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PROPAGANDA/1382: Am Beispiel Hermann Dierkes ... Gesinnungsverdacht als politische Waffe (SB)



Die Kampagne zur Unterdrückung mißliebiger Kritik an der Besatzungs- und Annexionspolitik Israels ist spätestens seit dem Überfall der israelischen Streitkräfte auf Gaza zu einer festen Einrichtung im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik geworden. Unter der Prämisse, daß man Israel natürlich kritisieren dürfe, wenn man sich nur an die Regeln halte, die die Parteigänger der israelischen Regierung setzen, werden gestandene Wissenschaftler, Politiker und Aktivisten mit dem Vorwurf des Antisemitismus überzogen. Dabei spielt es keine Rolle, welcher Herkunft oder Nationalität sie sind, entscheidend ist allein, daß ihnen die Wirksamkeit ihrer Kritik zum Verhängnis werden soll. Das dabei angewendete Mittel ist so einfach wie effizient - in der Legalität internationalen und humanitären Rechts verankerte Forderungen werden unter Gesinnungsverdacht gestellt, indem sie entweder auf der Basis einer kurzschlüssigen, von inhaltlicher Konsistenz befreiten Gleichsetzung mit einschlägig bekannten Topoi des NS-Jargons zu den Urhebern der Judenvernichtung in kausale Beziehung gesetzt oder, äquivalent zur einseitigen Kriminalisierung des palästinensischen Widerstands durch die Besatzer und ihre Verbündeten, mit dem Vorwurf der Gutheißung des Terrorismus behaftet werden.

Als gemeinsamer Nenner fast aller Versuche, sachkundige Analytiker des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern ideologisch zu diffamieren, sticht die Ausblendung des konkreten Gewaltverhältnisses zwischen Besatzern und Besetzten hervor. Was die Palästinenser an physischer Repression, rechtlicher Entmündigung und politischer Benachteiligung zu erleiden haben, darf in der Debatte um die Legitimität des Ausmaßes möglicher Kritik an der israelischen Regierung keine Rolle spielen. Nur so läßt sich die Empörung, die bei mit dem Konflikt vertrauten Menschen ob seiner einseitigen Auslegung zugunsten der stärkeren Seite aufkommt, gegen diese kehren. Mit geradezu inquisitorischer Strenge wird eine zur Denkkontrolle verdichtete Sprachregelung durchgesetzt, die in Anbetracht der faktischen Disparität, die damit gedeckt werden soll, nur deshalb Bestand haben kann, weil es sich um eine Ausweitung des konstitutiven Gewaltverhältnisses in den medialen und politischen Diskurs handelt.

Das jüngste Beispiel für die Art und Weise, mit der versucht wird, Kritiker der israelischen Regierung zu diffamieren, betrifft einmal mehr den Duisburger Kommunalpolitiker Hermann Dierkes der Partei Die Linke. Er hatte im Februar 2009 auf einer Veranstaltung seiner Partei auf die Frage, was man gegen die Unterdrückung der Palästinenser durch die israelische Regierung tun könne, auf den Aufruf "Boykott, Desinvestition, Sanktionen" der Versammlung der sozialen Bewegungen des neunten Weltsozialforums im brasilianischen Belém verwiesen. Daraufhin wurde ihm die Unterstützung der von Friedensaktivisten in aller Welt, darunter viele Israelis und US-amerikanische Juden, befürworteten BDS-Aktion als Neuauflage des NS-Aufrufs "Kauft nicht bei Juden" angelastet.

Dierkes hat sich von seiner Parteinahme für die Palästinenser dennoch nicht abhalten lassen. Nun versuchen seine Gegner erneut, ihm anhand der Videoaufzeichung eines Diskussionsbeitrags auf einer Veranstaltung im November 2009 eine antisemitische Grundeinstellung nachzuweisen. Die Veranstaltung wurde in Gänze aufgezeichnet und der Mitschnitt nach Autorisierung durch Dierkes unmittelbar danach ins Internet gestellt. Ein Auszug aus diesem Video, der seit kurzem auf You Tube zu sehen ist, wird nun dazu herangezogen, den Ruf des Politikers zu beschädigen. In der Überschrift eines englischsprachigen Artikels der Jerusalem Post (14.03.2010) lastet der Deutschlandkorrespondent der israelischen Tageszeitung, Benjamin Weinthal, Dierkes an, den Holocaust zu verharmlosen, und belegt dies mit einer ganzen Reihe von Vorwürfen, denen allesamt Zitate aus diesem Video zugrundeliegen.

Als fachliche Instanz, die den angeblich verwerflichen Charakter der Gesinnung des Linkenpolitikers feststellt, fungiert der Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland, Stephan J. Kramer. Unmittelbar nach Beginn des Artikels, in dem Dierkes angelastet wird, er habe das Existenzrecht Israels als "läppisch" bezeichnet, habe palästinensische Raketenangriffe gegen israelische Zivilisten gerechtfertigt und das Ausmaß des Holocaust heruntergespielt, bezeichnet Kramer ihn als "bekannten Israelhasser und Antisemiten". Die einzelnen Vorwürfe, die zu diesem Urteil Anlaß geben, als auch Kramers Bewertung werden im weiteren Verlauf des Artikels etwas ausführlicher besprochen.

Um die Vorwürfe im einzelnen auf ihren angeblich antisemitischen Gehalt hin zu untersuchen lohnt sich der Blick auf das "Belastungsmaterial". So erklärt Dierkes zu Beginn des Videos, daß es ihm nicht "um einen Konflikt mit einer rassistischen Prägung oder gegen Juden oder so etwas" ginge, sondern "um eine politische Auseinandersetzung", die sich um die Frage einer "friedlichen und gerechten" Lösung des Konflikts dreht. Als "läppisch" erscheint ihm das Existenzrecht Israels im Verhältnis zum mißachteten "Existenzrecht der Palästinenser", das er als "Kontrapunkt" verstanden wissen will.

Dierkes ist nicht bekannt dafür, daß er das Existenzrecht Israels bestreitet, ganz im Gegenteil. Wie sollte auch Kritik an einem Staat möglich sein, dessen Existenzrecht in Frage gestellt werden soll? Dierkes geht es bei dem ihm zur Last gelegten Umgang mit diesem Essential des Nahostdiskurses offensichtlich darum, die Verhältnisse dahingehend gradezurücken, daß er das dabei stets vernachlässigte Existenzrecht der Palästinenser würdigen möchte.

In einer Gegendarstellung zu einem Gastkommentar Weinthals auf dem Webportal der Frankfurter Rundschau FR-Online.de (15.03.2010), in dem der Deutschlandkorrespondent der Jerusalem Post (JP) die Vorwürfe gegen Dierkes unter dem Titel "Anti-israelische Äußerungen der Linken - 'Läppisches' Existenzrecht" in einer an die deutsche Leserschaft angepaßten Form erneuert, erklärt Dierkes:

Ich habe die ständige Betonung des Existenzrechts Israels nicht deswegen als läppisch bezeichnet, weil es keins habe, das ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Ich meine, dass damit nicht klar gesagt wird, was gemeint ist: In welchen Grenzen? Mit oder ohne besetzte und annektierte Palästinensergebiete? In Form eines "jüdischen Staates" oder eines Staates für alle seine Bürger (als auch der vielen Nichtjuden)? Der frühere Aussenminister Abba Eban äußerte sich 1981 wie folgt: "Niemand erweist Israel einen Dienst, indem er sein Existenzrecht proklamiert. Es ist beunruhigend, dass so viele, die Israel wohl gesonnen sind, diese verächtliche Formulierung im Munde führen" und der ehem. Ministerpräsident M. Begin sagte 1977: "Ich möchte hier feststellen, dass die Regierung Israels keine Nation (...) darum ersuchen wird, unser Existenzrecht anzuerkennen". Sind beide auch Antisemiten?

Dem im JP-Artikel ausgemachten Affront Dierkes', Israel anzulasten, sich "als jüdischer Staat zu definieren", und das Land mit dem ehemaligen südafrikanischen Apartheidregime zu vergleichen, liegt im Video die Aussage zugrunde:

Was ich in Zweifel ziehe, und zwar ganz energisch, daß Israel sich definieren will als jüdischer Staat, das heißt die Menschen, Hunderttausende, Millionen, die innerhalb der Staatsgrenzen leben, Bürger zweiter Klasse sind, eine Art Apartheid durchmachen und so weiter. Ja haben wir denn nichts zu sagen? Ist das im Sinne der Menschenrechte alles okay, was da läuft?

Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist die Position der heutigen israelischen Regierung, nicht mehr nur die Anerkennung des staatlichen Existenzrechts, sondern die Anerkennung des jüdischen Charakters Israels zur Bedingung von Friedensverhandlungen zu machen, was die Festschreibung der Benachteiligung seiner nichtjüdischen Staatsbürger zur Folge hätte. Die ethnisch-religiöse Definition eines Staatsvolks ist mit dem Selbstverständnis säkularer westlicher Demokratien nicht vereinbar, so daß die hierzulande übliche Hervorhebung des demokratischen Charakters Israels unter Vorbehalt zu genießen ist.

Die Verteidiger des jüdischen Staatscharakters argumentieren, daß Juden eben nur diesen einen Staat hätten, während Araber eine Vielzahl von Möglichkeiten besäßen, sich unter ihresgleichen anzusiedeln. Diese auch von den Verfechtern eines allmählichen "Transfers" der Palästinenser aus den besetzten Gebieten in die arabischen Nachbarstaaten geltend gemachte, über innerarabische Differenzen mit leichter Hand hinweggehende Ansicht kann, nähmen sie alle Menschen in Anspruch, die als ethnische oder religiöse Minderheit kein anderes Land haben, in dem sie als solche willkommen wären, nur verheerende Folgen haben. Separatistische Konflikte und ein allgemeiner Staatenzerfall wären an der Tagesordnung, wenn man ein ethnisch-religiöses Staatsrecht zur internationalen Norm erhöbe.

Auch das Argument, man müsse sich auf diese Weise gegen einen angeblich aggressiven palästinensischen Nationalismus schützen, kann nicht verfangen, da sich dieser zum einen in Reaktion auf die jüdische Okkupation Palästinas formierte und zum andern nicht von ausschließender Art ist. So war die säkulare Palästinensische Befreiungsbewegung (PLO) gegen einen Staat Israel gerichtet, der zu Lasten der Palästinenser geht, nicht jedoch gegen Juden als solche. Zumindest die sozialistischen Strömungen in der PLO optierten früher für einen gemeinsamen Staat, in dem alle Menschen ungeachtet ihrer religiösen und ethnischen Herkunft gleichberechtigt miteinander leben sollten.

Die Zweistaatenlösung ist ein Ergebnis zionistischer Politik, doch hat sie auf palästinensischer Seite nicht zu der Auffassung geführt, daß Juden keine Bürger eines souveränen Palästinas sein könnten. Zudem widerspricht der Exklusivitätsanspruch des jüdischen Staats dem ureigenen Anliegen jüdischer Menschen auf ein Leben frei von rassistischer Bedrohung, indem er ein diskriminierendes Staatsrecht in Anspruch nimmt und das emanzipatorische Prinzip egalitärer Demokratie verwirft.

Israel ist ein jüdischer Staat mit einer Minderheit nichtjüdischer Bürger. Es ist nicht der Staat seiner Bürger, sondern des jüdischen Volks, sei es in Israel oder in der Diaspora. Es gibt keine israelische Nationalität. Zwar wird gemeinhin behauptet, Israel sei nur in dem Sinne jüdisch, wie Großbritannien britisch ist, so daß jene, die vergeblich auf den Tatsachen beharren, dem jüdischen Nationalismus sein Recht absprechen. Aber das ist einfach falsch. Ein Bürger Großbritanniens ist Brite, aber ein Bürger Israels muß nicht jüdisch sein. Das ist eine alles andere als triviale Tatsache, die auch durch Rhetorik nicht überdeckt werden kann. Der grundlegende Widerspruch, der in der Idee eines demokratischen und jüdischen Staates liegt, tritt mit der zunehmenden Integration der besetzten Gebiete immer deutlicher zutage.
(Noam Chomsky: Offene Wunde Nahost, 1983/2003)

Letztendlich leistet das Insistieren der israelischen Regierung auf den jüdischen Charakter ihres Landes all denjenigen Vorschub, die als ultimative Lösung des Nahostkonflikts wieder auf das Konzept eines gemeinsamen Staates für Juden, Palästinenser und andere zurückgreifen. Je aussichtsloser eine Einigung über die Front der Konfliktparteien hinweg wird, desto attraktiver wird die Vorstellung, allen nationalistischen, fundamentalistischen und rassistischen Ballast zugunsten eines einzigen Staates über Bord zu werfen.

Das von Dierkes attestierte Recht der Palästinenser auf bewaffneten Widerstand mag von einigen Völkerrechtlern bestritten werden, ist jedoch für sich genommen kein Beleg für eine antisemitische Einstellung. Der Linkenpolitiker argumentiert aus einem antikolonialistischen Selbstverständnis heraus, das über unbestreitbare historische Legitimität verfügt, wie die Bürger all jener Länder bestätigen werden, die ihre nationale Unabhängigkeit in zum Teil sehr blutigen Befreiungskriegen gegen die europäischen Kolonialmächte erkämpfen mußten. Indem Weinthal diesen Punkt in Dierkes' Ausführungen in den Kontext seiner Bezichtigung als Antisemit stellt, setzt er implizit darauf, daß der durch die Besatzer als terroristisch gebrandmarkte palästinensische Widerstand Personen, die sich für dieses Recht aussprechen, als Unterstützer des Terrorismus erscheinen läßt.

Dierkes erklärt dazu in seiner Gegendarstellung zum FR-Gastkommentar Weinthals:

Ich vertrete - in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht - die Position, dass ein unterdrücktes und besetztes Volk das Recht auf Widerstand hat, notfalls auch auf bewaffneten Widerstand. Ich habe auf derselben Veranstaltung den wahllosen Einsatz von selbstgefertigten Raketen - so wörtlich - "durch den Islamischen Djihad oder von wem auch immer" auf israelische Zivilbevölkerung kritisiert, weil mit dem humanitären Völkerrecht unvereinbar. Und auch dann, wenn die Opferbilanz im Vergleich zu dem israelischen Massaker an der Zivilbevölkerung in Gaza in keinerlei Verhältnis steht.

Aus dem "Beweismaterial", das der JP-Korrespondent zur Bezichtigung des Linkenpolitikers heranzieht, geht nichts anderes als dies hervor. Die Wirksamkeit der palästinensischen Raketenangriffe wiederum braucht man nicht erst "herunterzuspielen", wie Weinthal Dierkes anlastet. Sie ist im Verhältnis zur Zahl der über die Jahre abgefeuerten Raketen tatsächlich gering. Der von israelischen Opfern, von denen jedes einzelne wie jeder in diesem Konflikt gestorbene Palästinenser ein Opfer zu viel ist, geleistete Blutzoll fungiert zudem als Anlaß für israelische Vergeltungangriffe, deren Wirkungsgrad wiederum recht hoch ist. Dierkes beklagt sich in dem Video vor allem über die Verlogenheit, die er darin sieht, daß die "Raketenabschüsse des Islamischen Dschihad oder wem auch immer" von der israelischen Seite als angeblich voraussetzungslose Anlässe für Strafaktionen in Anspruch genommen werden. Mit Schuld belastet wird stets das Konto der Palästinenser, wie die auch in der Bundesrepublik verbreitete Sprachregelung belegt, Israel habe sich mit dem Überfall auf Gaza lediglich verteidigen wollen.

Ein ganz anderes Licht auf diesen angeblichen Kriegsgrund wirft die Vorgeschichte des Überfalls auf Gaza. Der am 19. Juni 2008 unter Vermittlung Ägyptens ausgehandelte Waffenstillstand wurde seitens der Hamas in der Hoffnung auf eine Lockerung der Totalblockade des Gazastreifens geschlossen. Sie hatte dafür auch den Grund, daß die Legitimität ihrer Regierung durch die Wirtschaftsblockade stark in Frage gestellt wurde. So hielt die Hamas den Waffenstillstand ein, während andere militante Gruppen, die nicht unter der Kontrolle der Regierung in Gaza standen, nur sehr wenige Raketen abfeuerten. Die Zahl der monatlich aus Gaza abgefeuerten Raketen von durchschnittlich 179 vor dem Waffenstillstand sank auf monatlich drei Raketen nach seinem Inkraftreten. Dennoch kam es seitens Israels laut dem Hamas-Sprecher Ussama Hamdan während des Waffenstillstands von Juni bis Dezember 2008 zu 70 Übergriffen, bei denen 43 Palästinenser getötet wurden (Telepolis, 15.01.2009).

Am 4. November 2008 starben bei einem israelischen Überfall sechs Hamas-Funktionäre, zudem erlitten mehrere Personen Schußverletzungen. Dieser Angriff, dem weitere folgen sollten, wurde von mehreren bewaffneten Gruppen der Palästinenser als faktische Aufkündigung des Waffenstillstands seitens Israels verstanden. Dennoch versuchte die Hamas weiterhin, den am 19. Dezember 2008 auslaufenden Waffenstillstand unter Vermittlung Ägyptens zu erneuern. Da die ökonomische Not im Gazastreifen immer drängender wurde, die israelische Regierung aber keine Zusage machen wollte, die Wirtschaftsblockade bei Verlängerung des Waffenstillstands einzustellen, erklärten schließlich alle in Gaza aktiven Fraktionen der Palästinenser inklusive der Hamas, das Abkommen nicht zu erneuern. Hätte die israelische Regierung das Zugeständnis gemacht, die Versorgung der Bevölkerung Gazas deutlich zu verbessern, hätte kein Anlaß für die sogenannte Selbstverteidigung bestanden. Sie nahm ihren Lauf am 27. Dezember 2009 in Form eines dreiwöchigen Angriffs auf das hermetisch abgeriegelte Gebiet, dem dessen Bevölkerung schutzlos ausgeliefert war und vor dem sie sich nicht einmal durch Flucht retten konnte.

Wenn Weinthal insinuiert, Dierkes habe sich, indem er das Widerstandsrecht der Palästinenser bekräftigte, einseitig auf deren Seite gestellt und mörderische Aktionen legitimiert, dann wird damit eine exklusive Sichtweise kolportiert, die die gegen die Palästinenser ausgeübte Aggression negiert. Wenn über Kriegsschuld verhandelt und dabei von dem realen Gewaltverhältnis zwischen den Konfliktparteien fast vollständig abstrahiert wird, dann soll diese nicht mit friedlichem Ziel gemeinsam abgetragen, sondern zu Lasten der unterlegenen Seite maximiert werden.

Der wohl gewichtigste, weil den Antisemitismusverdacht am wirksamsten begründende Vorwurf der Verharmlosung des Holocaust durch Dierkes wird in dem JP-Artikel mit folgender Textpassage ausgeführt, die zur Vermeidung von Mißverständnissen bei der Übersetzung der fragmentarisch zusammengefügten Zitate im englischen Original belassen wird:

In his talk at the conference, Dierkes belittled the Holocaust and the so-called "special relationship" between Israel and Germany, an outgrowth of Germany's obliteration of European Jewry.

"Israel As Only The Refuge For The Survivors Of The Holocaust... The Survivors Are Dying. That Is The Most Dangerous Place For All The Jews In The World... The Entire Thing Is Dishonest," He Said.

According to Dierkes, Germany's 1941-1945 war against the Soviet Union involved a loss of 21 million Russians, and "where is the voice today that we should have a special relationship to the Soviet Union or to the successor states of the Soviet Union?"

Der Videomitschnitt seiner inkriminierten Aussagen belegt im größeren Kontext, daß der Linkenpolitiker konkrete Argumente anführt, die nicht auf eine Verharmlosung des Holocaust hinauslaufen, sondern sich gegen die Instrumentalisierung der Vernichtung der europäischen Juden für ganz andere Zwecke richten:

Ich finde es auch richtig, daß wir uns heute konzentrieren auf die Frage der Menschenrechte, daß wir sagen, sie sind universal. Und da kann sich keiner darüber erheben und sagen "Uns ist in der Vergangenheit Furchtbares passiert. Deswegen haben wir das Recht jetzt, die Palästinenser gewissermaßen zu entsorgen." Das ist doch das, was im Grunde da läuft. (Stimmengewirr)

Und daß auch praktisch die EU und - die USA sowieso - die deutsche Regierung immer wieder unterstützen, das muß uns gerade umtreiben. Warum wird so etwas offenkundig, was gegen die eigenen, immer wieder proklamierten Werte ganz krass verstößt, warum wird das akzeptiert? Warum wird dem gewissermaßen der Heiligenschein verpaßt? Und das soll uns in der Tat zu denken geben.

Das sind Experimentierfelder, die in anderen Situationen genauso in Europa eintreten könnten, in anderen Ländern, sieh dir heute den Irak an, sieh dir Afghanistan an und so weiter. Völkerrecht? Menschenrechte? Haben wir damit etwas zu tun? Weißt du, die werden wie eine Monstranz herumgetragen die ganze Zeit. Sie machen exakt das Gegenteil. So, und das man auch herausarbeitet und immer wieder zeigt, daß wenn eine deutsche Regierung solche Zustände rechtfertigt, materiell absichert durch Rüstungsbeziehungen und so weiter, was führen die da im Schilde?

Das kannst du doch nicht nur allein erklären aus der Vergangenheit des Völkermordes an den Juden. Genausogut könntest du doch die Frage stellen - ich sage es mal etwas ketzerisch - der Überfall Hitlers auf die Sowjetunion, der hat 21 Millionen Tote gekostet, den europäischen Teil der Sowjetunion fast ausgelöscht. Wo gibt es denn heute eine Stimme die sagt "Wir müssen ganz besondere Beziehungen haben zur Sowjetunion oder eine ganz besondere Beziehung heute zu den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, weil so ein furchtbares Unrecht, ein Massaker angerichtet worden ist." Kein Mensch. Ihr seht, wie verlogen die ganze Debatte ist. Vollständig verlogen.

Es geht um geostrategische Interessen. Es geht darum, Israel genau als diesen westlichen Vorposten dort, NATO-, EU-Vorposten und so weiter. Die Bourgeoisie in Tel Aviv, die fühlt sich eher als Teil der EU heute als als Teil des Mittleren Ostens. So. Und deswegen ist es auch so wichtig, auch darauf hinzuweisen, diese Mystifizierung zu zerstören: "Israel, das ist nur die Fluchtburg der Überlebenden des Holocaust und so weiter". Kaum noch. Das wird immer weniger. Die Leute, die sterben ja auch weg, für die Israel einmal Fluchtburg war. Es ist heute in Wahrheit, das schreibt ja auch Uri Avnery sehr schön, das ist der gefährlichste Platz für Juden in aller Welt heute. Der gefährlichste. Es ist nicht die sichere Fluchtburg, wie Herzl das prophezeit hat und so weiter.

Die unredigierte Abschrift des von Weinthal und Kramer in Anspruch genommenen "Belastungsmaterials" dokumentiert, daß Dierkes ein linker Politiker und Aktivist ist, der machtpolitische Winkelzüge hinterfragt und in einem herrschaftskritischen Sinn auf ihre innere Ratio hin untersucht. Derartige Fragen sind als wirksame Mittel der Aufklärung in einem von Verdächtigungen und Bezichtigungen vernebelten Feld konkreter Interessenpolitik bei den Herrschenden zweifellos unbeliebt. Sie mit dem Bannstrahl eines Gesinnungsverdachts zu treffen, der ursprünglich dazu gedacht war, die Urheber mörderischer Vernichtungspolitik und ihre Parteigänger zu markieren, bietet sich als probates Mittel einer Stigmatisierung an, die ihrem originären Zweck zuwiderläuft, indem Ausbeutung und Unterdrückung fortgeschrieben werden.

Uri Avnery ist nicht der einzige Intellektuelle Israels, der die Nutzung des Holocaust für Zwecke, die den aus dieser Katastrophe zu ziehenden Lehren zuwiderlaufen, beanstandet. Zu den jüdischen und israelischen Wissenschaftlern und Autoren, die den Versuch, den Genozid in den Dienst zionistischer Ziele zu stellen und Überlebende der deutschen Vernichtungslager auf die eine oder andere Weise für diesen Zweck einzuspannen, in Wort und Schrift kritisiert haben und kritisieren, zählen Hannah Arendt, Nachman Ben-Yehuda, Yael Zerubavel, Bruno Bettelheim, Judah Magnes, Martin Buber, Baruch Kimmerling, Moshe Zuckermann, Yosef Grodzinsky oder Idith Zertal, um nur einige zu nennen. Zu den Kritikern zählen Anhänger des zionistischen Projekts ebenso wie Antizionisten, werden doch vor allem die zwingende Verbindung zwischen dem einen und dem andern sowie daraus resultierende kontraproduktive Entwicklungen in Frage gestellt.

Wenn Kramer vom Zentralrat der Juden in Deutschland Dierkes im JP-Artikel als Gutmenschen bezeichnet, der sich der Menschenrechte lediglich bediene, um seinen unheiligen haßerfüllten Absichten frönen zu können, dann bleibt er den Beweis dafür schlicht schuldig. Das gleiche gilt für Kramers Behauptung, Dierkes akzeptiere mit der Verteidigung des Widerstandsrechts der Palästinenser die These, "daß israelische Juden allein deshalb mit Vernichtung gestraft werden sollten, weil sie existieren". Es handelt sich dabei um ein an sehr langen Haaren herbeigezogenes Konstrukt, mit dem versucht wird, das von der Hamas nach wie vor bestrittene Existenzrecht Israels in eins zu setzen mit der Legitimität antikolonialistischen Widerstands.

Der Vorwurf der Verharmlosung des Holocaust wird des weiteren mit Kramers Aussage belegt, daß der Versuch der Nazis, das ganze jüdische Volk auszulöschen, "in Dierkes' Augen offenbar nichts Besonderes" sei, so der Wortlaut in Weinthals Kommentar auf FR-Online.de. Im JP-Artikel wird Kramers Kritik an Dierkes mit den Worten wiedergegeben, der Genozid wäre "in the eyes of Dierkes, evidently not unique". Hätte Weinthal Kramers Aussage wörtlich ins Englische übersetzt, dann wäre "nothing special" wohl angebrachter gewesen als die Aussage "nicht einzigartig".

Kleine semantische Unterschiede wie dieser sind in Anbetracht der Empfindlichkeit des Themas nicht gering zu schätzen. So schwingt in "not unique" der Vorwurf mit, Dierkes wisse die Singularität des Holocaust nicht zu würdigen. Dieser Vorwurf hat in Anbetracht dessen, daß israelische Politiker im Zusammenhang mit echten oder vermeintlichen Feinden von der - angesichts der militärischen Stärke Israels und Schutzgarantien mächtiger Verbündeter weit übertriebenen - Gefahr eines zweiten Holocaust sprechen oder NS-Terminologie gegen den politischen Gegner ins Feld führen, deutlich an Relevanz eingebüßt.

Wenn Weinthal gegen den Duisburger Ortsverband der Partei Die Linke ausholt, indem er behauptet, er würde "allgemein als eine Hochburg hartgesottener antiisraelischer Ressentiments betrachtet" und hätte "bei den Protesten letztes Jahr eine Rolle dabei gespielt, Haß gegen Israel wegen seiner Operation Gegossenes Blei zur Abwehr von Raketenangriffen der Hamas zu schüren", dann wird die demagogische Wucht seines Artikels zwecks Steigerung der Wirksamkeit auch noch mit einer antikommunistischen Spitze versehen. Dafür hat der JP-Korrespondent allerdings guten Grund, hebt Dierkes in dem ihn angeblich belastenden Video doch den Klassencharakter der israelischen Gesellschaft hervor. Was einst mit sozialistischem Vorzeichen Vorbildcharakter für Linke in aller Welt hatte, ist zu einer kapitalistischen Gesellschaft mutiert, die sich einen immer größeren Anteil an verarmten und verelendeten Bürgern leistet. Dieses Problem in die Bewältigung des Nahostkonflikts einzubeziehen ist eine Forderung des Linkenpolitkers, die ihn aus den gleichen Gründen zum Feindbild qualifiziert, aus denen neoliberale Politiker wie Guido Westerwelle die Partei Die Linke angreifen.

Die gegen Hermann Dierkes gerichteten Bezichtigungen sind ein signifikantes Beispiel für die Praxis, bei der Verfolgung machtpolitischer Ziele mit ideologischen Verdächtigungen zu arbeiten, die die davon Betroffenen in den Augen der Öffentlichkeit unglaubwürdig und damit mundtot machen sollen. Wer auch immer sich dabei in die moralische Superposition begibt, hat alles andere als das Wohl von Menschen im Sinn, die aufgrund ihrer Schwäche in der politischen Auseinandersetzung unterliegen. Dies mit dem Mittel zu erreichen, der überlegenen Seite den Status des Opfers zuzuweisen und die von ihr Unterdrückten als eigentliche Aggressoren darzustellen kann nur gelingen, wenn man dies aus der Position der Stärke heraus tut. Wäre es anders, dann befänden sich die Palästinenser heute nicht in einer Lage, die nur als ohnmächtig beschrieben werden kann.

17. März 2010