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RAUB/0984: Leben mit der Atomkatastrophe ... neue Chancen durch "kreative Zerstörung"? (SB)



Einen Monat nach Beginn der Atomkatastrophe in Japan scheint sich die Welt an die Präsenz einer permanent radioaktive Strahlung abgebenden Atomruine gewöhnt zu haben. Business as usual bedeutet mit der Krise zu leben, das gilt für die aus dem Ruder gelaufenen Staatsschulden ebenso wie für den Hunger von über einer Milliarde Menschen oder eben die allmähliche Verstrahlung Japans, seiner Küstengewässer und Nachbarstaaten. Nicht in Frage gestellt ist damit die Reproduktion des kapitalistischen Verwertungssystems, ganz im Gegenteil. Schon werden Stimmen laut, die den Ausfall japanischer Konkurrenten in einen Vorteil für das Wirtschaftswachstum in der Europäischen Union ummünzen. Auch setzen die Wiederaufbauleistungen nach dem Erdbeben und Tsunami vom 11. März Gelegenheiten zur Investition frei, von denen andere Volkswirtschaften profitieren könnten. Und vor allen Dingen - die Erschütterung der Atomkatastrophe beflügelt technologische Innovationen, die den Motor jedes ökonomischen Aufschwungs darstellen.

So stellt sich die Lage zumindest in der Sicht neoliberaler Ökonomen dar, die frei nach Schumpeters Konzept von der "kreativen Zerstörung" im Niedergang neue Chancen für wagemutiges Unternehmertum wittern. Die hochgradige Adaptionsfähigkeit des kapitalistischen Weltsystems, krisenhafte Schocks zu absorbieren und in neue Produktivitätspotentiale zu verwandeln, jubelt den Tanz auf dem Vulkan zum Fruchtbarkeitsritus des Homo oeconomicus hoch. Die zivilreligiöse Beschwörung entfesselter Kapitalkräfte verwandelt das "Restrisiko" einer Technologie, deren Verhältnis von Kontrollverlust und Schadensfall so unbestimmbar wie unvorstellbar ist, in den fruchtbaren Keim neuer Gelegenheiten, den mit radioaktivem Fallout zu bewässern besonders bunte Blüten wuchernder Scheinproduktivität treibt. Je höher sich die Trümmer türmen, je weiter der Radius der Todeszone um Fukushima gezogen wird, desto verheißungsvoller geraten die Perspektiven einer makroökonomischen Kalkulation, die in der Bilanzierung des Gesamtprodukts keinen Unterschied zwischen realer Reichtumsproduktion und der dabei erzeugten Zerstörung an Mensch und Natur macht. Die Frage, wo diese Aufwendungen eingepreist werden, ob diese Kosten internalisiert oder externalisiert werden, ändert an der Logik, die sie zu Produktivfaktoren erklärt, nichts.

Jahrzehntelang wurde die Sorge der Atomkraftgegner um in ihrer Folge unabsehbare Störfälle mit Verbesserungen der Betriebssicherheit der AKWs gekontert, ohne daß dies die grundsätzliche Angst vor umfassender Verstrahlung beschwichtigen und die Frage nach der Endlagerproblematik beantworten konnte. Mit Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima haben sich die statistischen Prognosen, die einen größeren Schadensfall für so unwahrscheinlich erklären wie einen Sechser im Lotto, überlebt. Gerade weil die inflationäre Sicherheitsrhetorik alles andere als berechenbare und verläßliche Betriebssicherheit produziert hat, verlangen die auf tektonischen Bruchlinien tanzenden AKWs Japans nach einer neuen Legitimation der weiteren Einspeisung von Atomenergie in die globalen Wertschöpfungsketten. Zur fortgesetzten zivilen Nutzung der Atomenergie bedient man sich nun des unausgesprochenen Eingeständnisses, daß das Risiko zwar nicht wirklich kalkulierbar sei, der einmal eingeschlagene Pfad dieser Methode der Energieerzeugung aber nur zum Preis erheblicher ökonomischer Einbrüche schnell verlassen werden könnte.

So wenig, wie das Ende der individuellen Mobilität im eigenen PKW aufgrund der zwar sinkenden, aber immer noch erheblichen Zahl menschlicher Opfer dieser Fortbewegungsweise ins Auge gefaßt wird, so wenig wird der unabsehbare Schaden der japanischen Atomkatastrophe zum Anlaß einer Zäsur genommen, die selbst bei sofortiger Abschaltung aller AKWs noch die Frage aufwürfe, was man mit den erheblichen Mengen jahrtausendelang hochgefährlicher Nuklearabfälle anstellt. Der Vergleich hinkt gewaltig, aber ist exemplarisch für die vorgebliche Kalkulierbarkeit des Unbestimmbaren, mit der die nukleare Energieerzeugung verkauft wird. Ihre Anziehungskraft ist von archaischer Art, nimmt sie doch das lodernde Feuer in Anspruch, das wärmt, schützt und nährt, so lange es nicht als sturmgetriebener Flächenbrand das eigene Leben bedroht. Eingebannt in den stählernen Tresor des Containments, der Brand gezügelt von mehreren Kühlkreisläufen und eingehegt durch mehrfach redundante Sicherheitssysteme soll das atomare Feuer den hochentwickelten Stand einer zivilisatorischen Entwicklung markieren, die sich die Herrschaft über die Natur selbst anheischig macht, um aus den Augen zu verlieren, daß der Hunger nach brandgetriebener Verstoffwechselung nichts anderes als Ausdruck eigener Unterwerfung unter das Naturprinzip der Bedürftigkeit ist. Wer erst nach dem 11. März von Hybris spricht, hat offensichtlich vergessen, daß der Motor kapitalistischer Produktivität, der zu sozialdarwinistischer Überlebenskonkurrenz maximierte Wettbewerb, seit jeher mit Menschenleben befeuert wird.

Was als Antagonismus menschlicher Emanzipation von naturhafter Bedingtheit propagiert wurde, ohne die Degradierung des Menschen zum Verbrauchsstoff der Wertschöpfung zu überwinden, fällt mit der erweiterten Sozialisierung zerstörerischer Folgen kapitalistischer Produktivkraftentwicklung erst recht all denen auf die Füße, die dieses Wachstumsparadigma als Verfügungsmasse zu erleiden haben. Die mit Atomenergie angeblich erwirtschafteten Produktivitätserfolge kommen Lohnabhängigen und Versorgungsbedürftigen ohnehin nicht zugute, verengt sich die Basis ihrer Reproduktion durch das Austeritätsregime des kapitalistischen Krisenmanagements doch zusehends. Wenn die Arbeiter in Fukushima regelrecht verfeuert werden, dann ist ihnen das Schicksal der Asche zugedacht, die mit dem Aufstieg des neoliberalen Phönix aus derselben in dem Maße anwächst, als die stoffliche Basis kapitalistischer Reproduktion zur Neige geht und man allmählich daran geht, das Mobiliar zu verfeuern.

Von daher ist es nicht damit getan, den einen Brand durch den anderen zu ersetzen, um die Maschine der Kapitalakkumulation in Gang zu halten. Die mehrwertabschöpfende Trennung der Menschen von den Voraussetzungen ihrer Produktivität ist aufzuheben, die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel ist auf die denkbar breiteste soziale Basis zu stellen und ihres gewaltsamen Charakters zu entheben. Atomkraft ist eine das Großkapital bevorzugende, das staatliche Gemeinwesen repressiv aufladende, die Menschen von der Ausbeutung der Uranvorkommen über die Gefahren des Atombrandes bis zur langfristigen Vergiftung durch die Entsorgung abgebrannter nuklearer Brennstoffe gefährdende Technologie. Sie kann zum Kampf um Autonomie und Egalität nur ein ausschließendes Verhältnis haben. Wer wollte andere mit den unabsehbaren Folgen eigenen Nutznießes belasten, wenn er sich gerade davon befreien will?

Das gilt in wenn auch nicht so brisanter Form für jede Form von Energieerzeugung, in der die Interessen der Erzeuger und Nutzer nicht so eng miteinander verknüpft sind, daß Abhängigkeits- und Gewaltverhältnisse gar nicht erst entstehen können. So sehr die Atomkatastrophe in Japan Konturen neuer administrativer Zwangsverhältnisse sichtbar werden läßt, so sehr kann sie zum Anlaß eines Widerstands werden, dessen technologiekritische Stoßrichtung durch seinen sozialen Gehalt potenziert wird.

11. April 2011