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RAUB/0974: Organtransplantation ... Überlebenssicherung für Eliten (SB)



Seit lebensfrische menschliche Gewebe dank der Fortschritte der Transplantationsmedizin bares Geld wert sind, wird immer wieder die Forderung nach der Kommerzialisierung der Organspende erhoben. Tatsächlich findet diese längst statt, wie Berichte über den internationalen Transplantionstourismus seit Jahren belegen. Und nicht nur das - die Ausbeutung der großen Armut vieler Menschen insbesondere in osteuropäischen oder asiatischen Ländern durch kapitalkräftige Interessenten, die eine neue Niere benötigen, ist nur das Vorstadium zum gewaltsamen Organraub mit möglicher Todesfolge für die Betroffenen. Die fremdnützige Verwertung des menschlichen Körpers durch die medizinische Forschung oder den Kannibalismus in Hungerszeiten hat zahlreiche Gruselgeschichten in die Welt gesetzt. Die institutionelle wie kriminelle Organernte hingegen hat eine Wirklichkeit eigener Art geschaffen, in der der Horror beutemachender Mitkreaturen der prosaischen Realität einer medizinindustriellen Verwertung des Körpers gewichen ist, der einer durch keine ethischen Schranken aufzuhaltenden Kommodifizierung des Todes den Weg bahnt.

Dieser Entuferung der therapeutischen Substitution menschlicher Gewebe halten die Verfechter des medizinischen Fortschritts die nach ethischen Prinzipien organisierte Regulation der Organvergabe entgegen. Da die Verfügbarkeit passender Spenderorgane stets der Nachfrage hinterherhinkt, wurde der Todeszeitpunkt im Rahmen der Hirntoddefinition so weit vorverlagert, daß die Entnahme lebensfrischer Organe aus künstlich beatmeten und mit anderen intensivmedizinischen Maßnahmen versorgten Körpern möglich wurde. Warme, von Blut durchpulste Patienten für tot zu erklären, anstatt dem sinnlichen Eindruck, daß es sich um lebendige Menschen handelt, den Zuschlag zu geben, fordert den Angehörigen, dem Pflegepersonal und den Explantationsteams eine erhebliche Abstraktionsleistung ab. Diesem irritierenden Widerspruch zwischen praktischer Wahrnehmung und theoretischem Postulat gemäß bleibt die Hirntoddefinition, die den Tod des Menschen anhand der "irreversibel erloschenen Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms" bestimmt, Gegenstand der Kontroverse.

Das gilt nicht weniger für den Versuch, die in Deutschland praktizierte Zustimmungslösung, laut der Organe nur Verstorbenen entnommen werden können, wenn sie sich zu Lebzeiten für eine Organentnahme entschieden haben, durch die Widerspruchslösung zu ersetzen. Diese verlangt potentiellen Spendern ab, sich zu Lebzeiten definitiv gegen die Weiterverwendung des eigenen Körpers ausgesprochen zu haben. Signifikant an den medizinischen und gesellschaftlichen Folgen des wissenschaftlichen Fortschritts ist die Reihenfolge. Erst nach der Etablierung erfolgreicher Formen der Organtransplantation und der stetig verbesserten medikamentösen Unterdrückung der Abstoßungsreaktion des Empfängers, dessen Körper das neue Organ als fremdes Gewebe identifiziert, erfolgt die Umdefinition einer medizinischen Norm von jahrhundertealter Gültigkeit.

Indem der Mensch nicht mehr mit dem Ausfall der Atmung und des Herzschlags vom Leben in den Tod übertritt, sondern ein technisch ermöglichtes Dasein als angebliches Vegetativum führen kann, wird das philosophisch keineswegs gelöste Problem des Leib-Seele-Verhältnisses zugunsten eines ihn zur bloßen Sache deklarierenden Nutzungsinteresses materialisiert. Das Postulat eines vom angeblich entfleuchten Geist unabhängigen Körpers schafft eine Sphäre des legalistischen Zugriffs, deren absehbare Weiterungen eines Tages Komapatienten, geistig Behinderte oder angeblich nicht resozialisierbare Straftäter der dezisionistischen Aberkennung des Lebensrechts ausliefern könnten.

Dies ist schon deshalb wahrscheinlich, weil der maßgebliche Antrieb für die Neuformulierung des tradierten Menschenbilds und die Enteignung des Körpers zugunsten eines abstrakten medizinaladministrativen Prinzips fremdnütziger Art ist. Zwar wird das individuelle Selbstbestimmungsrecht auch bei der Widerspruchslösung aufrechterhalten, doch verlangt diese dem Individuum bereits ab, sich aktiv gegen die Weiterverwendung seiner Physis auszusprechen. Damit wird das Verhältnis zwischen persönlicher Autonomie und gesellschaftlichem Rechtsanspruch neu bestimmt, und zwar mit offenem Ausgang hinsichtlich der Maximierung staatlicher Verfügungsgewalt über den einzelnen. Wenn die nur wenige Jahrzehnte währende Entwicklung der Transplantationsmedizin derart tiefgreifende Veränderungen anthropologischer und juridischer Art initiieren kann, dann läßt sich unschwer prognostizieren, daß die biopolitische Vergesellschaftung des Menschen sich auch mit einer Widerspruchslösung nicht zufrieden geben und seine Physis zum Allgemeineigentum erklären wird.

Das ist sie streng genommen schon, handelt es sich bei dem Anspruch, gesellschaftliche Teilhaberschaft durch den Verkauf der eigenen Arbeitskraft zu erlangen, doch bereits um einen Zwang, dem sich der einzelne nur zur Strafe der Ausgrenzung entziehen kann. Die sozialdarwinistische Subordination individueller Autonomie unter den gesamtgesellschaftlichen Nutzen - exemplarisch zu studieren an der volkswirtschaftlichen Ratio der sogenannten Integrationsdebatte - begünstigt die Entwicklung der Transplantationsmedizin zu einer vermögenden Kapital- und unentbehrlichen Funktionseliten vorbehaltenen Form biologischer Überlebenssicherung. So wurde die seit den ersten erfolgreichen Herz- und Nierenverpflanzungen mit großem finanziellen und institutionellen Aufwand betriebene Etablierung des Organtransfers stets mit dem Argument legitimiert, daß diese Therapiemethode allen Menschen zugute käme. Das hat im globalen Sinne noch nie gestimmt, gelangen Millionen Menschen in den Ländern des Südens doch nicht einmal in den Genuß einer medizinischen Basisversorgung. Kämen die in Forschung und Entwicklung der HighTech-Medizin investierten Mittel diesen Menschen zugute, so würden ungleich viel mehr Leben gerettet, als es mit der Organtransplantation jemals möglich sein wird.

Doch auch in Europa und Nordamerika hat die Misere der allgemeinen Versorgung der Menschen mit essentiellen Gütern und Dienstleistungen längst zu deutlichen Unterschieden in der durchschnittlichen Lebenserwartung zwischen arm und reich geführt. Nun wurde die öffentliche Unterstützung für mehrere Formen lebensrettender Organtransplantation, die bislang im Rahmen des medizinischen Sozialprogramms Medicaid gewährt wurde, im US-Bundesstaat Arizona Anfang Oktober gestrichen. Auch wenn die Zahl der davon betroffenen Patienten bislang nur etwa 100 Personen betrifft, die von der Warteliste für Spenderorgane gestrichen wurden, so handelt es sich in Anbetracht dessen, daß diese Menschen vom Erhalt einer bislang allgemein verfügbaren Therapiemethode ausgeschlossen und damit dem Tod überantwortet wurden, um einen qualitativen Schritt von entlarvender Art.

Wenn überbordende Staatsschulden die Streichung lebenserhaltender Maßnahmen im Rahmen eines angeblich egalitären Systems der Organzuteilung rechtfertigen, dann geht dies über den ohnehin gegebenen Mißstand der faktischen Mehrklassenmedizin hinaus. Die Behauptung, die Transplantationsmedizin sei eine allen Menschen verfügbare Therapieform, erweist sich als Vorwand, ohne den diese hochentwickelte Form der medizinischen Lebensverlängerung nicht mit öffentlichen Mitteln finanziert worden wäre. Um so deutlicher tritt die bei ihrer Kommerzialisierung unverstellt sichtbare Raubabsicht hervor. Im Unterschied zu anderen medizinischen Heilmethoden, bei denen pharmazeutische Produkte eingesetzt werden, ist die Organsubstitution eine stets mehrere Menschen auf denkbar direkte Weise miteinander in ein Nutzungsverhältnis setzende Therapieform. Wenn dieses Verhältnis nicht nur im illegalen privaten, sondern legalen öffentlichen Bereich von ökonomischen Bedingungen bestimmt wird, die die einen in potentielle Jäger und die anderen in deren Beute verwandelt, dann ist keine bioethische Formel mehr dazu in der Lage, den archaischen Raubcharakter dieser Therapieform zu überdecken.

27. Dezember 2010