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RAUB/1204: Brasilien - teures Ernährungsprivileg ... (SB)



Das Agrobusiness liebt mich, wenn ich sage: Die Farmer bekommen ihre Gewehre! Unser Willkommensgruß an die Bewegung der Landlosen ist eine geladene Waffe.
Brasiliens Ministerpräsident Jair Bolsonaro im Wahlkampf 2018

Nun, da die Brandkatastrophe im amazonischen Regenwald weltweit für Aufsehen sorgt, sind schnelle Erklärungen für das erheblich angestiegene Ausmaß an Waldvernichtung in der alljährlichen Brandsaison wohlfeil. Es ist zugleich notwendig wie verkürzt, sich dabei fast ausschließlich am neofaschistischen Präsidenten Brasiliens abzuarbeiten. Notwendig, weil der Sohn eines Goldsuchers und Darling neoliberaler Regierungen in aller Welt ein ganz auf die weiße Vorherrschaft und das nationale Großkapital eingeschworener Politiker ist. Ein Neofaschist, wie er aufgrund seines Hasses auf homo- und transsexuelle Menschen, der von ihm propagierten Glorifizierung der brasilianischen Militärdiktatur, seiner offen gegen die indigene Bevölkerung des Landes gerichteten Vertreibungspolitik und der Bereitschaft, allen Bemühungen um eine schonende Bewirtschaftung des Planeten den Krieg zu erklären, im Buche steht, ist Bolsonaro dennoch nicht allein für das Desaster verantwortlich zu machen, bei dem sehenden Auges einer der zur Eindämmung der Klimakatastrophe wichtigsten Naturbestände zerstört wird.

Die sukzessive Abholzung und Umwandlung des gigantischen Regenwaldes Amazoniens und der für den regionalen Wasserhaushalt kaum weniger wichtigen Feuchtsavanne des Cerrado ist seit vielen Jahren im Gange und vor allem der agrarindustriellen Expansion der Rinderweiden und Sojafelder, der Abholzung wertvoller Bäume, dem Betrieb der Tagebauminen transnationaler Rohstoffkonzerne und den Staudämmen der nationalen Energiewirtschaft geschuldet. Schon unter Bolsonaros VorgängerInnen waren Angriffe auf die Landrechte der Indigenen und die Bekämpfung der Basisbewegung der Landlosen weit verbreitet. Zwar haben die reformsozialistischen Regierungen unter Luiz Inácio Lula da Silva und Dilma Rousseff die Ansprüche der indigenen Bevölkerung zumindest formal respektiert und die Ziele landloser KleinbäuerInnen unterstützt, doch trieben sie zugleich die energie- und agrarwirtschaftliche Erschließung des Regenwaldes voran. Nach ihrem Sturz hat sich die Lage mittelloser, von der Hand in den Mund lebender Menschen in Amazonien deutlich verschärft, während der Nachfolger des Interimspräsidenten Michel Temer, Jair Messias Bolsonaro, der ländlichen Armutsbevölkerung und vor allem den linken AktivistInnen unter ihr ganz offen mit Mord und Totschlag droht.


Brutale Landnahme durch ein neofaschistisches Regime

Seit seiner Amtseinführung hat sich die Geschwindigkeit, in der der Regenwald abgeholzt wird, fast verdreifacht. Mit der offenen Kampfansage an Indigene und Landlose hat Bolsonaro die Aneignungspläne der Großgrundbesitzer und Agrounternehmen praktisch legalisiert, was einen erheblichen Anstieg der Angriffe auf indigene Schutzgebiete und der Mordanschläge gegen AktivistInnen sozialer Bewegungen zur Folge hat. Amazonien ist die größte verbliebene Agrargrenze der Welt, an der als Acker oder Weide zugerichteter Boden auf urwaldartige Naturräume stößt. Der darin vorhandene Artenreichtum ist nur teilweise erschlossen, was die Begehrlichkeit der Prospektoren sogenannter Life Sciences ebenso weckt, wie die mineralischen Rohstoffe in der Erde Amazoniens die Lust der Bergbaukonzerne auf deren wirtschaftliche Erschließung anstacheln. Die Bedeutung des hochkomplexen Bewässerungsystems des Urwaldes, der praktisch seinen eigenen Niederschlag erzeugt, für das regionale Klima ist kaum hoch genug einzuschätzen, und der ökologische Wert des Waldes als Senke für Treibhausgase wird weltweit anerkannt.

Doch die in den letzten Wochen erfolgten Angriffe auf indigene Dörfer sind der internationalen Berichterstattung bestenfalls eine Fußnote wert. Als würden indigene Menschen im Sinne universaler Menschenrechte nicht vollständig anerkannt, bleiben die gegen sie gerichteten Aggressionen weitgehend unsichtbar. Tatsächlich stehen ihre Rechtsansprüche auch den in Amazonien verorteten Interessen transnationaler Unternehmen aus Nordamerika und Westeuropa im Weg, sind doch 20 Prozent des verbliebenen Regenwaldes als indigene Territorien ausgewiesen. An der kolonialistischen Landnahme, mit der ein euphemistisch auch "Menschheitserbe" genannter Naturbestand erobert und zerteilt wird, sind denn auch kapitalstarke Akteure aus aller Welt beteiligt.

Exemplarisch für die politische Ambivalenz, mit der die rücksichtslose Erschließungsstrategie Bolsonaros zurückgewiesen und die sie befördernden Handelsinteressen aufrechterhalten bleiben, ist die in der EU erhobene Forderung, die Ratifizierung des mit den Staaten des lateinamerikanischen Wirtschaftsraumes MERCOSUR avisierten Freihandelsabkommens solange zu verzögern, bis der brasilianische Präsident die Klimaschutzverpflichtungen des Paris-Abkommens anerkennt und nicht mehr systematisch alle dem Umweltschutz gewidmeten Behörden und Gesetze des Landes schleift. Das seit Jahren verhandelte Freihandelsabkommen würde jedoch zu einer Ausweitung des Handels mit Agrarprodukten und dem Anheizen des in erster Linie für die Zerstörung Amazoniens verantwortlichen Geschäftes der Agrarindustrie führen, was durch die vorgesehenen Menschenrechts- und Umweltauflagen kaum eingedämmt werden dürfte.

Der erhebliche Einfluß, den die großen Akteure des Agrobusiness in Brasilien auf die Politik des Landes ausüben, ergibt sich zum einem aus dem Drehtüreffekt zwischen Konzernzentralen und Ministerialbürokratie, zum andern aus der Zahlung großer Summen an beeinflußbare PolitikerInnen und zum dritten aus der eminenten Bedeutung der Branche für die Erwirtschaftung des nationalen Produktes. Ohne die massiven Exporte der Agrarindustrie in alle Welt wäre dieser Einfluß weit geringer, denn nur durch die hohe Exportquote sind die Unternehmen der Fleisch-, Milch-, Geflügel- und Futtermittelbranche fast ein Viertel des Bruttoinlandsproduktes schwer geworden. Sie haben es geschafft, Brasilien zum größten Exporteur von Sojabohnen, zum zweitgrößten Exporteur von Mais, zum größten Exporteur von Hühner- und Rindfleisch und zum viertgrößten Exporteur von Schweinefleisch weltweit zu machen. Der brasilianische Fleischkonzern JBS verfügt nicht nur über einen direkten Draht ins Präsidialamt, er war mit Präsident Temer auch auf eine Weise pekuniär verbandelt, daß dessen Amtsenthebung im Parlament in Brasilia nur mühsam und unter Verweis auf den Schaden, den das Ansehen Brasiliens in der Welt nähme, verhindert werden konnte. Die gleichen Abgeordneten und Juristen, die zuvor Lula und Rousseff mit durchsichtig konstruierten Korruptionsvorwürfen aus dem Präsidentenamt entfernt hatten, um eigene Verfehlungen unter den Teppich zu kehren, drückten bei Temer mehr als zwei Augen zu.


Den tierindustriellen Komplex mit globaler Bedeutung aufladen

Wenn Bolsonaro die Militärdiktatur beschwört, dann auch deshalb, weil deren lange Schatten bis heute in einem aggressiven Antikommunismus manifest werden, der bei der politischen Ausschaltung von Lula und Rousseff vernichtende politische Wirkung gezeigt hat. Wie zu Zeiten der Militärdiktatur sind die großen Kapitalinvestoren und Industriekonzerne zuverlässige Verbündete im Kampf gegen eine Bevölkerung, die zahllose Gründe hat, gegen ihre Bedrohung durch Oligarchen und Neofaschisten aufzustehen. Deren Schreckgespenst, die soziale Revolution, steht in Brasilien nur deshalb nicht vor der Tür, weil die Bevölkerung mit den Mitteln religiöser Indoktrination, antikommunistischer Propaganda und neofaschistischer Ideologie an der kurzen Leine gehalten wird.

JBS ist, seit er in den USA im großen Stil ins Fleischgeschäft eingestiegen ist, der größte Akteur der Fleisch produzierenden und verarbeitenden Industrie auf dem Weltmarkt. Zu den weiteren großen Agrokonzernen in Brasilien zählen BRF, der 20 Prozent der weltweit gehandelten Geflügelprodukte herstellt und der siebtgrößte Konzern im globalen Ernährungssektor ist, und Marfrig, der nach JBS der zweitgrößte Hersteller von Rindfleischprodukten Brasiliens. Daß monopolistischen Kapitalkonzentrationen dieses Ausmaßes kaum eine Regierung gewachsen ist, hat sich auch daran gezeigt, daß die Fleischbranche schon unter Lula und Rousseff prosperierte. Massive Ausbeutung von ArbeiterInnen durch Lohnsklaverei, die aktive Bekämpfung von UmweltaktivistInnen, Landlosen und Indigenen wie grausamste Formen der Tierausbeutung sind dieser Entwicklung fast selbstverständlich immanent.

Die Zerstörung des Regenwaldes ist direkt mit den Interessen der großen Agrokonzerne verknüpft, geht es doch in erster Linie um die Ausweitung der Rinderweiden und in zweiter Linie die flächentechnische Expansion des Sojaanbaus. Die agrarindustrielle Bewirtschaftung gigantischer Landflächen in Brasilien wird nicht zuletzt durch die Exporte von Soja und Mais in Form von Futtermitteln oder Biosprit als auch Rindfleisch in die EU vorangetrieben. Von der Erzeugung der Pflanzen- und Tierprodukte profitieren die großen Pestizid- und Saatguthersteller der EU und USA direkt, ist das Gros des in Brasilien angebauten Sojas doch gentechnisch auf die Verwendung der von ihnen hergestellten Pestizide zugerichtet.


Mangel und Überfluß in Weltmarktdimension

Nach China ist die EU der zweitgrößte Sojaimporteur der Welt, und das vor allem, um die eigene Fleisch-, Milch- und Eierproduktion mit kostengünstigen Futtermitteln zu versorgen. Fast 90 Prozent des aus Lateinamerika importierten Sojas geht in die Fütterung sogenannten Nutzviehs. Seine Umwandlung in hochkonzentriertes Protein dient nicht nur der Versorgung der EU-Bevölkerung, die mit 85 Kilo Fleisch- und 260 Kilo Milchprodukten im Jahr etwa das Doppelte des globalen Durchschnitts an Tierprodukten verzehrt. Die hochproduktiven Agrarindustrien der EU exportieren ihrerseits Tierprodukte in großem Ausmaß in alle Welt, was insbesondere in der Bundesrepublik die Überdüngung der Felder mit Gülle, die Belastung der Atemluft mit Feinstaub, hohe Emissionen an Treibhausgasen, hohe Nitratwerte im Grundwasser und entsprechend hohe Wasserpreise für die Bevölkerung zur Folge hat.

Vor allem jedoch werden mit dem EU-europäischen Verbrauch an Tierprodukten im Erzeugerland Brasilien Gewaltverhältnisse stabilisiert, die an die frühkapitalistische Landnahme erinnern, wenn mit der agroindustriellen Zerstörung der Feuchtsavanne und des Regenwaldes das Gemeinschaftsgut aller dort lebenden Menschen privatwirtschaftlich angeeignet wird. Nichtsdestotrotz zeugt die Inanspruchnahme Amazoniens als "grüne Lunge des Planeten" von vermessener Koloniallogik, davon profitiert auch der sogenannte Tropen-Trump, wenn er sich vor der Bevölkerung des Landes als Verteidiger der Interessen Brasiliens inszeniert, natürlich ohne auch nur im Traum daran zu denken, die hegemoniale Vormachtstellung der USA und die dadurch gewährleistete Rückendeckung für Gewaltherrscher seines Schlages in Frage zu stellen.

Der Reichtum der europäischen Kolonialstaaten und der kapitalistische Auftrieb der Industrialisierung, der bis heute deren Anspruch auf führende globaladministrative Positionen begründet, ist maßgeblich der grausamen Eroberung und Ausplünderung Lateinamerikas geschuldet. Da EU-Staaten wie Spanien, Deutschland und Frankreich dem weniger altruistischer Logik denn dem großen Vorsprung an Naturverbrauch gegenüber dem Globalen Süden geschuldeten Anspruch, eine führende Rolle im globalen Klimaschutz einzunehmen, kaum gerecht werden, handelt es sich bei der Forderung nach dem Erhalt Amazoniens um ein Politikum imperialistischer Provenienz.

In Brasilien halten sich die Zahl der Menschen und Rinder des Landes fast die Waage. 210 Millionen BrasilianerInnen stehen etwa genauso viele Rinder auf den Weiden Amazoniens und in den Ställen anderer Landesteile gegenüber. Zugleich bedeutet dies, bemessen an der dabei gebildeten Biomasse, daß auf den Verbrauch an Naturressourcen durch ein Rind etwa drei bis vier Menschen kommen. Die Erzeugung von Rindfleisch und Kuhmilch ist die ökologisch verbrauchsintensivste Art und Weise der sogenannten Veredelung von Pflanzen zu tierlichem Protein. Die Zerstörung der Feuchtsavanne und des Regenwaldes in Amazonien ist zutiefst verankert in einer Form von Tierausbeutung, die grausam und destruktiv für alle Beteiligten ist. Die industrielle Produktionsweise der Agrarindustrie verschlingt große Mengen an fossiler Energie bei der Erzeugung von Mineraldünger für das Tierfutter wie für die weltweite Logistik, mit der die verschiedenen Produktionsstufen anhand produktivitätsbedingter Unterschiede bewirtschaftet werden. Sie führt Land und Boden, Wald und Wasser, also fundamentale Lebensressourcen, dem partikulären Zweck der Profiterzeugung zu und verwandelt diese begrenzten Güter im Produktionsprozeß in ein unauslotbares Maß an Leid und Schmerz für alle Lebewesen, die dabei auf diese oder jene Weise verwertet werden. Das Problem ist um einiges größer, als allgemein dargestellt, und läßt sich nur progressiv bearbeiten, wenn die Scheuklappen abgelegt und das Blut, in dem die eigenen Füße waten, nicht länger ignoriert wird.


Fußnote:

[1] Dokumentarfilm The Edge of Democracy, 2019

27. August 2019


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