Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

RAUB/1061: Erfolgsmodell Hartz IV - Delinquenz als Ressource (SB)




Zwar wollen sich SPD und Grüne vor der Bundestagswahl von dem Vorwurf befreien, mit der Agenda 2010 und Hartz IV eine sozialfeindliche Form der Arbeitsverwaltung eingeführt zu haben. Das Angebot einer sozial gerechteren Umverteilung führt jedoch nicht so weit, die am 14. März 2003 unter dem Titel "Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung" vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder vorgestellte Umstrukturierung der Arbeitsgesellschaft in Richtung auf eine wirksamere und kostengünstigere Mobilisierung von Arbeitskräften wieder aufzuheben. Nicht nur die Politiker, die diese Zäsur als Mitglieder der rot-grünen Bundesregierung zu verantworten haben, sondern das Gros der Funktions- und Kapitaleliten des Landes sind sich klar darüber, daß der Nutzen dieses tief in das Leben der Betroffenen eingreifenden Arsenals von Forderungen und Zwangsmaßnahmen weit über die bloße Verfügbarkeit einer gesellschaftlichen Reservearmee zur allgemeinen Senkung des Lohnniveaus hinaus geht.

Nicht umsonst wurden wesentliche Elemente des Hartz IV-Regimes in der Flüchtling- und Asylpolitik vorexerziert. Die Reduzierung der verfügbaren Versorgung auf ein minimales Niveau, die Begrenzung der räumlichen Bewegungsfreiheit durch die Residenzpflicht, die administrative Kontrolle durch Ausländerzentralregister und Verfassungsschutzämter, die sanktionsbewehrte Verhängung konkreter Verhaltensauflagen und nicht zuletzt die rassistische Stigmatisierung angeblich parasitärer Absichten wurden in nur leicht modifizierter Form auch Langzeiterwerblosen zum Verhängnis. Daß die Kasernierung der Flüchtlinge in Lagern und die Einschränkung ihrer Wahlmöglichkeiten durch Sachleistungen oder Scheckkarten über Erwerbslose betreffende Maßnahmen hinausgehen, sollte als zukünftiges Entwicklungspotential nicht unterschätzt werden.

Auch kann die vom liberalen Schein der Freiwilligkeit, Leistungen nach SGB II in Anspruch zu nehmen, überstrahlte Not, in dieser Gesellschaft irgendwie überleben zu müssen, nicht darüber hinwegtäuschen, daß die im Bericht der Kommission "Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" angekündigte "neue Zumutbarkeit" bei der Annahme eines Arbeitsangebots auf einem Instrumentarium an Aufsichts- und Zwangsmaßnahmen basiert, das bereits in der ordnungspolitischen, polizeilichen, sozialpsychologischen und sozialpsychiatrischen Verwaltung sozialer Delinquenz vorvollzogen wurde. Mit der "Freiheit der Wahl", über die die "freien, mündigen und entscheidungsfähigen Kunden" der JobCenter verfügen, hat man das gesellschaftliche Zwangsverhältnis, als von Vermögen und Versorgung freier Mensch Lohnarbeit verrichten zu müssen, zu einer Frage der individuellen Entscheidung gemacht, die sich den meisten gar nicht stellt.

Die damit angeblich ausgelösten "Eigenaktivitäten" sind zwar in keinem geringeren Maße fremdgesteuert als der generelle Zwang, die eigene Arbeitskraft zu Markte tragen zu müssen. Auf diese Weise läßt sich jedoch dementieren, daß der Staat für das materielle Überleben aller seiner Subjekte Verantwortung trägt. Zeitgemäßer Ausdruck der Abkehr vom sozialstaatlichen Solidarprinzip ist ein Kundenverhältnis, das suggeriert, die Inanspruchnahme von Hartz IV sei nicht minder Ausdruck des rationalen Handelns eines Marktakteurs, als es die neoklassische Wirtschaftsdoktrin allen Markteilnehmern unterstellt. "Kunde und Mitarbeiter des JobCenter begegnen sich auf gleicher Augenhöhe" - die unterstellte Äquidistanz verhindert, daß alle Faktoren eines sozialen Verhältnisses auf den Tisch kommen, welches die Insassen der kapitalistischen Gesellschaft auf höchst unterschiedliche Weise in ökonomische Abhängigkeiten und hierarchische Sozialstrukturen zwingt.

Anders als der Käufer, der Geld gegen eine Ware tauscht, macht sich der "Kunde" des Jobcenters selbst zu einer Ware. Sie nennt sich Arbeit und ist in so großem Maße vorhanden, daß sich ihr Anbieter in der mißlichen Lage befindet, sie auch weit unter Preis des Erhalts des eigenen Lebens veräußern zu müssen. Wo ein Rechtsanspruch soziale Egalität herstellen sollte, weil die Bedingungen, unter denen dieser niedrige Preis zustande kommt, zuallererst von denjenigen bestimmt werden, die als Käufer der Arbeit auftreten, wird im Fallmanagement der Arbeitsagentur Delinquenz ermittelt. Der Kunde wird prinzipiell als Adressat des Vorwurfs behandelt, seine Ware nicht wohlfeil genug anzubieten, also nicht genug dafür zu tun, ganz zu dem zu werden, was den Interessen anderer gemäß veräußert werden soll. Dies drückt den Preis der Arbeit, die zu mobilisieren das Ziel des "aktivierenden Sozialstaates" und der von ihm verfolgten Strategien der Selbstaktivierung und Selbstoptimierung zum Unternehmer seiner selbst ist.

Die systematisch betriebene Auflösung gesellschaftlicher Widersprüche in marktliberale Vertragsverhältnisse hat zudem zur Folge, daß der moralische, politische und rechtliche Widerstand gegen die Entmündigung und Herabwürdigung des Menschen zum staatlich verwalteten Humankapital massiv geschwächt wird. So legitimiert die strukturell verankerte, im Leitsatz "Ohne Leistung keine Gegenleistung" kodifizierte Bezichtigung, kaum jemals genug dafür zu tun, sich gegenüber der nährenden Gesellschaft zu bewähren, einen ganzen Katalog von Forderungen und Sanktionen, die in ihrem Grund- und Bürgerrechte einschränkenden Charakter nur deshalb nicht bekämpft werden, weil das grundlegende materielle Gewaltverhältnis im Anspruch auf Freiwilligkeit auf legalistische Weise aufgehoben erscheint. Die Freiheit der Berufswahl und der Bewegung, der politischen Betätigung und finanziellen Selbstbestimmung werden durch Zumutbarkeitskriterien und Zielvereinbarungen, durch Berichts- und Offenlegungspflichten eingeschränkt. Die Unterhaltspflichten der Bedarfsgemeinschaft schrecken potentielle Partner ab, so daß die Entsolidarisierung vom Marktplatz bis in das private Heim vordringt.

Dabei berührt die Frage, wie erfolgreich die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit verläuft, den paradigmatischen Charakter der Rationalisierung des Sozialen kaum. So sehr beim pauschalen Verweis auf die Entwicklung der Arbeitslosenrate vermieden wird, nach Form und Inhalt der beruflichen Tätigkeiten, technologischen Entwicklungen und sozialen Verhältnisse zu fragen, auf deren Basis sich die Gesellschaft reproduziert, so sehr geht der Blick an den zerstörerischen Auswirkungen der mit betriebswirtschaftlichen Organisationsprinzipien und unternehmerischen Management- und Governancekonzepten aufgerüsteten Sozialstrategien vorbei, mit Hilfe derer Erwerbslosigkeit in eine operative Ressource verwandelt werden soll.

Es ist kein Zufall, sondern hat System, daß die Opfer des Hartz IV-Regimes bei der Moderation des Verhältnisses von Kapital und Arbeit durch Arbeitskämpfe und Tarifverhandlungen, durch die kartell- und arbeitsrechtlichen, fiskal- und sozialpolitischen Interventionen des Staates kaum Erwähnung finden. Wie ein schwarzes Loch droht die Sphäre ausgegrenzter Delinquenz alle zu verschlingen, die im Normalbetrieb der Arbeitsgesellschaft aus ganz anderen Gründen überflüssig gemacht werden, als daß sie den an sie gestellten Anforderungen nicht genügten. Was mit dem Bild der sozialen Marktwirtschaft gerne als prinzipiell funktionsfähiger Kapitalismus beworben wird, schickt sich an, den Menschen selbst in den Prozeß der fortwährenden Revolutionierung sämtlicher gesellschaftlicher Verhältnisse einzuspeisen. Wer an dem daraus geschöpften Reichtum teilhat, wird zusehends anhand der Bereitschaft entschieden, sich der Zerstörung sozialer Kulturen und Traditionen wie menschlicher Gewißheiten und Sicherheiten zu überantworten, um noch unerschlossene Potentiale subjektiver Leistungsbereitschaft zu mobilisieren. Die mit Angst und Not betriebene Arbeitsverwaltung nach Hartz IV beweist, daß die Glorifizierung der Arbeit als Kern menschlicher Sinnerfüllung und Kitt des gesellschaftlichen Zusammenhalts in der fatalen Situation enden könnte, nicht mehr über den Rand der von Verwertung und Verbrauch bestimmten Zwangslogik hinaus blicken zu können, um ganz andere Entwicklungs- und Zukunftsmöglichkeiten zu entwerfen.

13. März 2013