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RAUB/1193: Hunger - trügerische Zahlen ... (SB)



Altogether, humans are producing a cocktail of reactive nitrogen that threatens health, climate and ecosystems, making nitrogen one of the most important pollution issues facing humanity. Yet the scale of the problem remains largely unknown and unacknowledged outside scientific circles.
The Nitrogen Fix: From nitrogen cycle pollution to nitrogen circular economy [1]

Was "genug" in der sogenannten Welternährung bedeutet, darüber bestimmt nicht der Hunger, sondern der Markt. Es war noch nie "genug" vorhanden in Anbetracht dessen, daß eine Milliarde Hungernder keine zahlungsfähige Nachfrage darstellen und in der distributiven Logik der Ökonomie lediglich vorkommen, wenn Institutionen der Hungerhilfe diese Nachfrage - auf allerdings stets ungenügende Weise - durch Spenden oder öffentliche Gelder substituieren. Sinkende Erträge werden auch in Zukunft über den Preis reguliert, wenn nicht autoritäre Verhältnisse noch ungerechtere Verteilungsmethoden hervorbringen. Das Problem der agrarindustriellen Produktionsweise, mit immer höheren Stickstoffeinträgen relativ dazu abnehmende Erträge zu erzielen, dabei die Landschaft in eine tierfreie Einöde, das Trinkwasser in einen gesundheitsgefährdenden Nitratcocktail und den Nährwert der Feldfrüchte in bloßen Schein zu verwandeln, wird in der quantitativen Diskussion der Welternährung nicht genügend gewürdigt. Gleiches gilt für den erheblichen Anteil an Getreide und Ölsaaten, die in die Biomasse-, Agrosprit- und Tierproduktion gehen, und die klimarelevanten Auswirkungen einer Hochleistungslandwirtschaft, deren Erträge vor allem durch synthetischen Mineraldünger und intensiven Pestizideinsatz gewährleistet werden.

Alle Vor- und Folgeleistungen einbezogen wird der Anteil des industriellen Ernährungssystems am Klimawandel auf etwa 50 Prozent geschätzt. Die Böden, auf denen Nahrungsmittel für den direkten Verzehr oder den indirekten Verbrauch durch die Tierproduktion erzeugt werden, speichern etwa dreimal soviel Kohlenstoff wie die atembare Atmosphäre. Dementsprechend bedeutsam für den Klimawandel ist ihre Degradation durch industriell erzeugten Mineraldünger, bei dem es sich in den meisten Fällen um synthetischen Stickstoff handelt. Die Effizienz der mineralischen Düngemittel, also das, was tatsächlich in der Erzeugung von Nahrungsmitteln resultiert, liegt bei 20 Prozent. 80 Prozent werden mithin in die Süßwassersysteme ausgewaschen, reichern diese mit gesundheitsschädlichem Nitrat an und enden in Seen und Meeren, wo sie zur Algenblüte führen, während anderen Bioorganismen der Sauerstoff genommen wird. Ammoniak als hauptsächliches Zerfallsprodukt bioorganischer Substanz belastet die Atemluft - unabhängig von der regionalen Verteilung - in einem höheren Ausmaß mit Feinstäuben als der motorisierte Straßenverkehr. Das bei der Düngung wie bei der Tierproduktion freigesetzte Lachgas ist ein für den relevanten Zeithorizont zur Bekämpfung des Klimawandels 265mal so wirksames Treibhausgas wie CO2.

Der Umweltwissenschaftler Vaclav Smil ist der Ansicht, daß der menschliche Einfluß auf den Stickstoffkreislauf weit mehr unerwünschte Folgewirkungen zeitigt als die menschlichen Eingriffe in den Kohlenstoffzyklus. Die fundamentalste aller Energieumwandlungen sei die Herstellung von Nahrungsmitteln, betrage die anthropogene Freisetzung von CO2 aus der Verbrennung fossiler Energie doch weniger als 10 Prozent der Aufnahme von Kohlenstoff durch terrestrische Photosynthese. Durch die Nutzung von Mineraldünger oder die Stickoxide in den Autoabgasen werde genausoviel reaktiver Stickstoff freigesetzt wie durch natürliche Prozesse, was seiner Ansicht nach rechtfertigt, der Beeinflussung des Stickstoffkreislaufes mindestens soviel Aufmerksamkeit zu zollen wie dem Klimawandel [2].

Bei der Düngemittelproduktion durch das Haber-Bosch-Verfahren, für Smil die wichtigste technologische Entwicklung des 20. Jahrhunderts, wird der der Luft entnommene Stickstoff zusammen mit Wasserstoff aus Erdgas unter hohen Drücken und Temperaturen zu Ammoniakdünger synthetisiert. Dieser Vorgang ist energetisch so anspruchsvoll, daß mehr als ein Prozent der Weltenergieproduktion in dieses chemieindustrielle Herstellungsverfahren fließt. Viel Energie wird in der industriellen Landwirtschaft aber auch beim Transport und dem Ausbringen des Saatgutes und der Düngemittel, bei der Bodenbearbeitung, bei der künstlichen Bewässerung der Felder, dem Beheizen von Gewächshäusern und dem Betrieb von Stallanlagen wie den teils langen Transportstrecken für Nahrungsmittel als auch ihre Aufbewahrung, Kühlung und Trocknung verbraucht. Gleiches gilt für Verfahren der digitalen Nahrungsmittelproduktion, deren Einspareffekte durch die Erhöhung der Effizienz von Düngemitteln und Pestiziden von den umfassenden informations- wie maschinentechnischen Prozessen tendentiell wieder aufgezehrt werden. Als Lösung für die hochgradige Ineffizienz der agroindustriellen Wirtschaftsweise beworben werden diese Technologien von transnationalen Konzernen, denen wiederum kein Aufwand zu groß ist, wenn er nur ihre Rentabilität sichert.

All dies steht in scharfem Kontrast zu kleinbäuerlichen und ökologischen Anbauweisen, deren Produkte, angebaut mit bodenschonenden Zwischenfruchtfolgen und unter Verwendung stickstoffixierender Leguminosen wie traditionellen Formen der Düngung und des Pflanzenschutzes, verpackt mit wiederverwendbaren Materialien, konserviert nach klassischen Methoden, die keiner stromverzehrenden Kühlung bedürfen, und verteilt in regionalen Strukturen weit weniger Primärenergie erfordern. Die mehrfache Steigerung der Erntergebnisse durch Mineraldüngemittel und Totalherbizide wie Glyphosat ist das zentrale Argument für die Fortsetzung einer von immer weniger globalen Monopolisten kontrollierten Nahrungsmittelproduktion. Da nicht einmal die Hälfte der Weltgetreideernte direkt für den menschlichen Verzehr zur Verfügung gestellt wird, sondern zu großen Teilen in Form von Agrotreibstoffen und Bioenergie verfeuert oder unverbraucht vernichtet wird wie als Futtermittel für die Herstellung von Fleisch, Milch und Eiern ein Mehrfaches ihres kalorischen Brennwertes in der Produktion verliert, stellt sich die Frage, ob es nicht in Anbetracht der zudem von dieser Nutzung verschärften Klimaproblematik sinnvoller wäre, auf nachhaltige Anbauweisen und effizientere Verbrauchsformen zurückzukommen.

Für die sich verengende Schere von Welthunger und Klimawandel ist die Stickstoffproblematik zentral. Sie hat bis heute im öffentlichen Bewußtsein nur einen nachrangigen Stellenwert, obwohl Weltorganisationen wie die Vereinten Nationen längst die Notwendigkeit einer Stickstoffwende erkannt haben. Die Frage der Welternährung zu diskutieren, ohne die Gefahren beim Namen zu nennen, die die ressourcenintensive und ökologisch destruktive Produktionsweise der transnationalen Agroindustrie in sich bergen, ist zumindest unseriös, wenn nicht kontraproduktiv. Wenn der Hunger nicht durch eine massive Ausweitung agroindustrieller Intensivwirtschaft bekämpft werden kann, weil die Grundlagen des Lebens dadurch noch schneller zerstört werden, ist es an der Zeit, über ganz andere Produktions- und Verbrauchsformen nachzudenken. Da dieser Ansatz wie alle ernstzunehmenden Strategien zur Beschränkung des Klimawandels soziale Veränderungen von grundstürzender Dimension erfordert, bleibt die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, ohne die keine sozial gerechte Ernährungssouveränität herzustellen sein wird, eine zentrale Forderung.


Fußnoten:

[1] aus UN Environment: Frontiers 2018/19: Emerging Issues of Environmental Concern, 04 March 2019
https://wedocs.unep.org/bitstream/handle/20.500.11822/27543/Frontiers1819_ch4.pdf?sequence=1&isAllowed=y.

[2] Vaclav Smil: Nitrogen cycle and world food production
http://vaclavsmil.com/wp-content/uploads/docs/smil-article-worldagriculture.pdf

22. April 2019


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