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RAUB/1037: 10 Jahre Hartz - Deutscher Entwurf europäischen Krisenmanagements (SB)




Vor zehn Jahren, am 16. August 2002, markierte die Übergabe des Abschlußberichts der Kommission "Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" im Französischen Dom in Berlin den Auftakt zu einem Regime sozialer Grausamkeiten, das die Parameter des Verhältnisses von Kapital und Arbeit auf tiefgreifende Weise umdefinierte. In einer geheimen Staatsaktion hatten Bundesarbeitsministerium und Bundeskanzleramt - koordiniert und gelenkt durch die Bertelsmann Stiftung - grundlegende Prinzipien des sogenannten Sozialstaats ausgehebelt. [1] Diese Stiftung, seit den 1990er Jahren zur führenden deutschen Denkfabrik ausgebaut, setzte die Ideologie des Unternehmensgründers Reinhard Mohn systematisch um, in einer wirtschaftsliberal globalisierten Welt eine Art deutschen Sonderweg in Gestalt einer korporatistischen Unternehmenskultur zu etablieren. Sie hält den Sozialstaat für überdehnt wenn nicht gar überholt und will an die Stelle von Mitbestimmung und demokratischer Gestaltung eine über den Wettbewerb hergestellte Effizienz als Steuerungsinstrument installieren. Die Bertelsmann Stiftung verfolgte die Idee eines Niedriglohnsektors und war an der Ausgestaltung des früheren Bündnisses für Arbeit, der Agenda 2010 und von Hartz IV prägend beteiligt. [2]

Zwingt die kapitalistische Gesellschaftsordnung die große Mehrheit der Bevölkerung, als einzig mögliche Gewährleistung ihrer Lebenserhaltung ihre Arbeitskraft zu verkaufen, so erwuchsen den Lohnabhängigen in der Vergangenheit daraus gewisse Garantien. Die Kapitaleigner verpflichteten sich zur Vorhaltung von Arbeitsplätzen, und das dies zu keinem Zeitpunkt im erforderlichen Umfang geschah, sprang der Staat im Falle der Unmöglichkeit, die Arbeitskraft feilzubieten, mit kompensatorischen Leistungen ein. Der innovative Entwurf, den man mit der nach ihrem Namensgeber Peter Hartz benannten Kommission assoziiert, beraubte die Lohnabhängigen, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger im Prinzip ihres Rechtsanspruchs auf Unterstützung und setzte eine Doktrin der Bezichtigung in Kraft. Sich aus welchen Gründen auch immer nicht länger von der eigenen Hände Arbeit angemessen ernähren zu können, wurde nunmehr als persönliche Schuld definiert, verursacht durch ein Fehlverhalten. Was als große Reform zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit angepriesen wurde, war der weitreichenste Sozialabbau in der Geschichte der Bundesrepublik, verbunden mit einer ideologischen Verkehrung der Widerspruchslage: Was immer das kapitalistische Verwertungsregime dem Menschen aufnötigte oder vorenthielt, war fortan sein eigener Sündenfall, den er auf die eine oder andere Weise abzubüßen hat.

Die Vorschläge der Kommission fungierten als Grundlage für die als Hartz I bis IV bekannten Gesetzespakete der damaligen rot-grünen Bundesregierung. Waren entsprechende Ansätze der letzten Kohl-Regierung noch an der Blockade aus parlamentarischer Opposition, Gewerkschaften und anderen gesellschaftlichen Kräften gescheitert, so waren es einmal mehr die Sozialdemokraten und mit ihnen die Grünen, die den scharfen Schnitt ins soziale Netz vornahmen. Der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel gehörte damals zu den Wenigen im rot-grünen Umfeld, die sich dem Schröderschen Diktum vom "großen Wurf" hörbar widersetzten: "Der versprochene Abbau der Arbeitslosigkeit ... erfolgt nicht durch die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Vielmehr wird ... der Druck erhöht, billige und unterqualifizierte Jobs anzunehmen." [3]

Millionen Menschen wurden seither in unterwertige Arbeitsplätze gezwungen, in den Niedriglohnsektor gedrängt, mit Sozialleistungen unter dem Existenzminimum abgespeist, per Zwangsarbeit abgestraft und einem beispiellosen Kontrollsystem unterworfen. Zum zehnten Jahrestag des Hartz-Berichts erklärt Annelie Buntenbach vom DGB-Vorstand: "Die Hartz-Reformen haben die Ordnung am Arbeitsmarkt nachhaltig zerstört und den Druck nach unten massiv verschärft." Der Niedriglohnsektor sei deutlich gewachsen, 1,3 Millionen Menschen seien trotz eines Jobs auf Hartz IV angewiesen. "Nach zehn Jahren Hartz-Reformen sind acht Millionen Beschäftigte in atypischer und unsicherer Arbeit wie Minijobs, Leiharbeit oder befristeten Jobs." [4] Gustav Horn, Volkswirt am gewerkschaftsnahen Forschungsinstitut IMK, unterstreicht, daß Hartz IV die soziale Landschaft in Deutschland massiv und eine neue Zeitrechnung eingeläutet habe. Der Druck auf Arbeitslose habe deutlich zugenommen, das Leben unter Hartz IV sei eine Existenz am Rande der Gesellschaft. Ökonomisch betrachtet sei Hartz IV eine der wichtigsten Ursachen für die Umverteilung von unten nach oben, die man in den vergangenen zehn Jahren erlebt habe. [5]

Heute wird Europa von der schwersten Wirtschafts-, Währungs- und Ideologiekrise seit Ende des Zweiten Weltkriegs erschüttert. Deutschland hingegen profitiert von einem stabilen Wachstum, verbunden mit niedrigen Zinsen und rückläufigen Arbeitslosenzahlen. Man bejubelt ein "Jobwunder" und feiert die Stärke der deutschen Exportindustrie. Forcierte Ausbeutung der Lohnabhängigen und massive Kürzungen der Sozialleistungen haben den deutschen Eliten zur Führerschaft in Europa verholfen. Daß dies weitgehend reibungslos durchgesetzt werden konnte, hängt untrennbar mit den Hartz-Reformen zusammen, die längst weit über Deutschland hinaus als Rezept eines europäischen Krisenmanagements gehandelt werden.

Fußnoten:

[1] http://www.jungewelt.de/2012/08-16/022.php

[2] http://www.nachdenkseiten.de/?p=5228

[3] http://www.fr-online.de/meinung/hartz-iv-so-wird-die-spd-ihren-fluch-los-,1472602,16892248.html

[4] http://www.welt.de/newsticker/news3/article108652886/Schroeder-und-Muentefering-loben-Hartz-Reformen.html

[5] http://www.focus.de/finanzen/news/arbeitsmarkt/top-oekonom-im-interview-hartz-iv-hat-zu-niedrigloehnen-gefuehrt_aid_801119.html

16. August 2012