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RAUB/0915: Bauern verarmen, Millionen hungern ... EU liberalisiert Landwirtschaft (SB)



Es wird zu viel Milch produziert, so die lapidare Erklärung zum Problem verfallender Erzeugerpreise. "Zu viel" ist eine relative Aussage, die in Bezug auf ihren Verbrauch in der EU stimmen mag, die jedoch im Verhältnis zum Welthunger zynisch ist. Milch ist ein essentielles Lebensmittel, von dem es nur dann zu viel geben kann, wenn alle Menschen, die sich mit ihr ernähren wollen, die Möglichkeit dazu haben. Dieser Prämisse steht die von der EU angestrebte marktwirtschaftliche Liberalisierung der Milcherzeugung in ausschließender Weise gegenüber. Die Erzeugung von Milch soll an einer Nachfrage ausgerichtet werden, die nicht etwa vom realen Bedarf, sondern von der Bezahlbarkeit durch die Verbraucher bestimmt werden soll.

Der damit eingeschlagene Weg zielt auf die Verknappung des Produkts und die Konzentration der Produktion. Gleichzeitig setzt die Aufhebung von Subventionen und Kontingentierungen im kapitalistischen Weltsystem Länder von höchst unterschiedlicher Produktivität einer Angleichung des Preises auf Weltmarktniveau aus, die die Bauern in den reichen Ländern in den Ruin treibt und die Verbraucher in den armen Ländern mit Preissteigerungen konfrontiert, die sie noch unausweichlicher dem Hunger aussetzen. Um die Konkurrenzfähigkeit europäischer Erzeuger auf dem Weltmarkt zu gewährleisten, soll die Milcherzeugung auf agroindustrielle Weise rationalisiert und das Geschäft in die Hände von Großinvestoren und Großkonzernen gelegt werden.

Das für die handelstechnische Liberalisierung von Agrarerzeugnissen angeführte Argument, auf diese Weise würden Erzeuger in den Ländern des Südens nicht länger durch hochsubventionierte Lebensmittel aus den Industriestaaten verdrängt, trifft zwar zu. Es gibt jedoch keinen Grund zu der Annahme, daß sie nach einer Verbesserung ihrer Lage vor dem Zugriff kapitalstarker Investoren geschützt wären. Das zeigt etwa der Kauf großer Landwirtschaftsflächen durch Staatsfonds oder Agrokonzerne in den Ländern des Südens, bei dem selbständige Bauern in unterbezahlte Landarbeiter verwandelt werden.

Die globale Angleichung der Investitions- und Verwertungsbedingungen über die Grenzen unterschiedlicher Produktivitätsniveaus hinweg hat den Zweck, dem Kapital, dem es gleichgültig ist, womit es sich verwertet, neue Expansionszonen zu erschließen. Die Jagd nach den geringsten Lohnkosten und günstigsten Standortbedingungen betrifft nicht nur die industrielle Warenproduktion, sondern alle Bereiche, in denen menschliche Arbeit die Grundlage der Wertschöpfung bildet. Wo die Tanks europäischer Limousinen oder die Mägen hiesigen Schlachtviehs mit Agrarerzeugnissen gefüllt werden, die in den Ländern, in denen sie angebaut werden, auf dem Tisch der dort lebenden Menschen fehlen, kann keine noch so komplexe Rechtfertigung darüber hinwegtäuschen, daß es sich um ein ökonomisches Gewaltverhältnis handelt.

Die neoliberale Doktrin einer über den Preis geregelten Nahrungsmittelproduktion ist das Antidot zu einer Ernährungssouveränität, die die Stärkung kleinbäuerlicher Betriebe und lokaler wie regionaler Vertriebsstrukturen bei Aufrechterhaltung von Zollschranken voraussetzt, die Preise garantieren, die auf das Produktivitätsniveau der jeweiligen Volkswirtschaften bezogen sind. Die Arbeit der Bauern in den Ländern des Südens wird vor allem dadurch geschützt, daß das Primat, vor jeder Exportorientierung die Ernährung der eigenen Bevölkerung sicherzustellen, unter allen Umständen durchgesetzt wird. Das erfordert die radikale Entschuldung durch die Weltfinanzinstitutionen, die diese Länder in Schuldknechtschaft halten, um kapitalstarken Akteuren gute Investitionsbedingungen zu garantieren. Es erfordert eine Bodenreform, bei der dieser primäre Produktionsfaktor in die Hände derjenigen gelegt wird, die ihn im Sinne der Ernährungssouveränität ihrer Bevölkerung bearbeiten.

Um das aktuelle Problem des Preisverfalls bei der Milch zu beheben, könnte die EU die sogenannte Überproduktion aufkaufen und zumindest einigen der eine Milliarde Hungernden als Nothilfe zur Verfügung stellen. Die Süddeutsche Zeitung (05.10.2009), die die Verzögerung des EU-Reformvertrags durch den tschechischen Präsidenten Vaclav Klaus als "undemokratisch" bezeichnet, als ob die Durchsetzung der marktwirtschaftlichen Neuordung der Union demokratisch verlaufen wäre, rühmt die dem vorangehende "Grundentscheidung", laut der Europa "politisch weiter zusammenwachsen" will, damit es "seine versammelte Stärke in die Welt projizieren" kann. Wie wäre es, diese Stärke einmal nicht anhand der Zahl der in ferne Länder entsendeten Truppen oder der Rekorde beim Rüstungsexport zu demonstrieren, sondern durch die tätige Linderung des Hungers bei gleichzeitiger Unterstützung europäischer Bauern, die nach marktwirtschaftlichen Regeln ausgebeutet werden wie das frühkapitalistische Industrieproletariat?

Die weitere Liberalisierung der Nahrungsmittelproduktion hat mit Befreiung nichts zu tun, ganz im Gegenteil. Indem man die Interessen der Kapitaleigner bedient, werden die Menschen, die mit ihrer Hände Arbeit dafür sorgen, daß erschwingliche Lebensmittel auf den Tisch kommen, von ihren Höfen vertrieben und in die Erwerbslosigkeit verbannt. Die agroindustrielle Konzentration der Landwirtschaft ist nicht nur ökologisch kontraproduktiv, sie vernichtet in einer Zeit, in der alle Welt darüber nachdenkt, wie sich unter den Bedingungen realer volkswirtschaftlicher Verluste Erwerbsarbeit organisieren läßt, Arbeitsplätze in großem Stil.

Die kapitalistische Produktivkraftentwicklung sollte niemals eine Gesellschaft verwirklichen, in der die zu ihrer Reproduktion erforderliche Arbeit nur einen Bruchteil des Tages in Anspruch nimmt, so daß sich der Mensch den Dingen widmen kann, die ihn wirklich interessieren. Sie treibt den Menschen in ökonomische Abhängigkeiten, indem sie ihn der Möglichkeit beraubt, sein Leben durch selbstbestimmte Arbeit zu bestreiten, um ihn statt dessen im Interesse der Eigentümer und Herrschenden nach Belieben zu jeder fremdbestimmten Lohnarbeit erpressen zu können.

Dies zeigt auch die Vernichtung kleinbäuerlicher Strukturen, in denen die Menschen zumindest die Möglichkeit hatten, wenn sie schon nicht viel verdienten, dann doch zumindest nicht zu verhungern. Der Aufbau einer naturnahen und tierfreundlichen Nutzung knapper Ressourcen des Landes, des Wassers und der Energie, die auch in den Industriestaaten sehr viel mehr Menschen ein Auskommen böte als unter heutigen Bedingungen, ist bei einer Nahrungsmittelproduktion, die zusehends unter Kontrolle der Saatgut- und Düngerproduzenten, der Lebensmittelindustrie und Handelsunternehmen gerät, nicht möglich. Der Umstand, daß die Erzeuger der Nahrung unter einem Preisdruck stehen, der ihren angemessenen Verdienst zunichte macht, während Millionen potentielle Verbraucher hungern, sollte schon die Frage aufwerfen, ob es nicht einer grundlegenden Veränderung der kapitalistischen Verwertungsstruktur bedarf.

5. Oktober 2009