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RAUB/1025: Zur Wiederverwendung serviert ... Frischhaltebox Mensch (SB)



Jüngste Fortschritte in der Transplantationsmedizin sind aus Britannien zu vermelden. Dort hat die British Medical Association (BMA) einen Vorschlag des National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) aufgegriffen, mit dem sich die Verfügbarkeit von Spenderorganen deutlich steigern lassen soll. Wie der ursprüngliche Titel dieser Behörde des English National Health Service (NHS), 1997 unter der neugewählten Labour-Regierung als National Institute of Clinical Effectiveness eingeführt, verrät, ist die Maßnahme nicht nur vom altruistischen Wunsch bestimmt, bislang leer ausgehenden Patienten zu einem neuen Organ zu verhelfen. Eine nicht geringe Rolle scheint auch die Überlegung zu spielen, daß die unzureichende Verfügbarkeit von Spendernieren das britische Gesundheitswesen viel Geld kostet. 85 Prozent der wartenden Empfänger befinden sich in Dialysebehandlung, was pro Patient mit 25.000 Pfund im Jahr zu Buche schlägt.

Um dieser Kostenfalle zu entgehen, will die BMA auf eine bereits mit dem Erfolg einer 50prozentigen Steigerung der Organernte in den 1980er Jahren an einem britischen Krankenhaus durchgeführte und damals für illegal befundene Maßnahme zurückgreifen, die unter dem Titel "elective ventilation" für erregte Debatten gesorgt hat. Was mit "wahlweise Beatmung" übersetzt werden könnte, meint eine medizinische Intervention zugunsten potentieller Organempfänger schon zu Lebzeiten des Organspenders. Bislang wird ein Patient, der unter einer absehbar zum Tode führenden massiven Gehirnblutung etwa nach einem Schlaganfall leidet, nicht unter allen Umständen mit intensivmedizinischen Maßnahmen behandelt, sondern nach Abklärung einer nicht mehr vorhandenen Überlebenschance seinem Schicksal überlassen. Falls die Todeswahrscheinlichkeit nicht vollständig geklärt ist, kann eine künstliche Beatmung eingeleitet werden, um eine sichere Diagnose zu erstellen, allerdings unter dem Vorsatz, daß dies im Interesse des Patienten und seiner Angehörigen wäre. Eine mögliche Organentnahme würde nach Abklärung seines Verhältnisses zur Organspende nach seinem Ableben durchgeführt.

Das von der BMA zur Legalisierung vorgeschlagene Verfahren der "elective ventilation" hingegen sieht vor, den Patienten allein zum Zwecke der Organentnahme künstlich zu beatmen und seinen Kreislauf medikamentös zu stabilisieren. Damit wäre genügend Zeit gewonnen, über die Organentnahme mit den Angehörigen zu befinden, ohne daß die Spenderorgane geschädigt würden. Selbst wenn die Phase, in der lebensverlängernde Maßnahmen angewendet würden, kurz wäre, so bestände der qualitative Unterschied zum bisherigen Procedere darin, daß dies erklärtermaßen zu einem fremdnützigen Zweck erfolgte. Die gängige Praxis, als hirntot diagnostizierte Patienten mit künstlicher Beatmung zu versorgen, um die Entnahme lebensfrischer Organe zu ermöglichen, ist damit insofern nicht zu vergleichen, als diese Patienten bereits für tot erklärt wurden. Die in den letzten Jahren erneut aufgeflammte Diskussion, inwiefern der Hirntod der tatsächliche Tod des Menschen ist, hat allerdings ihrerseits die Überlegung hervorgebracht, die Organentnahme selbst für den Fall, daß das Hirntodkonzept in der bisherigen Form nicht aufrechterhalten werden kann, möglich zu machen [1].

In beiden Fällen zeigt sich, daß die Verfügungsgewalt des Menschen über seinen Körper auch und gerade dann, wenn er sich in einer ohnmächtigen Situation befindet, zusehends in Frage gestellt wird. Mit dem utilitaristischen Argument eines übergeordneten Nutzens nicht nur des potentiellen Organempfängers, sondern auch der Kostenersparnis im öffentlichen Gesundheitswesen wird er noch in lebendigem Zustand zur biologischen Ressource degradiert. Über den Warencharakter seiner Fähigkeit, Arbeit zu verrichten, hinaus wird der Leib selbst wie ein Rohstoff kommodifiziert, was natürlich mit besten ethischen Absichten erfolgt. Die Crux dieser Entwicklung liegt in ihrer Entuferung auf der Grundlage einer Kosten-Nutzen-Evaluation, der sich der einzelne gegenüber zu rechtfertigen und im Zweifelsfall zu unterwerfen hat.

Warum keine Organbanken mit beatmeten Leibern einrichten, die Investitionsimpulse etwa zum Ausbau transplantationsmedizinischer Einrichtungen oder zur Entwicklung neuer Immunsuppressiva freisetzen, anstatt sich mit dem hartnäckigen Festhalten an einer Autonomie herumschlagen zu müssen, für die ökonomisch einzustehen der Betroffene gar nicht in der Lage ist? Warum keine Ethik der Entschuldung für Menschen formulieren, deren produktiver Beitrag zum gesellschaftlichen Gesamtprodukt negativ geworden ist, laut der sie ihre Schuld durch die Bereitschaft abtragen können, als Organspender vorzeitig aus dem Leben zu scheiden?

Wenn die Selbstbestimmung des Menschen im Grenzbereich von Leben und Tod unter den Imperativ seiner Verwertung gerät, dann nur deshalb, weil dies in seiner aktiven Existenz in der Arbeitsgesellschaft längst erfolgt ist. Der Frage, wie der Mensch auf zweckdienliche Weise in die Sphäre ökonomischer Produktion und Zirkulation eingespeist werden kann, sind keine prinzipiellen Grenzen gesetzt außer denjenigen, die im zivilisatorischen Entwicklungsprozeß in allgemeiner Übereinkunft zur Aufhebung kreatürlicher Gewaltanwendung formuliert wurden. Wenn diese Grenzen unter dem Banner einer Ethik des allgemeinen Nutzens eingeebnet werden, dann bahnt dies einem Zwangssystem kapitalistischer Vergesellschaftung den Weg, das vor nicht allzulanger Zeit noch als faschistisch identifiziert worden wäre.

Fußnote:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/raub1014.html

14. Februar 2012