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RAUB/0905: Sozialknast Britannien ... Big Brother-Show als Gesellschaftsmodell (SB)



In Britannien entwickelt sich die sogenannte Unterklasse immer mehr zu einem Soziallabor, das einen Einblick in künftige Formen der Menschenverwaltung bietet. Die Zwangslagen der kapitalistischen Vergesellschaftung werden, völlig losgelöst von ihrer sozialökonomischen Genese, auf ausschließlich symptomatische Weise einer sozialtechnokratischen Regulation unterworfen, die an das Wort des ehemaligen US-Präsident Bill Clinton erinnert, daß es keine "underclass", sondern nur eine "outerclass" gebe. Die Leugnung des Klassenantagonismus schlägt unmittelbar in die organisierte Ausgrenzung als gesellschaftlich inakzeptabel stigmatisierter Delinquenten um. Anstatt das Problem der Verarmung auf solidarische und egalitäre Weise anzugehen, erweist sich Sozialarbeit im neoliberalen Kapitalismus zusehends als Methode gewaltsamer Intervention. Gemäß der in allen Bereichen sozialer Regulation vorherrschenden Präventionsdoktrin wird im Vorfeld strafbarer Handlungen mit Überwachungs- und Zwangsmaßnahmen gearbeitet, die fernab jeder emanzipatorischen Möglichkeit Unterwerfung unter die herrschende Norm der Verfügbarkeit durchsetzen sollen.

Schon vor zwei Jahren hat die britische Regierung damit begonnen, sogenannte Problemfamilien, in den Medien auch als "families in hell" stigmatisiert, in besonderen Häusern unter 24stündige Aufsicht von Sozialarbeitern zu stellen. Das ihnen angelastete "antisoziale Verhalten" betrifft Auffälligkeiten wie etwa ruhestörenden Lärm, Vernachlässigung der Kinder, vermüllte Wohnungen, Alkoholismus, häufiger Streit mit den Nachbarn, Jugendkriminalität. Erzwungen werden diese Maßnahmen, indem die Sozialbehörden die Betroffenen vor die Wahl stellen, sich entweder in staatliche Erziehungsobhut zu begeben oder ihren Anspruch auf Sozialwohnungen zu verlieren und mit ASBO-Auflagen belegt zu werden. Da die Nichteinhaltung der mit den Antisocial Behaviour Orders individuell verhängten Maßregelungen eine Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren nach sich ziehen kann, ohne daß die Betroffenen dafür einen strafrechtlich verfolgbaren Rechtsbruch begangen haben müssen, da die Behörden den Problemfamilien zudem das Sorgerecht für ihre Kinder entziehen können, wird die Unterwerfung unter diese Form administrativer Sozialkontrolle mit massiver Nötigung durchgesetzt.

Die bislang rund 2000 in "intensive care sin bins" - das aus dem Begriff für medizinische Intensivpflege und für im Sport übliche Disziplinarstrafen zusammengesetzte Beispiel für Orwellschen Neusprech läßt sich kaum anders als mit "Intensivpflegestrafecken" übersetzen - eingewiesenen Familien unterliegen nicht nur permanenter Aufsicht, sondern auch möglichen Einschränkungen wie der Auflage, zu später Zeit keine Gäste zu empfangen oder nach einer Sperrstunde das Haus nicht mehr verlassen zu dürfen. Nun soll diese Maßnahme, die direkt an die rigide Denkweise des utilitaristischen Sozialphilosophen Jeremy Bentham, der im 19. Jahrhundert unter anderem für die menschenfeindliche Einrichtung sogenannter Arbeitshäuser verantwortlich zeichnete, anknüpft, auf das Zehnfache des bisherigen Vollzugs ausgedehnt werden.

Erziehungsminister Ed Balls will laut einer Meldung der Tageszeitung Daily Express (23.07.2009) in den nächsten zwei Jahren bis zu 20.000 sogenannte Problemfamilien in ihren eigenen Wohnungen unter permanente Videoüberwachung stellen, um zu gewährleisten, daß alles seine Ordnung hat. Private Sicherheitsfirmen sollen damit beauftragt werden, zusätzlich zu dieser Maßnahme regelmäßige Kontrollbesuche durchzuführen, so daß bei den Betroffenen nicht etwa der Eindruck entsteht, die Anwesenheit anonymer Beobachter könnte folgenlos bleiben. Die von dem Minister als "nicht verhandelbare Unterstützung" ausgewiesene Maßnahme soll auf kommunaler Ebene durchgeführt und mit einem Finanzrahmen von 400 Millionen Pfund ausgestattet werden.

Von einer sozial fortschrittlichen Familienpolitik wäre zu erwarten, daß Beratung unaufdringlich in Kombination mit ökonomischer Unterstützung angeboten und nicht mehr oder minder gewaltsam aufoktroyiert wird. Alles andere erzeugt Untertanen, die nach unten treten, weil sie nach oben nicht aufbegehren. Der soziale Niedergang Britanniens, der sich insbesondere durch eine zunehmende Brutalisierung der Jugend auszeichnet, findet nicht umsonst in einer Gesellschaft statt, in der nichts wichtiger ist als zu den Gewinnern zu gehören. Während dies immer weniger Menschen von sich behaupten können, wächst die Feindseligkeit gegenüber allen, in denen das eigene Elend Urständ feiert. Wer durch den Rost fällt, der soll durch besondere Härte zusätzlich bestraft werden, ist nicht nur die Ansicht der Herrschenden, sondern auch vieler Bürger, die meinen, auf diese Weise den kleinen Unterschied zu den Ausgestoßenen wahren zu können.

Sogenannte Problemfamilien entstehen nicht aus sich heraus, sondern sind Produkt ihrer Umgebung. Das gilt um so mehr, als die Verteidigung des erlangten Sozialstatus in Adaption herrschender Moral auf der Unterstellung basiert, die jeweilige gesellschaftliche Stellung sei Ergebnis eigener Bemühungen. Die neokonservative Gesellschaftsdoktrin hat gerade unter Briten, deren liberales Selbstverständnis zur Übernahme sozialchauvinistischer Ideologien geradezu einlädt, ganze Arbeit geleistet. Es wäre verfehlt, den Gesellschaftsingenieuren New Labours zugutezuhalten, ihre Maßnahmen entsprängen einem sozialen Notstand, der nicht anders zu bewältigen wäre. Gerade ihnen ist zu verdanken, daß in Britannien ein breiter Konsens über die Durchsetzung disziplinatorischer Maßnahmen herrscht, mit denen das Gewaltverhältnis der kapitalistischen Verwertung eins zu eins auf bürgerliche Lebensformen übersetzt wird. So ist die Ankündigung der permanenten Kameraüberwachung ganzer Familien, in der Big Brother auf doppelte Weise wahr wird, keineswegs auf Proteste in der britischen Bevölkerung gestoßen, obwohl sie allen Grund hätte, darin den Beginn der endgültigen Verwirklichung des Orwellschen Panoptikums zu erkennen. Angesichts des wachsenden Ausmaßes sozialer Verelendung in der ganzen EU dürften sich dieses wie andere der in Britannien vorexerzierten Konzepte der Sozialkontrolle auch auf dem Kontinent wachsender Zustimmung erfreuen.

3. August 2009