auf Afghanistan übertragen. Entscheidend für den befristeten Erfolg dieses Programms war der innerirakische Machtkampf, der erst mit der Besetzung des Landes längs ethnisch-religiöser Grenzen initiiert wurde und den die schiitische Bevölkerungsmehrheit zu gewinnen drohte. In Afghanistan haben die Invasoren durch ihr Bündnis mit der Nordallianz eindeutig gelagerte Machtverhältnisse geschaffen, die zu Lasten der paschtunischen Bevölkerungsmehrheit und der aus ihren Reihen stammenden Taliban gehen. Der Widerstand paschtunischer Gruppen bezweckt mithin mehr als das Sichern kurzfristiger Überlebensmöglichkeiten, ihnen geht es um langfristige Machtoptionen. Diese Besatzungsgegner in die von den Eroberern durchgesetzte Herrschafts- und Gesellschaftsordnung Afghanistans zu integrieren ist im Verhältnis zu der starken Stellung, die sie zuvor innehatten, von zu vielen Nachteilen bestimmt, als daß es viele Gründe für sie gäbe, sich darauf einzulassen.

Die Käuflichkeit afghanischer Kämpfer hat durchaus Tradition, wie die Tatsache belegt, daß nicht wenige Soldaten und Polizisten, die im Rahmen des Aufbauprogramms der NATO-Staaten für die afghanischen Regierungstruppen und Sicherheitsbehörden ausgebildet und ausgerüstet werden, die Seiten nicht nur einmal, sondern immer wieder wechseln. Wie es um die Motivation des Gros der Afghanen bestellt ist, die gegen die Besatzer kämpfen, ist allerdings bei weitem nicht so klar, wie Westerwelle mit seinem "Aussteigerprogramm" suggeriert.

Was einen jugendlichen Neonazi in Deutschland bewegen mag, auf Angebote der Bundesregierung einzugehen, seiner totalitären Ideologie abzuschwören und sich in die schweigende Mehrheit zu integrieren, ist wohl kaum damit gleichzusetzen, was einen afghanischen Jugendlichen umtreibt, der im Einklang mit größeren Teilen der Bevölkerung versucht, die ausländischen Truppen zum Abzug aus seinem Land zu bewegen. Er ist, ob nun mehr aus innerer Überzeugung handelnd oder von materieller Not getrieben, als Kämpfer der Taliban eingebettet in eine Ideologie, die in ihrem moralischen Rigorismus ein ausgesprochenes Produkt jener gescheiterten Modernisierungsschübe ist, mit denen die diversen Besatzungsmächten der letzten 30 Jahre das Land in ihrem Sinne zu beeinflussen versuchten.

Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 45 Jahren kennt die große Mehrheit der afghanischen Bevölkerung nichts anderes als Krieg, Armut und Unterdrückung. An diese Extremsituation den Maßstab einer ideologischen Normierung anzulegen, der diejenigen Afghanen, die sich gegen die von außen kommenden Staatenbauer wenden, ausgrenzen soll, geht so sehr an der sozialen Realität dieser Menschen vorbei, daß man sich über das Scheitern der Strategien, mit denen die Regierungen der NATO-Staaten versuchen, einem modernen Kolonialkrieg die Gestalt eines Befriedungs- und Beglückungsprogramms zu verleihen, nicht zu wundern braucht.

Die verschiedenen Gruppen der afghanischen Bevölkerung mit Kategorien wie "falsch" und "richtig" zu bewerten, wie Westerwelle es tut, hat nur einen Effekt: Er verschafft den Taliban mehr Glaubwürdigkeit. Wie verwerflich ihre gesellschaftlichen Praktiken und Werte aus westlicher Sicht auch sein mögen, sie sind dem Gros der Bevölkerung bei aller doktrinären Überhöhung allemal verständlicher als eine gesellschaftliche Transformation, die ihre kulturellen und politischen Traditionen von vornherein zum Gegenstand ihrer Überwindung erklärt. Wenn dieser Wandlungsprozeß auch noch ohne eine deutliche Verbesserung ihrer materiellen Lebensumstände vonstattengeht, dann kann er die hochgradige Verunsicherung, der die Mehrheit der Bevölkerung durch Armut und Krieg ausgesetzt ist, nur noch verschärfen.

Das in den Augen des deutschen Außenministers "Richtige" durchzusetzen bleibt mithin ein Gewaltakt, selbst wenn die Anwerbung einiger angeblich gemäßigter Taliban gelingen sollte. Da der Grad ihrer Kooperationsbereitschaft daran gemessen wird, wie weitgehend sie sich auf die Vorstellungen der Besatzer einlassen, verkörpern die dagegen gerichteten Kräfte all das, was an afghanischer Eigenständigkeit noch geblieben ist. Ein Befriedungsprozeß, in dem die Taliban ebenso wie andere Gruppen der Besatzungsgegner und der mit diesen verbündeten Parteien und Stämmen als gleichberechtigte Verhandlungspartner aufeinanderträfen, kann nur beginnen, wenn sich die Regierungen der NATO-Staaten jeglicher bewertenden Einmischung enthalten. Ein Aussteigerprogramm für gemäßigte Taliban hingegen setzt die moralische Wertigkeit des gerechten Kriegs voraus und wird zur weiteren Eskalation der Gewalt beitragen.

25. Januar 2010