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RAUB/0954: Sarrazins Sozialrassismus ... Haßprediger in Nadelstreifen (SB)



Nicht die Ansichten des Bundesbankers Thilo Sarrazin sind erschreckend, sondern die Akzeptanz, ja Zustimmung, die er mit ihnen erzielt. Seine jüngste Eskapade leistete er sich nicht zufällig auf einer Tagung von Unternehmerverbänden. Wo das Interesse an so kostengünstiger wie leistungsintensiver Lohnarbeit dominiert, ist man empfänglich für Botschaften, die vermeintlich erklären, worin die Defizite dieser Ware liegen. Dabei ist man insbesondere für die biologistische und sozialeugenische Weltsicht des SPD-Politikers empfänglich, enthebt diese doch das besserverdienende Publikum davon, über den eigenen Anteil an den Problemen anderer Menschen nachzudenken.

Sarrazin meint mit seiner Behauptung, "wir werden auf natürlichem Wege durchschnittlich dümmer", nicht etwa altersbedingte Abbauprozesse oder Erkrankungen wie Altersdemenz. Es sind einmal mehr Migranten "aus der Türkei, dem Nahen und Mittleren Osten und Afrika", die uns den Schnitt versauen, weil sie angeblich einen geringeren Bildungsstand aufweisen als Zuwanderer aus anderen Ländern, sprich industriell hochproduktiven Staaten mit weißer Mehrheitsbevölkerung oder zumindest westlich orientierter technischer Intelligenz. Sarrazin wetzt die immer gleiche Scharte einer qualitativen Demografie, deren erbbiologischer Grundtenor sich in nichts von der hereditären Sozialeugenik unterscheidet, mit der die Nazis die Ermordung von Behinderten begründeten und in anderen westlichen Ländern zu massenhafter Sterilisierung angeblich minderwertigen Lebens führte.

Sarrazins Behauptung, die höhere Geburtenrate von Einwanderern führe zu einer "unterschiedlichen Vermehrung von Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlicher Intelligenz", da diese mit einem Erbanteil von fast 80 Prozent von Eltern an Kinder weitergegeben werde, wäre auch rassistisch, wenn sie zu einem gegenteiligen Ergebnis gelangte. Die zwei Gruppen "Migranten" und "Deutsche" gegenüberzustellen, um sie im Erbgut verankerten Kriterien ihrer Verwertbarkeit zu unterwerfen, zeugt von einer tiefsitzenden Aversion gegen Menschen, die nicht der eigenen Kultur entstammen und daher nicht zu einer Gesellschaft gehören sollen, die ihr Selbstverständnis, so fern es die neokonservative Reaktion betrifft, schlicht aus projektiver misanthropischer Verachtung schöpft.

Wer bei andern Verdummung feststellt, muß sich für besonders schlau halten ... eine von Selbstwertproblemen bestimmte Reflexion, die auf Defizite bei denjenigen schließen läßt, die andere zum Objekt ihrer Bewertung und Verurteilung machen. Sarrazins Versuch, eine heterogene Gruppe von Menschen, die aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit als Einheimische, Bundesbürger, Deutsche gelten, gegen die noch vielfältigere Gruppe der Migranten auszuspielen, die aus kulturell höchst diversen Weltregionen stammen und "uns" geistig unterlegen sein sollen, zeugt nicht von intellektuellem Vermögen, sondern von provinziellem Spießermief.

Die Verortung eines bevölkerungspolitisch negativen Einflusses aus bestimmten Regionen des Südens bedient das Ressentiment einer Selbstgerechtigkeit, die schon immer über Leichen ging, wenn sie andere Menschen aussperrte, beraubte, vernichtete und dies mit deren angeblicher Minderwertigkeit rechtfertigte. Sarrazin frönt einem modernen, sozial determinierten Rassismus, der die ethnische Zugehörigkeit nicht per se zum Anlaß seiner Diffamierung nimmt, sondern sie als kontraproduktives Moment des Verwertungsinteresses dem volkswirtschaftlichen Interesse subsumiert. Es bedarf keiner Herrenrasse mehr, wenn das Leistungsprimat zum Maß aller Dinge wird und die kolonialistischen Raubzüge und kapitalistischen Globalisierungssstrategien westlicher Staaten in selbsterlangte Verdienste umgewidmet werden.

Wenn ein andere Menschen unverhohlen diskriminierender Chauvinist wie Sarrazin Vorstandsmitglied der Bundesbank und SPD-Mitglied bleibt, wenn er bei nicht wenigen Zeitungskommentatoren mit dem Tenor "Im Ton vielleicht zu grob, aber das mußte mal gesagt werden" kaum verhohlenen Beifall findet, wenn er in den einschlägigen fremdenfeindlichen und antiislamischen Webseiten als Held des offenen Wortes gefeiert wird, dann braucht man sich über das in der durchökonomisierten Konkurrenzgesellschaft erreichte Ausmaß an Feindseligkeit nichts vorzumachen. Sarrazin zeigt als Haßprediger in Nadelstreifen, wie gering die Strecke ist, die diese Gesellschaft bis zur eliminatorischen Ausgrenzung in Sarrazins Diktion "unproduktiver" Menschen und zum Führen offener Raubkriege zurückzulegen hat.

Die Aussagen des Altbundespräsidenten Horst Köhler zur deutschen Kriegführung wurden nicht umsonst heruntergespielt, indem man behauptete, er sei aus ganz anderen Gründen zurückgetreten. Mit dem sozialrassistischen Überlebensprimat, dem Sarrazin und Köhler auf jeweils eigene Weise frönen, erhebt längst überwunden Geglaubtes sein Haupt und gibt sich, mit neoliberaler Marktlogik und humangenetischer Empirie als Sachzwang positivistisch aufgehübscht, als etwas ganz anderes aus. Dies gelingt unter anderem auch deshalb, weil es schwer fällt, die industrielle Massenvernichtung des NS-Faschismus mit modernen, ökonomisch determinierten Vernichtungsformen wie der des alltäglichen Verhungerns von Zehntausenden in einem Atemzug zu nennen. Der von jeglicher Kapitalismuskritik befreite Antifaschismus, wie etwa vom ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder im "Aufstand der Anständigen" propagiert, spielt Sozialdemokraten wie Sarrazin durchaus in die Hände.

13. Juni 2010