Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


RAUB/1188: Wohnraum - die Unterkunft als Mangelware ... (SB)



Wenn man den Bestand (bezahlbarer) Wohnungen jetzt nicht schützt, muss man für die Menschen, die aus ihnen vertrieben werden, noch zusätzlich neue Wohnungen bauen. Da würde man mit dem Neubau nie hinterher kommen. Neubau von bezahlbaren Wohnungen und der Schutz des Bestands sind die zwei Standbeine einer sozialen Wohnungspolitik. Wer nur auf einem Bein steht, fällt auf die Nase.
Rouzbeh Taheri (Bündnis "Deutsche Wohnen und Co. enteignen") [1]

Eigentum verpflichtet, argumentieren die Besitzenden, und verstehen darunter, aus Geld mehr Geld zu machen, wofür zwangsläufig jemand die Zeche bezahlen muß. Eigentum verpflichtet, fordern die Besitzlosen, und verlangen zumindest eine Form staatlicher Regulierung, die ihnen ein Leben unter halbwegs erträglichen Umständen ermöglicht. Artikel 15 des Grundgesetzes läßt unter Bedingungen die Überführung von Grund und Boden oder Produktionsmitteln in Gemeineigentum zu, wofür aber Entschädigungen zu zahlen sind. Bezeichnenderweise wurde dieser Artikel nach Angaben von Verfassungsrechtlern in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie angewendet, gilt es doch schon den Anfängen einer ernsthaften Kontroverse um die herrschende Eigentumsordnung zu wehren. Wohnen ist ein Grundrecht und keine Ware für Spekulanten, betont die neue Mietenbewegung, die sich in Berlin "Deutsche Wohnen und Co. enteignen" auf ihre Fahnen geschrieben hat und mittels einer Vergesellschaftung bezahlbare Mieten für alle anstrebt.

Wenngleich die aktuelle Mietenbewegung natürlich ihre Vorgeschichte hat, da sie auf jahrzehntelange Kämpfe zahlreicher Initiativen um bezahlbaren Wohnraum und gegen Zwangsräumungen gründet, sorgt sie doch nicht nur angesichts ihrer gewachsenen Größe, sondern auch wegen ihrer Forderung nach Enteignung für ein Novum. Da sich die politischen Parteien der Frage weithin fehlenden Wohnraums vor allem in den großen Städten stellen müssen, wollen sie nicht Gesicht und Wählerstimmen verlieren, erzwingt die massenhafte Präsenz der Mietenbewegung auf der Straße und ihre Stoßrichtung eine sofortige Reaktion und eine kontroverse Diskussion um eine der sozialen Kernfragen, die derzeit die Menschen umtreiben.

Am Samstag haben Zehntausende Menschen deutschlandweit unter dem Motto "Gemeinsam gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn" für bezahlbaren Wohnraum demonstriert. Veranstalter war das Bundesweite Bündnis #Mietenwahnsinn, das von mindestens 55.000 Demonstrierenden in 19 Städten sprach, darunter neben Berlin auch Köln, Dresden, Leipzig, Hannover, Göttingen, Bremen, Hamburg, Frankfurt, München und Stuttgart. Auch in Barcelona gingen mehrere tausend Menschen auf die Straße. In Berlin hatten rund 280 Initiativen zum gemeinsamen Protest aufgerufen, die Polizei sprach von weit über 10.000 Teilnehmenden, die Veranstalter von bis zu 40.000. [2]

In der Hauptstadt ist der Protest mit einem Volksbegehren des Bündnisses "Deutsche Wohnen und Co. enteignen" verbunden. Die InitiatorInnen brauchen 20.000 Unterschriften, um die erste Hürde zu nehmen, wofür sie sechs Monate Zeit haben. Daß das erreicht wird, gilt als sicher. Setzt das Landesparlament die Inhalte des Begehrens nicht um, braucht die Initiative in einer zweiten Stufe die Unterschriften von mindestens sieben Prozent der Wahlberechtigten, also rund 170.000. Gelingt das, folgt ein Volksentscheid. Angestrebt wird die Enteignung privater Wohnungsunternehmen, die mehr als 3.000 Wohnungen besitzen. Allein der Firma Deutsche Wohnen gehören rund 160.000 Wohnungen im Bundesgebiet, davon rund 112.000 in Berlin. Das Land Berlin soll den betreffenden Unternehmen die Wohnungen zwangsweise abkaufen.

Den Konzern Deutsche Wohnen hat die Mietenbewegung nicht nur wegen seines umfangreichen Immobilienbesitzes, sondern auch wegen seines Umgangs mit MieterInnen besonders aufs Korn genommen. Der Vorstand der Immobiliengesellschaft, Michael Zahn, kritisiert zwar "eine Politik, die immer über bezahlbares Wohnen spricht, aber noch nie gesagt hat, wie das aussehen soll". Dem hält jedoch Rouzbeh Taheri, ein Sprecher der Initiative, entgegen, die Deutsche Wohnen sei in den letzten Jahren wie ein Fremdkörper in die Stadt eingefallen und verfolge nur das Ziel, die Mieten in seinen Wohnungen nach oben zu treiben. Viele Berliner hätten mittlerweile negative Erfahrungen mit diesem Konzern gemacht oder von Freunden, Bekannten oder Verwandten erfahren, daß er ausschließlich im Interesse der Aktionäre, ohne Rücksicht auf Mieterinnen und Mieter agiere.

Vor dem Start des Volksbegehrens hatten Wirtschaftsverbände, Politiker und der Bund der Steuerzahler vor der Enteignung großer Wohnungsunternehmen gewarnt. Als ein Hauptargument führen sie an, daß dadurch kein neuer Wohnraum entstehen würde. Verschiedene Kapitalverbände sehen angesichts der Enteignungsdiskussion bereits "Zustände wie in der DDR" heraufziehen und erklären, Berlin drohe eine Herabstufung durch die Ratingagenturen. Wenngleich sich im rot-rot-grünen Senat der Regierende Bürgermeister Müller klar gegen Enteignungen ausgesprochen hat, ist es offenbar unsicher, ob er die Mehrheit seiner SPD hinter sich weiß. Die Linken befürworten das Volksbegehren, und Bausenatorin Katrin Lompscher nahm als Privatperson an der Demonstration teil. Das Anliegen komme aus der Mitte der Berliner Stadtgesellschaft, und als große Anhängerin der direkten Demokratie werde sie sich deshalb nicht an die Spitze der Bewegung stellen. "Die Debatte rund um das Volksbegehren sehe ich jedoch als wichtigen Beitrag zum Umgang mit der Wohnungsfrage als eine der zentralen sozialen Fragen unserer Zeit."

Die Berliner Grünen wollen sich in der Enteignungsdebatte noch Zeit für eine Position lassen. So sagte Landeschefin Nina Stahr auf dem Landesparteitag, daß das Thema zu komplex sei, als daß es eine einfache Antwort geben könnte. Harsche Kritik übte die FDP-Fraktion im Abgeordnetenhaus an Demonstration und Volksbegehren. "Diese Mieten-Demo setzt die falschen Signale und spielt bewusst mit den Ängsten der Menschen dieser Stadt", sagte der Fraktionsvorsitzende Sebastian Czaja. Wirkungsvoller wäre ein Aufschrei für eine Neubauoffensive und mehr genossenschaftliches Wohnen in Berlin. Die Initiatoren des Volksbegehren förderten aber weitere Verknappung von Wohnraum und die Ausgrenzung von Menschen. "Wer klaut statt baut, gefährdet die Zukunft unserer Stadt und den sozialen Frieden", so Czaja. [3]

Die grassierende Wohnungsnot bis tief in die Mittelschichten hinein setzt die Bundesregierung unter Zugzwang, und so streicht sie denn auch allenthalben heraus, wie viel sie bereits auf den Weg gebracht habe. Die Große Koalition will den Bau von Mietwohnungen ankurbeln und hat dafür neue Abschreibungsmöglichkeiten geschaffen. Die Förderung von Sozialwohnungen läuft mit zwei Milliarden Euro im Jahr weiter auf hohem Niveau. Die Mietpreisbremse wurde verschärft, Mieterhöhungen bei Modernisierung wurden gedeckelt. Allerdings fehlt es an Bauland, das die Kommunen zur Verfügung stellen müßten. Die Zahl der neu gebauten Wohnungen ist in Deutschland von 160.000 im Jahr 2010 auf rund 300.000 im vergangenen Jahr gestiegen, doch gehen Experten davon aus, daß eine Senkung der Mieten zumindest in beliebten Großstädten in absehbarer Zeit nicht zu erwarten sei.

Auch Bundesbauminister Horst Seehofer nennt die Wohnungsfrage "die soziale Frage unserer Zeit". Die Bundesregierung habe seit März 2018 mit zahlreichen Maßnahmen gegengesteuert. "Trotz einer beachtlichen Steigerung der Bautätigkeit bleibt die Wohnungsmarktsituation in den wirtschaftsstarken Regionen deutlich angespannt", muß Seehofer jedoch einräumen. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt übt scharfe Kritik am Volksbegehren: "Wohnen ist die neue soziale Frage, die kann man aber nicht sozialistisch beantworten." [4] "Steinzeitkommunismus" höhnt Alice Weidel aus dem Lager der AfD. Ähnlich zieht FDP-Chef Lindner vom Leder: "Gegen steigende Mieten helfen nur mehr Wohnungen und nicht DDR-Ideen." Das Konzept sei kontraproduktiv, weil es private Investitionen in Wohnungen verschrecke und die Eigentumsgarantie der Verfassung beschädige. Die FDP macht sich sogar dafür stark, Artikel 15 des Grundgesetzes zu streichen.

Auch die SPD will keine Wohnungsgesellschaften enteignen, um gegen steigende Mieten vorzugehen. Die Bundesvorsitzende Andrea Nahles äußert zwar Verständnis für "die Wut auf Wohnungskonzerne, die jeden Cent aus den Mietern rauspressen wollen". Aber Enteignungen dauerten Jahre und schafften keine einzige Wohnung. Die für Entschädigungen fälligen Milliardenzahlungen des Staates fehlten für den dringend benötigten Neubau durch öffentliche Wohnungsbaugesellschaften. Statt Enteignungen wolle die SPD einen "Mietenstopp und das verfügbare Geld in bezahlbaren Wohnraum investieren, damit mehr Wohnungen entstehen".

Dem entgegnet die Linken-Vorsitzende Katja Kipping, sie wünsche sich mehr Mut von Andrea Nahles und der SPD. "Enteignungen von vornherein auszuschließen, obwohl sie das Grundgesetz erlaubt, ist das falsche Zeichen." Die Mitte werde jeden Monat durch explodierende Mieten enteignet. "Deshalb brauchen wir die Sozialisierung der Wohnungskonzerne", fordert Kipping. "Wir müssen das Problem an der Wurzel lösen. Eine Regierungsalternative links der Union kann nicht bei der Verwaltung der Missstände stehen bleiben." [5]

Der Vorsitzende der Grünen, Robert Habeck, kann sich unter bestimmten Bedingungen die Enteignung großer Wohnungskonzerne vorstellen. Zeigten andere Maßnahmen keinen Erfolg, um für ausreichend günstigen Wohnraum zu sorgen, müsse notfalls die Enteignung folgen. Das Grundgesetz sehe solche Enteignungen zugunsten des Allgemeinwohls grundsätzlich vor. "Es wäre doch absurd, wenn wir das nur anwenden, um neue Autobahnen zu bauen, aber nicht, um gegen die grassierende Wohnungsnot vorzugehen." Zunächst einmal solle Bundesfinanzminister Olaf Scholz aber die Bundesimmobiliengesellschaft anweisen, ihre Grundstücke nicht meistbietend zu verkaufen, sondern an die Kommunen abzugeben, wenn diese darauf Sozialwohnungen bauten. Zudem sprach sich Habeck für Maßnahmen gegen Bodenspekulanten aus.

Des Einwands, Enteignungen schafften keine neuen Wohnungen, sind sich die InitiatorInnen des Volksbegehrens bewußt. Man erwarte nicht, daß bei der Aktion neuer Wohnraum entsteht, so Rouzbeh Taheri, sondern wolle ein Zeichen der Gegenmacht zur Spekulation mit Wohnraum setzen. Ziel sei es, den Bestand von bezahlbaren Wohnungen zu schützen. Unterlasse man das, müsse man für die Menschen, die aus ihren Wohnungen vertrieben werden, noch zusätzlich neue Wohnungen bauen. Neubau von bezahlbaren Wohnungen und der Schutz des Bestands seien die zwei Standbeine einer sozialen Wohnungspolitik. "Wer nur auf einem Bein steht, fällt auf die Nase." Die Diskussion in Berlin habe sich komplett verschoben, hin zu den Interessen der Mieterinnen und Mieter. Die Parteien versuchten, sich gegenseitig mit Vorschlägen zu überbieten, wie man Mieten regulieren kann, und das sei schon für sich genommen ein Erfolg.

Ob die Ausrichtung der Initiative auf einen langwierigen Volksentscheid produktiv ist, gilt in der Berliner Mietergemeinschaft als umstritten. Der Kampf um bezahlbaren Wohnraum für alle griffe jedoch zu kurz, blendete er die Eigentumsfrage aus. Diese zu stellen und damit eine öffentliche Diskussion anzustoßen, zeichnet die Initiative "Deutsche Wohnen und Co. enteignen" aus. Wie sehr allein schon ein solcher Vorstoß am Eingemachten der Klassengesellschaft rührt, dokumentieren die wütenden Reaktionen aus Kreisen der Immobilienwirtschaft und kapitalfreundlichen Politik.


Fußnoten:

[1] www.heise.de/tp/features/Deutschland-Proteste-gegen-den-Mietwahnsinn-4365408.html

[2] www.focus.de/politik/deutschland/bundesweite-proteste-warum-beim-streit-um-enteignungen-gegner-und-befuerworter-das-grundgesetz-bemuehen_id_10559963.html

[3] www.morgenpost.de/berlin/article216849573/Mietenwahnsinn-Demo-in-Berlin-35-000-Menschen-machen-ihrer-Wut-Luft.html

[4] www.zeit.de/politik/deutschland/2019-04/immobilien-enteignung-wohnungskonzerne-robert-habeck-die-gruenen

[5] www.welt.de/politik/deutschland/article191485329/Steigende-Mieten-Kipping-wuenscht-sich-bei-Enteignungen-mehr-Mut-von-der-SPD.html

8. April 2019


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang