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PROPAGANDA/1469: Hugo Chávez im Zerrspiegel retrospektiver Diskreditierung (SB)




Nach dem Tod des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez schickt sich eine Legion von Widersachern an, sein Lebenswerk in den Staub der Geschichte zu treten. Da es sich angesichts der unter seiner Führung erkämpften Errungenschaften von selbst verbietet, die tiefgreifende Veränderung der Gesellschaft Venezuelas und ihre weitreichende Ausstrahlung auf ganz Lateinamerika in Abrede zu stellen, bedient man sich vorerst relativierender Formeln und codierter Signale, um den postulierten Schlußstrich unter das Reformwerk auf die Tagesordnung zu setzen. US-Präsident Barack Obama sprach von einem neuen Kapitel, das nun für Venezuela beginne, während sich sein Land "weiter für eine Politik, die demokratische Prinzipien, Rechtsgrundsätze und den Respekt für Menschenrechte unterstützt", engagiere, als seien die USA deren strahlendes Leuchtfeuer. Desselben Winks mit dem Zaunpfahl bediente sich auch der deutsche Außenminister Guido Westerwelle, der nach dem "tiefen Einschnitt" für das südamerikanische Land darauf setzt, daß Venezuela "nach Tagen der Trauer den Aufbruch in eine neue Zeit schafft". Das Land habe "großes Potenzial, und Demokratie und Freiheit sind der richtige Weg, um dieses Potenzial zu verwirklichen", so Westerwelle. [1]

Daß die Ära Chávez gravierende negative Seiten gehabt habe, ist ein Bekenntnis, das auch der Deutschlandfunk seinen Interviewpartnern abverlangt. Der Doktrin folgend, daß jedes positive Urteil durch ein zwingend vorgeschriebenes "Aber" zu entwerten sei, drängt man die befragten Experten buchstäblich, nur ja nicht die obligatorische Kritik zu vergessen. Nachdem Professor Stefan Rinke vom Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin die Amtszeit von Hugo Chávez als Zeitenwende hervorgehoben und dem Verstorbenen hohe persönliche Integrität attestiert hat, versäumt er es nicht hinzuzufügen, daß er auf die negativen Seiten gleich noch zu sprechen komme. "Da müssen wir drüber sprechen!", kann Christiane Kaess vom Sender mit ihrer Zielvorgabe kaum noch an sich halten. Als Stein dann anhebt, die Errungenschaften aufzuzählen, fällt sie ihm mit dem Einwand ins Wort, Chávez habe auch gespalten. [2]

Damit ist ein entscheidendes Stichwort gefallen, das man in diesen Tagen und Wochen wohl noch tausendmal zu hören bekommen wird. Was immer Hugo Chávez geleistet haben mag, so habe er das Land doch polarisiert, legt man ihm die Parteinahme für die Ausgebeuteten und Unterdrückten als Sakrileg zu Last. Wie jede Klassengesellschaft ist auch die venezolanische gespalten, und es ist das Verdienst des verstorbenen Präsidenten, diese tiefe Kluft nicht geleugnet, sondern die Lebensverhältnisse vieler Millionen armer Menschen entscheidend verbessert zu haben. Damit hat er sich zwangsläufig den Haß all jener zugezogen, die von diesen Verhältnissen profitieren.

Chávez sei kein Integrationsfaktor gewesen, schwenkt auch Stein auf diesen Kurs ein. Er habe zuvor ausgegrenzte Schichten einbezogen, sich damit aber fast die Hälfte der Gesellschaft zu erklärten Gegnern gemacht. Daraufhin legt die Interviewerin mit der Frage nach, ob man Chávez auch als Demagogen bezeichnen könne, der mit Ölgeld andere Länder destabilisiert habe. Dieser Antiamerikanismus sei schon eine recht erratische Politik gewesen, die man kaum nachvollziehen könne, gibt sich der Lateinamerikaexperte naiv, als handle es sich bei den weit verbreiteten Ressentiments gegen die Hegemonialmacht um unausrottbare Vorurteile.

Wie man Hugo Chávez zu demontieren hat, weiß auch die ebenfalls interviewte Grünen-Politikerin Ingrid Hönlinger, Vorsitzende der deutsch-südamerikanischen Parlamentariergruppe. Auf die Frage Friedbert Meurers, ob der Verstorbene "ein Diktator oder eher ein Robin Hood für die Armen und Schwachen" gewesen sei, erklärt die Bundestagsabgeordnete kategorisch, für sie sei "die Bilanz von Chávez sehr gemischt". Sie habe bei der Reise nach Venezuela eine sehr starke Polarisierung in der Gesellschaft wahrgenommen. Auf Nachfrage Meurers, ob aus ihrer Sicht dennoch das Positive überwiege, das sie zuvor aufgezählt hat, zieht sich Hönlinger nachdrücklich auf "das Gemischte" zurück.

Als der Interviewer etwas später von ihr wissen will, ob die markante Spaltung der venezolanischen Gesellschaft eine zwischen Arm und Reich gewesen sei, mag sich die Grünen-Politikerin selbst dieser Festlegung nicht stellen. "Eher zwischen den Gesellschaftsschichten, die Angst haben, etwas zu verlieren, und denen, die etwas bekommen möchten, die ihre Lebenssituation verbessern möchten", windet sie sich um eine klare Identifizierung der Klassenverhältnisse herum. Im übrigen sei Chávez' Tod eine Chance für Lateinamerika, die Beziehungen zu den USA und zu Europa neu zu überdenken:

Für uns ist es auch eine Chance, das Wachstumspotenzial, das in Lateinamerika und auch in Venezuela herrscht, zu ergreifen. Die deutsche Wirtschaft ist ja schon da. Und als Grüne kann ich sagen, Venezuela hat enorme Ölvorkommen, aber auch die werden irgendwann zu Ende gehen, sodass im Bereich erneuerbare Energien sicher ein interessantes Wirtschaftspotenzial liegt. [3]

Nachdem die Grünen-Politikerin Chávez als nun nicht länger vorhandenen Störfaktor für deutsche Wirtschaftsinteressen ad acta gelegt hat, kann sie unverfänglich und unverbindlich den Linksruck in Lateinamerika als historisch bedingt adressieren. Er berge die Möglichkeit, "dieses Ungleichgewicht zwischen Menschen mit hohem Einkommen, hohem Vermögen einerseits und Menschen, die fast nichts zum Leben haben, zu überwinden." Solange Armut und Reichtum zu einem Ungleichgewicht umgedeutet werden, das sich per Ausgleich auspendeln läßt, bedarf es keiner Heißsporne wie Chávez, die den Kampf an der Seite der Armen als einen gegen die Reichen begreifen.

Dem Deutschlandfunk sei abschließend zugute gehalten, daß er um der Meinungsvielfalt willen auch den Politologen Heinz Dieterich zu Wort kommen läßt, der als renommierter Kenner Lateinamerikas gilt und zeitweise informeller Berater des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez war. Glücklicherweise sei es Chávez gelungen, eine funktionierende institutionelle Demokratie zu schaffen, so daß die ökonomische Entwicklung in naher Zukunft fortgesetzt werden könne und keine "größeren chaotischen Umtriebe" zu erwarten seien, so Dieterich. Sein Tod reiße zweifellos eine große Lücke im lateinamerikanischen Vereinigungsstreben, dessen Architekt er praktisch gewesen sei. Bedeutenden Führern falle es bekanntlich oftmals schwer, geeignete Nachfolger zu finden, doch habe er mit Nicolas Maduro wohl den bestmöglichen Kandidaten gewählt.

Hugo Chávez sei ein Humanist gewesen, was nicht zwangsläufig in Widerspruch zu seiner Zugehörigkeit zum Militär stehe. Er habe das große Ziel verfolgt, die Situation der Bevölkerung zu verändern und Lateinamerika zu vereinigen und unabhängig zu machen. Weil er das auf friedliche und institutionelle Weise vollzogen habe, werde er in der Bevölkerung nicht nur in Venezuela, sondern im Grunde in ganz Lateinamerika heute hoch geehrt.

Wir haben uns als Freunde definiert und konnten daher offen miteinander sprechen und ich hatte meine Freiheit, als Freund ihm zu sagen, was ich für falsch halte und was ich für richtig halte. Und er hat mich immer mit Respekt behandelt, sowohl öffentlich als auch in den internen Versammlungen der Gouverneure in Venezuela (...), so dass ich nur mit Hochachtung von ihm sprechen kann. Er war respektvoll mir gegenüber, er war solidarisch und war ein außerordentlich guter Zuhörer, ein sehr intelligenter Aufnehmer neuer Informationen (...). Er war schon eine außergewöhnliche Persönlichkeit. [4]

Fußnoten:

[1] http://www.zeit.de/politik/ausland/2013-03/internationale-reaktionen-tod-chavez

[2] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/2031528/

[3] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/2031758/

[4] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/2031320/

6. März 2013