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RAUB/1104: Standortnationalismus, Krisenkonkurrenz ... wen schützt der Klimaschutz? (SB)



Es ist eben kein "Armutszeugnis", wie die klimapolitische Sprecherin der Grünen, Annalena Baerbock, die nicht zustande gekommene Verabschiedung des Klimaschutzplans 2050 im Bundeskabinett bezeichnet. Es ist allemal ein Zeugnis überbordenden Reichtums und seiner Bestandssicherung, keine besondere Eile bei der Umsetzung der vor einem Jahr im Weltklimavertrag von Paris getroffenen Übereinkunft, die nationalen Klimaschutzziele möglichst bald zu erreichen, an den Tag zu legen. Da es zudem keine völkerrechtliche Verpflichtung gibt und es den Staaten überlassen bleibt, wie umfassend sie die Reduktion klimawirksamer Gase vollziehen, ist die moralische Argumentation, alle müßten das Ihrige dazu leisten, eine katastrophale Entwicklung des Weltklimas zu verhindern, für die öffentliche Debatte so zentral wie für die konkrete Ergebnislage irrelevant.

"Blamabel" sei es, daß die deutsche Delegation beim Klimagipfel in Marrakesch mit leeren Händen anreist. Mit der früheren Umweltministerin Angela Merkel, die ihren Ruf als "Klimakanzlerin" zuletzt auf dem G7-Gipfel in Elmau mit der Ankündigung der bevorstehenden Dekarbonisierung der Weltwirtschaft verteidigte, wird hart ins Gericht gegangen. Sie mache nicht von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch, um den Klimaschutzplan rechtzeitig unter Dach und Fach zu bringen. Dabei wäre der Ärger um so größer, wenn sie die nationalen Standortinteressen, die sie in erster Linie zu wahren hat, nicht mit aller Rücksichtslosigkeit in der internationalen Krisenkonkurrenz durchsetzte. Für alles, was Investition und Produktion beflügelt, sind nun einmal ein eher langsam verlaufender Kohleausstieg, für den sich Wirtschaftsminister Gabriel starkmacht, der weitere Gebrauch von Verbrennungsmotoren, wie von Verkehrsminister Dobrindt verlangt, und die Verteidigung der hochproduktiven Landwirtschaft gegen wirksame Auflagen zur Emissionsbegrenzung, so Agrarminister Schmidt, wesentlich.

Diese Reichtumsproduktion kann erst dekarbonisiert werden, wenn Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit es zulassen. Marktwirtschaft und Kapitalakkumulation sollen die Energiewende antreiben, um ein Krisenmanagement zu gewährleisten, das die "Menschheit" gegen sich selbst in Stellung bringt. Um den Finger nicht allzusehr in die Wunde konkreter Benachteiligung des Großteils der Weltbevölkerung zu legen, bedarf es ausgefuchster Lösungskonzepte mit Heilsperspektive. So sei der ökologische Umbau der Gesellschaften abhängig von einer Produktivkraftentwicklung, die die klimaschädlichen Folgen fortgesetzten Wachstums durch Effizienzgewinne nicht nur neutralisieren, sondern sogar senken kann. Nun ist Effizienzsteigerung im Sinne fortwährender Kostensenkung und hoher Kapitalproduktivität seit jeher ein Leitprinzip erfolgreichen Wirtschaftens. Die These einer dadurch bedingten Entkopplung ökonomischen Wachstums von seiner immanenten Zerstörungskraft hingegen beweist nur, daß das professionelle Akzeptanzmanagement der PR-Abteilungen und Wissenschaftsinstitutionen immer effizienter wird.

Die dabei ungelösten Probleme sind Legion, sie reichen von einem weiterhin emissionsträchtigen Ressourcenverbrauch über die fortgesetzte verkehrstechnische Versiegelung und landwirtschaftliche Zerstörung des Bodens bis zu der Frage, wovon die lohnabhängige Weltbevölkerung in Zukunft leben soll. Steht ihre Arbeitskraft zusehends in direkter Konkurrenz zu einer mit informations- und automationstechnischen Mitteln rationalisierten Industrie und Verwaltung, dann wird sie nur noch für Tätigkeiten benötigt werden, die aus Kostengründen keinen Maschineneinsatz rechtfertigen. Das wiederum schwächte die Kampfkraft der Lohnabhängigenklasse so sehr, daß die weitere Effizenzsteigerung in der Produktion schon aus herrschaftstechnischer Sicht eine gute Idee ist.

Was hat die Frage lohnabhängiger Arbeit mit der Verhinderung des Klimawandels zu tun? Sie steht nicht nur einer klimaschonenden Konversion im Weg, ahnen die Menschen doch, daß die Versprechen des grünen Kapitalismus auf Sand gebaut sind, den sie am Ende hin und her schippen müssen, weil es ohne Unterwerfung unter das gesellschaftliche Arbeitsregime nichts zu beißen gibt. Die Produktion kann noch so effizient sein, doch läuft sie leer, wenn sie keinen ihr entsprechenden Konsum bedienen kann. Daß dieser Mittel zu ihrem Zweck, der privaten Aneignung gesellschaftlicher produzierter Werte, ist, anstatt durch die Interessen und Bedürfnisse der "Verbraucher" bestimmt zu werden, kann tagtäglich anhand der paternalistischen Zurichtung der Menschen auf die Einhaltung bestimmter Verhaltens- und Gesundheitsnormen erlebt werden. Sonst könnten sie auf den Gedanken kommen, ihren Verbrauch nicht im Sinne derjenigen zu organisieren, die ihn marktförmig und werbetechnisch konfigurieren, sondern anhand eines gesellschaftlichen Bedarfs, in dem ihre eigenen Interessen vollständig eingebracht und aufgehoben sind.

Eine durch die technisch-wissenschaftliche Innovationsdynamik der mikroelektronischen Produktionsweise befeuerte Effizienzsteigerung, die Lohnarbeit aus Kostengründen reduziert, aber die Menschen nicht dazu befreit, ohne Verdienst und damit ohne Herren zu leben, triebe die zerstörerische Logik fremdbestimmter Kapitalverwertung in neue Höhen. Solange die Zwecke der Produktion keine menschlichen, tierlichen oder natürlichen sind, ist ihre Auskleidung mit welchen ethischen Absichten auch immer bloße Fassade. Da das fortwährende Wirtschaftswachstum zwar Rechenschaft über seine Klimaverträglichkeit abzulegen hat, die Frage nach seiner sozialen Verträglichkeit, die ohnehin nur gestellt wurde, als sich der Kapitalismus gegenüber einer sozialistischen Alternative zu behaupten hatte, jedoch immer weiter hinter die Sicherung des globalen ökologischen Bestandes und den dadurch bedingten Zugriff auf Überlebensressourcen zurückfällt, dient es allem anderen als dem Interesse einer "Menschheit".

Nur auf den Begriff einer solchen Abstraktion gebracht läßt sich das gemeinsame Interesse des Klimaschutzes formulieren. Vor der zutiefst gebrochenen Konkretion des vergesellschafteten Menschen, der als ohnmächtiges und isoliertes Subjekt fremdbestimmter Verhältnisse kaum mehr fähig ist, auch nur einen Klassenstandpunkt zu beziehen, erfüllen die Nachhaltigkeits- und Suffizienzkonstrukte des ökologischen Krisenmanagements wenig mehr als die Aufgabe, das ganze Ausmaß durch den Klimawandel weltweit verschärfter sozialer Ungleichheit zu bemänteln. Wen also schützt der Klimaschutz? Daß diese Frage nicht im Mittelpunkt der Debatte steht, ist das tatsächliche "Armutszeugnis" dieser Gesellschaft. Sie findet auch deshalb nicht mehr aus den Spiegellabyrinthen der Rechtsansprüche und Legitimationskonstrukte heraus, weil sich kaum mehr jemand daran erinnern mag, daß es einen Ausgang zumindest einmal gegeben haben soll.

Als Industriestandort für technologische Spitzenleistungen, der zudem in einer gemäßigten Klimazone gelegen ist und vom globalen Produktivitätsgefälle maximal profitiert, hat die Bundesrepublik eben nicht die gleichen Probleme wie jene Länder des Globalen Südens, die ihre Bevölkerungen schon lange nicht mehr ernähren und dies in Zukunft immer weniger tun können. Die anwachsende Abwehr notgetriebener Flüchtlinge, die diesen Unterschied greif- und faßbar machen, spricht Bände. Während ihre Länder durch den Klimawandel in absehbarer Zeit unbewohnbar werden, kann man es sich hierzulande erlauben, die fossile Energieerzeugung erst dann einzustellen, wenn deren Kostenaufwand durch erneuerbare Energien so unrentabel wird, daß sich Braunkohle, Gas und Öl nicht mehr rechnen. Man braucht die Agrarproduktion nicht auf weniger Tierverbrauch umzustellen, wenn sich ihre Produkte weiterhin absetzen lassen, und sei es zum Preis wachsender Ausbeutung des Lebens der Tiere und der sie bewirtschaftenden Arbeitskraft, der agroindustriellen Verödung der Landschaften, der Vergiftung des Trinkwassers wie der Zerstörung kleinbäuerlicher Betriebe und Substistenzgemeinschaften in aller Welt.

Wenn Bundesumweltministerin Hendricks anläßlich des Debakels, mit ihren Plänen an diversen Ministerkollegen zu scheitern, warnt, Deutschland dürfe nicht seine einstige Vorreiterrolle im Klimaschutz an die USA oder China verlieren, dann greift sie auf den einzig nennenswerten Grund dafür zurück, die Blockade einer zumindest bemühten Klimapolitik vielleicht doch noch einmal zu überdenken. Auf dem Spiel steht das Besetzen künftiger Spitzenpositionen in der industriellen Bewältigung einer globalen Katastrophe, die bei allem Niedergang denjenigen Staaten geldwerte wie geostrategische Vorteile verheißt, die über Mittel und Wege verfügen, daß Desaster der Extremwetter und der Ressourcenvernichtung, der Überschwemmungen und Dürren in neue Entwicklungs- und Wachstumschancen zu verwandeln.

Dieses Szenario umfaßt nicht nur den Aufbau großdimensionierter Infrastrukturen für die Stromproduktion aus erneuerbaren Energiequellen, sondern auch die sich bereits abzeichende Renaissance atomar erzeugter Elektrizität, die Entwicklung riskanter Lösungen für sogenannten Negativemissionen und den Ausbau eines Finanzmarktes, auf dem, wie am Handel mit Verschmutzungsrechten vorexerziert, Mangel und Lebensnot zur Ware gemacht werden. Man darf schon einmal gespannt darauf sein, welche Investitionsmöglichkeiten die in Marrakesch verhandelten Umsetzungspartnerschaften mit den Ländern des Globalen Südens hervorbringen werden.

Ansonsten gilt, der Aufregung um das klimapolitische Hin und Her in Berlin nicht zu viel Aufmerksamkeit zu schenken, dient es doch neben der permanenten Ausblendung des zentralen sozialen Konflikts auch der Ablenkung von drohender Kriegsgefahr. Wenn selbst ein Schadensfall wie der einer militärischen Konfrontation zwischen NATO und Rußland sehenden Auges riskiert wird, dann braucht sich der Mensch über die durch Standortpolitik und Krisenkonkurrenz angeschlagene Glaubwürdigkeit internationalen Klimaschutzes jedenfalls keine Gedanken mehr zu machen.

2. November 2016


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