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RAUB/0941: Die Frage nach der Arbeit stellen, das Verwertungsdiktat überwinden ... (SB)



Wenn Journalisten, Politiker und Sozialwissenschaftler über Langzeitarbeitslose und Hartz IV-Empfänger debattieren, dann nähern sie sich ihrem Gegenstand nicht nur rhetorisch von oben. Mit dem, was "unten" ist, will man ausschließlich aus der Distanz des selbst nicht dazugehörigen und betroffenen Beobachters befaßt sein. Und so kommen selbst Experten, die die Notwendigkeit einer Besserstellung der Betroffenen anerkennen, nicht umhin, Klischees und Stereotypien zu produzieren, mit denen die Verallgemeinerung der sozial unterprivilegierten Bundesbürger zu einer delinquenten Masse sozialchauvinistische Triumphe feiert.

In einem sogenannten Expertengespräch auf NDR Info (17.02.2010) wurde nicht nur ein- oder zweimal, sondern immer wieder das Bild des vor dem Fernseher versauernden Leistungsempfängers bemüht. Wie Menschen, die ihr Überleben nur unter Inanspruchnahme des Arbeitslosengeldes II bestreiten können, ihr Dasein tatsächlich organisieren, was sie alles anstellen könnten, um aus der Not eine Tugend zu machen, interessiert nicht. Darüber Aufschluß zu erlangen ist kontraindiziert, denn es könnte die so bequeme Welt des Oben und Unten, die probaten Mittel und willfährigen Antworten, mit denn die Funktionseliten ihren Erwerb bestreiten, im Kern erschüttern.

Allein die von professionellen Sozialneidschürern erhobene Unterstellung, daß Fernsehgucken als den Tag füllende Beschäftigung in etwas anderem resultiert als erstickender Ohnmacht, dokumentiert das Ausmaß der Verkennung, mit dem nicht nur der vom Geifer der Blockwarte erfüllte Boulevard, sondern auch das durch vornehme Distanziertheit geadelte Feuilleton es vorziehen, die unmittelbare Berührung mit sozialen Widerspruchslagen zu vermeiden. Das mit dem Schmähwort vom "Unterschichtenfernsehen" überschriebene Unterhaltungsprogramm ist nicht das Produkt derjenigen, die sich angeblich an ihm erfreuen. Es wird von Medienprofis produziert, denen das zynische Verhältnis, das zu verachten, was den Stempel ihrer Schaffenskraft trägt, zur zweiten Natur geworden ist. Sie verdienen ihr Geld mit einer kulturindustriellen Zumutung, dazu gedacht, die Menschen für dumm zu verkaufen, um ihnen anlasten zu können, daß sie dumm sind.

So wenig, wie die Ambivalenz aus telemedialer Ruhigstellung und soziokulturellem Niedergang von den Betreibern der Medienmaschinerie reflektiert wird, so wenig wird über das Verhältnis von entfremdeter Arbeit und dem Streben nach Erfüllung durch diese nachgedacht. Dabei wird die von Sozialingenieuren propagierte Sinnstiftung durch Arbeit, deren Fehlen Erwerbslose verzweifelt zur Flasche greifen läßt, aus der gleichen reaktionären Quelle gespeist wie das Blendwerk der Unterhaltungsindustrie. Wieso sollte der Mensch nicht, wie der liberale Gründerethos so gerne predigt, aus eigenen Kräften seines Glückes Schmied werden, indem er selbstbestimmte Formen der Arbeit entwickelt, für die kein Herr und kein Sklave benötigt wird? Eben weil er, wie die neoliberale Freiheitsdemagogie tönt, nur unter dem Druck des marktförmig organisierten Wettbewerbs, sprich der ungeschönten Überlebenskonkurrenz, in der Lage sein soll, seine Produktivkräfte zu mobilisieren.

Der sozialfaschistische Charakter der neokonservativen Anthropologie besteht nicht in der Erkenntnis, daß der Mensch als räuberisches Wesen geboren wird, sondern darin, ihn auf diesen Naturzwang festzulegen und die angebliche Unmöglichkeit solidarischen Handelns zu einem zivilisatorischen Paradigma zu erheben. Nichts anderes meinten die Nazis, wenn sie am Eingang des Konzentrations-, Arbeits- und Vernichtungslagers Auschwitz die Parole "Arbeit macht frei" ausgaben. Wer als Jude oder Sinti und Roma gegen den Arbeitsethos der völkischen Notgemeinschaft verstieß, weil er das Volk, wie die NS-Propaganda suggerierte, aussaugte, hatte sein Lebensrecht verwirkt. Der ethnische Rassismus der NS-Ideologie fußte ebenso auf dem kapitalistischen Arbeitsbegriff, als es der soziobiologische Rassismus neokonservativer Genese tut.

Indem Erwerbslosen eine von Rausch und Indolenz geprägte Lebensführung unterstellt wird, nimmt man ihnen gezielt die Möglichkeit, sich durch Formen selbstbestimmter, nicht an Erwerbseinkommen gebundener Arbeit davon zu emanzipieren, ein von Zwang und Verlust bestimmtes Leben zu führen. Es ist keine neue Erkenntnis, daß die Erwirtschaftung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts durch die technologische Produktivkraftentwicklung das Gros der Bevölkerungen hochindustrialisierter Länder für die Erwerbsarbeit entbehrlich macht. Anstatt sie dennoch unter die Knute der Lohnarbeit zu zwingen und diese ihrer abnehmenden Rentabilität gemäß in archaische Formen der Ausbeutung zu treiben stände es demokratischen Gesellschaften, die behaupten, humanistische Ideale zu verfolgen, gut zu Gesicht, über Möglichkeiten nachzudenken, wie man den Menschen davon befreien kann, als bloße Funktion kapitalistischer Verwertung zu einem Werkstoff wie jeder andere auch degradiert zu werden.

Da jeder Gedanke, der in diese Richtung weist, erbittert bekämpft wird, bleibt die Schlußfolgerung, daß die gesellschaftliche Reichtumsproduktion niemals dazu gedacht war, alle Menschen in den Stand zu versetzen, ein freies und selbstbestimmtes Leben zu führen. Es geht statt dessen darum, sie in Sklaven einer kannibalistischen, die von ihr angeblich Begünstigten selbst verzehrende Wachstumsdoktrin zu verwandeln, die programmatisch Krisen erzeugt, um Ausbeutung und Unterdrückung als Naturnotwendigkeit fortschreiben zu können. Die Arbeitsgesellschaft, die es nicht zulassen will, daß es ein Leben außerhalb des Verwertungszwangs gibt, propagiert Arbeit mithin in erster Linie als Mittel der Herrschaftsicherung. Die unter dem Hartz IV-Regime eingeführten Ein-Euro-Jobs sind manifester Beleg für das Diktat des Zwangs, unter das sich der Mensch zu stellen hat, wenn er nicht verhungern will, auch wenn seiner Hände Arbeit in keiner Weise dazu beiträgt, daß Brot auf den Tisch kommt.

Es ist denn auch kein Zufall, daß der im Raum stehende, von Volkstribunen wie Guido Westerwelle geschürte Vorwurf, Langzeitarbeitslose wären zumindest zu einem gewissen Teil schlicht faul und pflegten ein parasitäres Dasein zu Lasten hart arbeitender Menschen, selbst bei den Betroffenen verfängt. Gegen diesen Sozialrassismus versagt auch das Kraut des Einwands, die von ihrer Kapitalrente lebenden Menschen wären die eigentlichen Leistungsverweigerer. Der zentrale Vorwurf, Erwerbslose drückten sich vor ihrer gesellschaftlichen Pflicht, bleibt so lange wirksam, als Arbeit nur dann als solche firmiert, wenn sie als einer von mehreren Produktionsfaktoren Tauschwert besitzt.

Die Frage nach Sinn und Zweck der Arbeit, nach ihrem Warencharakter und den Folgen, die die daraus resultierende Entfremdung für den Menschen hat, nach dem Verhältnis, in dem die nationale Volkswirtschaft zur internationalen Arbeitsteilung steht und durch das der eigene Wohlstand auf dem Rücken millionenfacher Armut erwirtschaftet wird, also nach Macht und Herrschaft im Kapitalismus, soll keinesfalls aufgeworfen werden. Sie zu stellen ist Aufgabe einer Linken, die sich nicht damit zufrieden gibt, sich mit den Herrschenden zu arrangieren und darüber zu ihrem Wasserträger zu werden.

18. Februar 2010