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PROPAGANDA/1415: WikiLeaks-Informationsfreiheit unter der Regie bellizistischer Großmedien (SB)



Vier Tage nach Veröffentlichung der ersten Dokumente aus dem Bestand von über 250.000 Depeschen US-amerikanischer Diplomatenkorrespondenz durch die Webseite wikileaks.org stellt sich die Frage, was tatsächlich so explosiv an dieser angeblich sensationellen Enthüllung sein soll. Haben sie einen weltweit vernehmbaren Aufschrei über die selbstherrlichen Praktiken der Supermacht USA ausgelöst? Haben sie zum Rücktritt auch nur eines der in ihren negativen Charaktereigenschaften bloßgestellten Politiker geführt? Haben sie Regierungskrisen verursacht oder die internationale Handlungsfreiheit Washingtons eingeschränkt?

Nichts von alledem ist geschehen. Wenn die Bedeutung der bislang freigesetzten Informationen über das akademische Interesse an Geschichte und Praxis der Außenpolitik Washingtons hinausreichen sollte, dann bestenfalls im Sinne der Verstärkung vertrauter Feindbilder. Deren Produzenten halten nach wie vor die Zügel einer Meinungsmache in der Hand, an der auffällt, daß der Nutzen, den die US-amerikanische Außenpolitik aus diesem Coup zieht, den in Washington lauthals beklagten Schaden übersteigt.

Zu den negativ betroffenen Staaten zählen gerade diejenigen, die mit den USA nicht auf bestem Fuß stehen. Der Iran ist zweifellos am stärksten betroffen, hat US-Außenministerin Hillary Clinton ihre Klage über die unautorisierte Veröffentlichung von Dokumenten ihres Amtes doch mit der Aussage relativiert, WikiLeaks beweise, daß die Welt sich in der Sorge über einen nuklear bewaffneten Iran einig sei. Hinzu kommt die einer Depesche zu entnehmende Behauptung, daß Nordkorea dem Iran 19 Mittelstreckenraketen russischer Bauart geliefert habe, die mit Atomsprengköpfen bestückt werden und damit Ziele in einem Radius erreichen könnten, innerhalb dessen sich Berlin wie auch Moskau befinden. Für die Pläne zur Errichtung einer Europa angeblich gegen iranische Angriffe schützenden, tatsächlich aber die strategische Schlagkraft der NATO auf dem eurasischen Kontinent stärkenden Raketenabwehr könnte es keine willkommenere Unterstützung geben.

Auch in Islamabad kann man nicht gerade erfreut darüber sein, daß US-Diplomaten Pakistan als bündnispolitisch überaus wankelmütigen Kantonisten und vom Zusammenbruch bedrohten Staat betrachten, daß Washington versucht, das pakistanische Nukleararsenal unter Kontrolle zu bringen, und daß der saudische König Abdullah den pakistanischen Präsidenten Asif Ali Zardari als größtes Hindernis für den Fortschritt des Landes bezeichnet. Die einer Depesche zu entnehmende Erklärung des pakistanischen Ministerpräsidenten Yusuf Raza Gilani, seine Regierung toleriere die US-Drohnenangriffe auf sein Land, schaden seinem Ansehen in der eigenen Bevölkerung zweifellos.

Die Bereitschaft der Regierungen Saudi-Arabiens wie anderer arabischer Golfstaaten, zugunsten der USA und Israel einen militärischen Angriff auf den Iran gutzuheißen, stellt zwar keine explizite Neuigkeit dar, richtet als weltweit diskutierte Information jedoch einigen Schaden an deren Glaubwürdigkeit an. Schlagzeilen westlicher Zeitungen, die von der Genugtuung der israelischen Regierung über die Unterstützung künden, die ihr hinsichtlich der angeblichen Bedrohung Israels durch den Iran von arabischen Regierungen zuteil wird, sind dazu geeignet, deren ohnehin nur mit massiver Gewalt durchzusetzende Herrschaft weiter zu schwächen.

Die einer Depesche vom Oktober 2009 zu entnehmende Bestätigung der Meinung des israelischen Botschafters in der Türkei, Gabby Levy, durch US-Diplomaten, Premierminister Recep Tayyip Erdogan habe keine politischen Motive für seine negativen Ansichten über Israel, sondern sei schlicht ein Fundamentalist, der Juden aus religiösen Gründen hasse, gießt Öl in das Feuer des Verdachts, die iranfreundliche Politik der Regierung in Ankara sei Ergebnis einer islamistischen Agenda.

Die den Iran als Gefahr nicht für Israel, die USA und EU, sondern auch die arabische Welt exponierenden Depeschen bilden die Speerspitze einer mehrere Tage währenden publizistischen Phalanx. Fünf internationale Tageszeitungen und Nachrichtenmagazine, die das Konvolut an Diplomatenpost vorab erhielten, präsentieren anhand völlig undurchsichtiger Kriterien daraus sorgfältig extrahierte Inhalte. Das Quintett aus New York Times, The Guardian, Der Spiegel, Le Monde und El Pais erreicht auf Englisch, Deutsch, Französisch und Spanisch nicht nur so gut wie alle Vertreter der globalen Funktionseliten, sondern hat sich bei der Auswertung des Materials untereinander wie mit der US-Regierung abgesprochen.

So erklärt der Spiegel "in eigener Sache":

"In einigen Fällen trug die US-Regierung Bedenken vor, manche Einwände hat der SPIEGEL akzeptiert, andere nicht. In jedem Fall galt es, das Interesse der Öffentlichkeit abzuwägen gegenüber berechtigten Geheimhaltungs- und Sicherheitsinteressen der Staaten. Das hat der SPIEGEL getan." [1]

Die New York Times, die sich erklärtermaßen bei der Auswahl des zu veröffentlichenden Materials mit dem US-Außenministerium absprach, gab zum Beispiel der Forderung statt, den Text der Depesche, in der die Behauptung über die Lieferung atomwaffentauglicher Mittelstreckenraketen aus Nordkorea an den Iran aufgestellt wird, nicht abzudrucken. Damit wurde den Lesern zumindest bis zum heutigen Tag der direkte Vergleich des Originaltextes mit dessen Auslegung durch die führende US-Tageszeitung vorenthalten. Ohnehin war seitens WikiLeaks nicht vorgesehen, daß die New York Times, die vor wenigen Wochen eine Schmähkampagne gegen WikiLeaks-Gründer Julian Assange wie den vermuteten Urheber des Datenlecks, den US-Soldaten Bradley Manning, durchführte, das Rohmaterial zur Auswertung erhielt. Es wurde ihr unter Mißachtung der Vergabepraxis der Internetplattform, die diese Regierungsdokumente erst verfügbar gemacht hat, vom Guardian übermittelt. Das britische Blatt, das vergeblich um Diskretion über diesen Vorgang bat, erhielt dafür seitens der New York Times "Expertise und Überblick" in Sachen US-amerikanische Diplomatie, was immer das im konkreten Fall heißen mag [2].

WikiLeaks scheint hinter der publizistischen Front, an der die Diplomatenpost in wohlorchestrierter Zusammenarbeit durch fünf führende Blätter aus fünf führenden NATO-Staaten ausgelegt wird, nur sehr bedingten Einfluß auf die weltweite Meinungsbildung zu haben. Während die Flaggschiffe einflußreicher Verlagskonzerne Gegenstand und Richtung der Debatte durch ihre Auswahl- und Editionspraxis maßgeblich bestimmen, mußte WikiLeaks hinnehmen, ohne Vorankündigung auf Betreiben neokonservativer US-Politiker wie Senator Joe Lieberman von den Servern des US-amerikanischen IT-Unternehmens Amazon verbannt zu werden. Auf den in Schweden postierten Servern des Providers Bahnhof Internet AB, der an die Stelle Amazons trat, wurden bislang kaum mehr als 600 der über 250.000 Dokumente zugänglich gemacht.

So befindet sich der Antizensuraktivismus des seinerseits strafverfolgten Assanges und seiner Mitstreiter sicher in den Händen eines Medienkomplexes, dessen fünf Vertreter sich stets als zuverlässige Paladine transatlantischer Weltordnungspolitik erwiesen haben. Das gilt auch für die im Zusammenhang mit der US-amerikanischen Diplomatenpost entbrannte Berichterstattung. Während das breite Publikum mit einer Flut boulevardesker Charakterisierungen internationaler Spitzenpolitiker und Anekdoten über das Geschehen hinter den Kulissen der Schaufensterpolitik überspült wird, hält man es ansonsten mit eben den Karikaturen realer Machtpolitik auf Kurs, die schon vor dieser Enthüllung die Welt des durchschnittlichen nordamerikanischen und westeuropäischen Medienkonsumenten bevölkert haben.

Das Beispiel des Zerwürfnisses zwischen den arabischen Golfstaaten und dem Iran zeigt dies auf exemplarische Weise. Der Schulterschluß zwischen den arabischen Nachbarn des Iran und den USA respektive Israel wurde schon von der ehemaligen US-Außenministerin Condoleezza Rice als Lösung für die Probleme der US-Hegemonie am Persischen Golf vorangetrieben. Die Bush-Regierung berief sich damit auf die neokolonialistische Politik der USA auf der arabischen Halbinsel. Saudi-Arabien steht seit den 1930er Jahren unter Einfluß der US-Ölindustrie, die die kolonialistische Suprematie Britanniens in der Region beerbte. Deren durch die US-Diplomatie vertretenen Interessen waren konstitutiv für die moderne Staatenordnung der Region, wie etwa den Memoiren des ersten Präsidenten Israels, Chaim Weizmann, zu entnehmen ist: "Das Erschaffen der saudischen Entität war Britanniens erstes Projekt. Das zweite Projekt bestand darin, die zionistische Entität mittels dieser zu erschaffen." Einer der sachkundigsten Arabisten des letzten Jahrhunderts, der britische Kolonialbeamte Harry St. John Philby, schrieb in seinem 1957 erschienenen Buch "40 Years in the Wilderness":

"Eine der Grundlagen der Übereinkunft, die saudische Entität zu schaffen, bestand darin, daß die Politik Al Sauds auf dem Prinzip basieren sollte, daß weder König Abdul Aziz noch einer seiner Nachfolger auf irgendeine Weise gegen die britischen, amerikanischen und jüdischen Interessen in den Ländern intervenieren sollte, die von Britannien beherrscht werden oder, inklusive Palästina, unter seinem Mandat oder seiner Kontrolle stehen."

Die Sicherung der autokratischen Regime, die die arabischen Staaten seit den Tagen des europäischen Kolonialismus beherrschen, wird mit massiver Gewalt betrieben. So kann sich die saudische Monarchie, die zur Zeit ein Rüstungsabkommen in Höhe von 60 Milliarden Dollar mit der US-Regierung verhandelt, nur unter massivem Waffeneinsatz gegen die eigene Bevölkerung behaupten. Umfragen in arabischen Staaten ergeben regelmäßig, daß die große Mehrheit ihrer Bürger weder Interesse an einem Krieg mit dem Iran hat noch dessen Recht auf zivile Nutzung der Atomkraft in Frage stellt. Den westlichen Interventionsmächten hingegen stehen die Bevölkerungen der Region mehrheitlich ablehnend gegenüber, das gilt erst recht für eine Kriegsallianz zwischen ihren Ländern und Israel.

Das durch die selektive Auswertung der von WikiLeaks freigesetzten US-Diplomatenpost erneut hochgespielte Fantasma eines gemeinsamen Waffengangs der USA, Israels und einiger arabischer Golfanrainer stellt mithin die Fortsetzung eines imperialistischen Machtanspruchs dar, unter dem alle Menschen in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens zu leiden haben. Wenn derartige Ambitionen anhand von Dokumenten, die nicht zuletzt von Karrierediplomaten verfaßt wurden, die ähnlich wie Teile der westlichen Hauptstadtjournaille ihren Herren und Meistern nach dem Mund reden, als Legitimation aggressiver Hegemonialbestrebungen gefeiert werden, kann von einer Erschütterung der Glaubwürdigkeit US-amerikanischer Diplomatie nicht gerade gesprochen werden. Wer immer diese Lesart zu den WikiLeaks-Enthüllungen favorisiert, ist von dem Verdacht nicht freizusprechen, das Gegenteil dessen zu betreiben, was er zu meinen vorgibt.

Fußnoten:

[1] http://www.spiegel.de/thema/botschaftsberichte_2010/

[2] http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2010/11/29/AR2010112905421.html



2. Dezember 2010