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PROPAGANDA/1401: Die "neue deutsche Gelassenheit" ... Laissez faire für Eliten (SB)



Die "neue deutsche Gelassenheit", mit dem der angeblich unverkrampfte Umgang der Fußballfans mit der Nation gerne umschrieben wird, übersetzt sich ohne Umschweife in einen Laissez-faire-Liberalismus, dem Toleranz und Weltoffenheit Mittel zum Zweck einer ganz und gar nicht lockeren Verwertungslogik sind. Die innere Verteilungsordnung, die den Menschen abverlangt, den Lohn ihrer Arbeit Kriterien zu unterwerfen, die mit dem dabei produzierten Ergebnis fast nichts und mit den Gewinninteressen Dritter fast alles zu tun haben, entspricht einer äußeren Expansion, die die materielle Grundlage der eigenen Produktivität sichert, ohne die davon betroffenen Bevölkerungen auf eine Weise zu fragen, die sie als in ihrem Lebensanspruch gleichgestellt auszeichnete. So gibt sich der Fußballnationalismus betont multikulturell, als sei allein die Herkunft der Spieler ein Garant dafür, daß chauvinistische Suprematie keine Chance hat:

"Die neue deutsche Gelassenheit ist die neue deutsche Stärke. Nun zeigen 20-jährige Jungspunde, wie Integration funktioniert, wie ein Multikulti-Haufen für Begeisterung sorgt und sich als Einheit präsentiert. Elf von 23 Nationalspielern, die in Südafrika die deutschen Farben vertreten, haben einen Migrationshintergrund. Zusammen repräsentieren sie das neue Deutschland. Sami, Mesut und Miro sind den Bolzplätzen landauf, landab Helden."
(Rheinpfalz am Sonntag, 27.06.2010)

Zweifellos ist die demonstrative Einheit hochbezahlter Sportprofis, die schon aufgrund des jede unterstellte Nationalbindung dementierenden Spielertransfers keinen Grund haben, sich mit rassistischen Ressentiments auf die Füße zu treten, nicht repräsentativ für die Trennlinien, die gesellschaftlich nach wie vor zwischen migrantischer und einheimischer Bevölkerung gezogen werden. Diese sind vor allem sozial determiniert, maskieren sich Verteilungskämpfe bei anwachsender Armut doch vorzugweise mit ethnisch-religiösen Signaturen. So steht dem coolen, schon mit dem Thema Homosexualität und Fußball einer angstbesetzten Ausschlußlogik überführten Multikulturalismus auf dem grünen Rasen eine aggressive Islamophobie gegenüber, die in Deutschland in weit größerem Maße toleriert wird als der Antisemitismus, der bei der öffentlichen Debatte um rassistische Orientierungen stets viel Aufmerksamkeit erhält.

Die gegen Muslime aus dem Nahen und Mittleren Osten gerichteten Ausfälle eines Thilo Sarrazin hätten als in gleicher Form Juden betreffende Feindseligkeiten längst zu dessen Parteiausschluß und Rücktritt aus dem Bundesbankvorstand geführt. Nach einem Jahrzehnt Terrorkrieg hat sich das Bild der Muslime als einer fünften Kolonne sinistrer Mächte verfestigt und wird seit Beginn der Wirtschaftskrise auch noch mit negativer sozialer Stigmatisierung aufgeladen. Es liegen Welten zwischen dem Ansehen türkischstämmiger Nationalspieler und angeblich zu viele Kinder in die Welt setzenden Familien aus einem Kulturkreis, der von vornherein als potentiell feindselig verdächtigt wird. Wo Menschen migrantischer Herkunft in Deutschland ein Leben nach der ihnen eigenen Art führen wollen, ist es mit der "neuen deutschen Gelassenheit" nicht weit her. Dann wird von "Parallelgesellschaften" räsoniert, so wie man früher über jüdische Ghettos herzog, und den Frauen wird vorgeschrieben, wie sie sich zu kleiden haben, wenn sie in dieser Gesellschaft alle Rechte in Anspruch nehmen wollen.

Die "neue deutsche Stärke" kleidet sich bunt, weil die Schatten der Vergangenheit durch nichts besser gebannt werden könnten als durch die Mimikry der Multikulturalität. Das "neue Deutschland" mag sich noch so tolerant geben, es verfügt mit dem EU-Grenzregime über blutige Außengrenzen und führt in Afghanistan einen modernen Kolonialkrieg, in dem schwarz-rot-gold schwer bewaffnet daherkommt. Die national normalisierte Republik liefert Waffen in Spannungs- und Kriegsgebiete, die im Falle der Israel zur Verfügung gestellten, dort atomwaffenfähig gemachten U-Boote das Potential zur Massenvernichtung in sich tragen. Sie setzt eine Welthandelsordnung durch, die die Menschen in den Ländern des Südens zu unterbezahlten Rohstoffproduzenten und Zulieferern degradiert, während die Gewinne am Ende der Wertschöpfungskette in der EU bleiben.

Es bleibt dabei ... wenn von "Helden" die Rede ist, dann ist der "Heldentod" nicht weit entfernt. Für die Nation zu jubeln heißt sich einem größeren Ganzen zu überantworten, um ganz andere Ergebnisse zu legitimieren denn sportliche Erfolge. Gelassen ist, wer es sich leisten kann, weil die Freiheit des Kapitals mit der Freiheit ihres Eigners in eins fällt. Dort, wo Heulen und Zähneklappern die vorherrschende Grundverfassung der Menschen darstellt, nimmt die Nationalfahne schnell den Stellenwert einer Überlebensapologie an, die Fremde und Unproduktive, Parasiten und Terroristen zur Ursache der eigenen Misere erklärt. Wenn den Jubelarien über die neue Normalität Deutschlands die Mahnung angehängt wird, daß "wir" den Gürtel enger schnallen müssen, weil "wir" über unsere Verhältnisse gelebt hätten, dann erweist sich die Großzügigkeit des Laissez faire vollends als Versprechen auf eine Exklusivität, die denjenigen winkt, die als brave Insassen des kapitalistischen Staats geduldig auf den Lohn der guten Führung warten.

30. Juni 2010