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RAUB/1068: Staatsräson Organspende - Bringschuld der Bürger (SB)




Die rückläufige Bereitschaft der Bundesbürger, Organe zu spenden, zeugt von einem veritablen Mißtrauen gegenüber der Transplantationsmedizin. Wenngleich diese Skepsis intuitiv anmutet und die Schwelle zu dezidierten Begründungszusammenhängen der Ablehnung nur selten überschritten hat, sind doch Grundsatzfragen wie die folgenden längst nicht aus dem Feld geschlagen. Bestätigt nicht der Übergang vom umstrittenen Kriterium des Hirntods zur noch fragwürdigeren Herztoddebatte um so mehr die Auffassung, daß transplantierbare Organe nur Lebenden entnommen werden können? Hat man es bei dieser kostenintensiven Sparte der High-Tech-Medizin nicht mit einer Tendenz des Gesundheitswesens zu tun, den Nutzen weniger zu Lasten einer immer schlechter versorgten Mehrheit zu befördern? Wird mit dem Zuteilungsverfahren nicht die Entscheidung über Leben und Tod unter utilitaristischen Maßgaben massiv vorangetrieben? Läßt der sogenannte Organspendeskandal nicht vermuten, daß die angebliche Objektivität und Verteilungsgerechtigkeit des Systems Eurotransplant lediglich einen Deckmantel über Praktiken der Bereicherung und Bevorteilung legt?

Die Transplantationsmedizin und deren Protagonisten in Gesundheitsindustrie und Politik müssen fürchten, daß diese und andere kritische Fragen grundsätzlicher Natur, die sie restlos entsorgt glaubten, unter dem Eindruck aufbrechender Widersprüche in der Branche am Ende doch noch auf die Tagesordnung öffentlichkeitswirksamen Bürgerprotests gesetzt werden. Deshalb eint sie der Wunsch, die weitreichende Problematik auf wenige auszumerzende Mißstände einzugrenzen und damit die Transplantation nicht nur zu retten, sondern womöglich sogar gesäubert und unanfechtbar als Phoenix aus der Asche zu ungekannter Größe aufsteigen zu lassen. Folglich greifen Einwände, die mit dem verlorengegangenen Vertrauen argumentieren, nicht nur zu kurz, sie sind vielmehr Wasser auf die Mühlen einer ordnungspolitischen Regulation und administrativen Durchdringung, die die Transplantationsmedizin unter den Fittichen der Staatsräson gegen alle Angriffe versiegelt.

Wie der ärztliche Direktor des jüngst ins Visier der Überwacher geratenen Uniklinikums Münster, Professor Norbert Röder, gegenüber dem Deutschlandfunk beklagt, liegt die Spendebereitschaft hierzulande darnieder:

Die Zahl der Organspenden ist in Deutschland verglichen mit anderen europäischen Staaten schon ziemlich am Boden, ob die noch viel weiter einbrechen kann, weiß ich gar nicht. (...) Die ganze Diskussion, die führt zu einer Verunsicherung und hat den sowieso niedrigen Stand der Organspenden in Deutschland eben noch weiter zurückgedrängt, und damit wird das Verteilungsproblem, das Organzuteilungsproblem ein noch größeres, und immer mehr Menschen versterben auf der Warteliste.[1]

Röder verwahrt sich zugleich dagegen, in einer Reihe mit Göttingen, Leipzig und München in die Gruppe der vier Zentren mit schwerwiegenden Verstößen einsortiert zu werden. Die Kommission habe zwar in 25 Fällen Richtlinienverstöße festgestellt, wovon man aber im Uniklinikum Münster nur neun in diesem Umfang anerkenne, weil sie sich bei rückblickender Betrachtung nicht mehr rechtfertigen ließen. In den übrigen Fällen habe man sich nach eigener Einschätzung regelkonform verhalten. Ob sich die deutsche Transplantationsmedizin nicht einmal darüber im klaren sei, welche Regeln denn nun gelten, will sein DLF-Gesprächspartner Peter Kapern daraufhin wissen. Die Richtlinien könnten unterschiedlich ausgelegt werden, weil sie unscharf formuliert seien, erwidert Röder, der die jetzt verabschiedete gesetzliche Regelung begrüßt, wonach die Richtlinien mit Kommentaren versehen werden müssen.

Mit dem Kunstgriff, die von der Kommission monierten Fälle in zwei Gruppen aufzuspalten und nur die kleinere von beiden zu akzeptieren, erklärt man im Uniklinikum Münster die erhobenen Vorwürfe für überwiegend gegenstandslos. Zudem macht man geltend, daß es sich durchweg um Vorfälle in der Vergangenheit handle, die heute aufgrund verbesserter Kontrollen und Dokumentationen nicht mehr möglich seien. Auch habe die Prüfungskommission selbst ausgeschlossen, daß in Münster regelrechte Manipulation oder kriminelle Energie am Werk gewesen sei.

Diese bemerkenswerte Milde der Kommission, die nicht minder erstaunlich wie die Rechtfertigungsstrategie am Uniklinikum Münster daherkommt, bedarf einer näheren Prüfung. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang, was der Vorsitzende der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, im Gespräch mit dem Deutschlandfunk zu berichten weiß. Es wurde nämlich zwischen systematischen und nicht-systematischen Richtlinienverstößen unterschieden, wodurch letztere ausgeblendet werden konnten. Wer jedoch die Liste aufmerksam prüfe und dabei sogenannte Einzelfälle einbeziehe, komme zu dem Schluß, daß es nicht wie im Kommissionsbericht behauptet bei 20 Zentren keine Beanstandungen gegeben, sondern allenfalls eine gute Handvoll keine Regelverstöße aufgewiesen habe. Damit kehrt sich natürlich das postulierte Verhältnis um, wonach Verstöße die Ausnahme gewesen seien und sich auf einige wenige Zentren beschränkt hätten.

Auch täuscht der Eindruck, die Kommission habe alle in Frage kommenden Fälle überprüft. Vielmehr war es im Laufe ihrer mehr als einjährigen Tätigkeit lediglich möglich, ein Viertel aller tatsächlich vorgenommenen Organtransplantationen unter die Lupe zu nehmen. Für eine komplette Auswertung müssen noch etwa drei Viertel nachgearbeitet werden, was eine erhebliche Verschiebung der Resultate zumindest nicht ausschließt. Wie Brysch zudem moniert, habe die Bundesärztekammer im September 2012 eine fortlaufende Prüfung zugesagt, ohne daß es bislang dazu gekommen sei. Von einer permanenten Kontrolle der aktuellen Praxis, wie sie suggeriert wird, könne also bisher keine Rede sein.

Aus Sicht des Patientenschutzes ist ein Vertrauen in die Bereitschaft privater Akteure, das eigene Handeln einer grundlegenden Prüfung zu unterwerfen und daraus akzeptable Konsequenzen zu ziehen, verständlicherweise nicht gerechtfertigt. Brysch fordert als ersten Schritt, die Prüf- und Überwachungskommission in staatliche Hände zu überführen. Erforderlich sei darüber hinaus ein transparentes System, das den Menschen auf der Warteliste Sicherheit gibt:

Wir wünschen uns in dieser Frage eine Politik, die endlich die Patientenrechte ernst nimmt. Wir brauchen, wenn der Wunsch existiert, für Menschen auf der Warteliste auch ein Einblicksrecht. Wir brauchen eine Regelung, wenn es um Lebenschancen geht, die der Bundestag festsetzt. Wir brauchen ein klares Halt, wenn es darum geht, dass die Bundesärztekammer bei der Leber die Frage der Dringlichkeit beantwortet, aber die Frage der Erfolgsaussicht überhaupt nicht mehr diskutiert. Das ist eindeutig kein Regelverstoß, sondern ein Gesetzesverstoß. Und wir glauben, dass die Frage, wer weiterleben darf und wer sterben muss, keine Frage von privaten Akteuren ist, sondern von staatlicher Verantwortung und den legitimen Vertretern unseres Volkes, und die sitzen im Deutschen Bundestag.[2]

Wieso es allerdings besser um die Interessen der Patienten bestellt sein soll, wenn der Bundestag die Regeln ihrer Lebenschancen festsetzt, und die Frage von Leben und Tod in staatlicher Verantwortung gut aufgehoben sei, erschließt sich freilich nicht. Eher steht zu befürchten, daß die Patienten vom Regen in die Traufe kommen, wenn der Transplantationsprozeß von allen Unwuchten befreit und gründlich durchreglementiert wird.

Daß der Deutsche Bundestag der von der Transplantationsmedizin favorisierten Widerspruchsregelung eine Absage erteilt hat, hält Brysch aus verfassungsrechtlichen Gründen für unumgänglich. Um so mehr plädiert er für eine staatliche Kontrolle und Verantwortung, die die Richtlinien der Bundesärztekammer einer Prüfung durch das Gesundheitsministerium unterzieht. Wolle man in aller Ernsthaftigkeit für eine Organspende werben, dürfe man dem ohnehin schwierigen Unterfangen, bei einer Patientenverfügung dem Gedanken an eine Organspende Raum zu schaffen, keine zusätzlichen Steine in den Weg legen.

Daß man Vertrauen zurückgewinnen müsse und könne, meint auch der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Jens Spahn. Er weist im Deutschlandfunk die naheliegende These entschieden zurück, daß in den Organzentren viel Geld verdient werde, und möchte das Wort "lukrativ" am liebsten gar nicht in den Mund nehmen. Als dränge das, was er so gern verschweigen würde, um so mehr hervor, rutscht ihm jedoch der Satz heraus, daß "solche Organe, die ja selten, die rar sind, die Gold wert sind im wahrsten Sinne des Wortes", nach Maßgabe der Überlebenschancen eingesetzt werden sollten. Beim Stichwort "Gold" hakt Moderator Dirk Müller natürlich nach, was dem CDU-Gesundheitspolitiker folgenden argumentativen Eiertanz abnötigt:

Geld verdient mit dem Organ an sich wird nicht. Weil, es wird natürlich die Operation bezahlt für das Krankenhaus, und das ist im Vergleich zu anderen Operationen schon eine, die auch Geld bringt, andersrum braucht sie auch viel Aufwand, braucht sie viel Personal. Mein Eindruck ist eher, das sagt der Herr Montgomery im Beitrag ja gerade auch, der Ärztepräsident, dass es zum Teil um Ruhm und Ehre geht, also wer transplantiert am meisten. (...) Und manchmal geht es vielleicht sogar auch darum, wer hilft seinen Patienten. Also man will seinem eigenen Patienten was Gutes, weil man ihn leiden sieht, schadet aber damit möglicherweise anderen auf der Warteliste, und so ist am Ende das Motiv egal. Jede Art von Manipulation bringt eben Probleme für andere, die warten.[3]

Um die Triebkräfte und Mechanismen der Gesundheitsindustrie zu verschleiern, muß die läßliche Sünde eines ärztlichen Strebens nach "Ruhm und Ehre" herhalten, das bei Spahn unversehens in den edlen Wunsch übergeht, voller Mitleid das Beste für die eigenen Patienten herauszuschlagen. Am Ende sei das Motiv egal, wiegelt der CDU-Politiker ab, um dann zu behaupten, daß man längst aus Fehlern gelernt und die Rahmenbedingungen so verändert habe, daß Verstöße entdeckt und bestraft würden. Deshalb gehe er davon aus, "dass mit der öffentlichen Debatte auch diese Art von Manipulation oder überhaupt Manipulation zu Ende" sei. Menschen, die bereit sind, Organe zu spenden, könnten sich darauf verlassen, daß alles mit rechten Dingen zugeht.

Der Konsens im Gesundheitswesen, die manipulierten Organspendedaten zu isolierten Ausnahmefällen herunterzuspielen, geht bei Spahn so weit, die Verhältnisse vollends auf den Kopf zu stellen. Der Mangel an Organen sei der eigentliche Auslöser für die Skandale im vergangenen Jahr. Stünden viel zu wenig Organe zur Verfügung, komme es zu diesem Kampf, dreht der CDU-Gesundheitspolitiker kurzerhand den Spieß um und schiebt die Verantwortung für das Ärgernis den Bundesbürgern und deren geringer Spendebereitschaft zu. Nicht die Ärzte und Kliniken hätten sich etwas vorzuwerfen, sondern die spendeunwillige Bevölkerung, lautet Spahns Botschaft im Klartext. Vertrauenerweckend klingt das nicht, wenn einem weisgemacht werden soll, Mißtrauen gegenüber der Transplantationsmedizin sei nicht nur ungerechtfertigt, sondern sogar die Wurzel des Übels.

[1] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/2240582/

[2] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/2239564/

[3] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/2240322/

7. September 2013