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REPRESSION/1475: NSU verschleiern - Sicherheitsarchitektur generalüberholen (SB)




Vor einem Jahr erfuhr die deutsche Öffentlichkeit, was Inlandsgeheimdienst und Polizeien angeblich nicht gewußt hatten. Am 4. November 2011 fanden die beiden Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt unter Umständen den Tod, die man angesichts eklatanter Widersprüche in der offiziellen Version nur als ungeklärt bezeichnen kann. Daß die fragwürdige These, die beiden hätten Selbstmord begangen, den Aufmacher nahezu aller Medienberichte abgibt, als handle es sich um eine gesicherte und unumstößliche Tatsache, zeigt wie erfolgreich die als Aufklärung ausgewiesene Verschleierungskampagne seither war. Obgleich längst allgemein bekannt ist, daß die neonazistische Szene massiv vom Verfassungsschutz unterwandert war und der sogenannte "Nationalsozialistische Untergrund" weder durchgängig klandestin operierte, noch von seinem Unterstützerkreis abgeschnitten war, wird das Mantra vom Versagen des Geheimdienstes als einzig gültige Erklärung unablässig wiedergekäut.

Hat die Architektur innerer Sicherheit auf so eklatante Weise versagt, muß sie mit dem Ziel gesteigerter Wirksamkeit reformiert werden, lautet die weithin geteilte Schlußfolgerung. Das ist der folgenschwerste Ertrag des NSU-"Skandals", der einer Zusammenführung der Informationen und Dienste einen innovativen Schub verliehen hat, dessen tatsächliches Ausmaß noch längst nicht ausgelotet ist. Man darf den Verfassungsschutz verlachen, verhöhnen und verbal prügeln, wie auch der Debatte, wie viele Köpfe noch zu rollen haben, keine Grenzen gesetzt sind. Heute dünkt sich jeder Zeitungsschreiber schlauer als die für inkompetent erklärten Schlapphüte, bei denen eine Panne auf die andere gefolgt sei. Die hätten gepfuscht und vertuscht, gelogen und betrogen, nur dann und wann reumütig Fehler eingeräumt. Wie blind sind wir nur gewesen, klagt man im Chor mit der mediengenerierten Öffentlichkeit.

Wenn an diesem Wochenende Gedenkveranstaltungen und Demonstrationen in mehreren deutschen Städten an die Aufdeckung des NSU vor einem Jahr erinnern, klingt ein Unbehagen an, das nicht restlos unter den Tisch gekehrt werden soll. Das "Bündnis gegen das Schweigen", dem unter anderem Linkspartei und Grüne angehören, hat zu Demonstrationen vor den Landesämtern für Verfassungsschutz und vor den Innenministerien der Länder aufgerufen. Wie es im Aufruf heißt, seien die Sicherheitsbehörden "nicht willens oder in der Lage" gewesen, dem Morden der Terrorgruppe ein Ende zu bereiten. "Ganz offensichtlich sind Verfassungsschutz- und Strafverfolgungsbehörden Teil des Problems und nicht Teil der Lösung." [1]

Wie hätte der neofaschistische "Nationalsozialistische Untergrund" mehr als dreizehn Jahre lang ungehindert morden, bomben und rauben können, wenn die Straftaten militanter Neonazis nicht von den Inlandsgeheimdiensten gefördert, vertuscht und verharmlost worden wären? Täter aus dem rechten Milieu haben seit 1990 in Deutschland fast 200 Menschen ermordet, ohne daß dies eine erkennbare Verfolgungskampagne oder nennenswerte ideologische Offensive ausgelöst hätte. Der geheimdienstliche Schutz einer Verfassung, die die bestehenden Eigentumsverhältnisse zementiert und die Freiheitsrechte dahingehend beschränkt, daß diese Herrschaftsdoktrin unanfechtbar und unter allen Umständen zu verteidigen sei, richtet sich in erster Linie gegen Linke. Hingegen hat sich die Rechte eine grundsätzliche Umwälzung der Herrschaftsverhältnisse nicht auf ihre Fahnen geschrieben. Sie teilt mit ihrem Antikommunismus, dem Ruf nach einem starken Staat und einer strammen Arbeitsgesellschaft, ihrem Nationalismus und Rassismus wesentliche Paradigmen mit der bürgerlichen Gesellschaft.

Aus Perspektive des Verfassungsschutzes liegt es daher nahe, die Rechte nicht konsequent zu verfolgen, sondern sie vielmehr zu infiltrieren und sich ihrer zu bedienen, zumal sie als Werkzeug gegen die ideologisch mit ihr gleichgesetzte Linke überaus brauchbar ist. Neofaschisten je nach Bedarf an die Leine zu nehmen oder von der Kette zu lassen dürfte langjährige Strategie und Praxis des Inlandsgeheimdienstes gewesen sein, der dank seiner Unterwanderung der rechten Szene so gut wie alles gewußt haben muß, was dort an Kenntnissen, Mutmaßungen und Gerüchten zirkulierte.

Das gibt selbst Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich indirekt zu, wenn er den Einsatz von V-Leuten in der rechtsextremen Szene für unverzichtbar erklärt. "Wenn wir nichts mehr aus dem Innenleben erfahren würden, sondern nur noch die Außenperspektive hätten, hätten wir häufig kaum eine Chance, terroristische Angriffe abzuwehren", so der Minister. "Deshalb ist dieses Informantenwesen zwar nicht immer einfach zu handhaben, aber nötig." [2] Da er die aus dieser Äußerung zu ziehende Schlußfolgerung, der Verfassungsschutz habe vom "Nationalsozialistischen Untergrund" gewußt und ihn vermutlich sogar gesteuert, natürlich nicht zulassen will, behauptet er im selben Atemzug: "Ich möchte nichts beschönigen, aber im Fall der NSU sieht es so aus, dass die Mörder diese Taten völlig abgeschottet von ihrem persönlichen Umfeld begangen haben."

Den offensichtlichen Widerspruch, man habe die rechte Szene mit V-Leuten überwacht, aber dennoch nichts gewußt, würde Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sicherlich nie so platt und vielsagend ausposaunen wie ihr Kabinettskollege von der CSU. Der Fall sei noch lange nicht aufgearbeitet und die Frage der Auswirkungen auf die Sicherheitsarchitektur noch nicht beantwortet, orakelte sie bei ihrem Türkeibesuch. Dort herrsche Sorge über das Ausmaß des Rechtsextremismus in Deutschland, und wenngleich die Türkei anerkenne, daß sich die Bundesregierung um Aufarbeitung bemühe, erwarte man "aber noch mehr von uns".

Aufarbeitung der Vergangenheit zum Zweck ihrer endgültigen Vernebelung und Umkrempelung der inneren Sicherheit mit dem Ziel einer weit höheren und zusammengeschlossenen Überwachungs- und Zugriffsfähigkeit scheint auch die Führung der Grünen in Euphorie zu versetzen. Ihre Vorsitzenden Claudia Roth und Cem Özdemir sprachen von "unzähligen Pannen im Ermittlungsverfahren", durch die das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden erschüttert worden sei. "Es darf kein Stein mehr auf dem anderen bleiben, die Bundesregierung muss endlich die Ermittlungen entschieden vorantreiben und mit dem Umbau der Sicherheitsstruktur in Deutschland beginnen." Ein Jahr nach dem Auffliegen der NSU-Terrorzelle sei nun der größte Skandal in der Geschichte der Sicherheitsbehörden aufzuarbeiten. "Zutage getreten sind eine beispiellose Ignoranz und Unwilligkeit, gepaart mit Dilettantismus und einem verheerenden Kommunikationsdesaster", bilanzierte Fraktionschefin Renate Künast. Als Konsequenz aus dem angeblichen Behördenversagen fordern die Grünen im Bundestag die Auflösung und Neugründung aller Verfassungsschutzämter in Deutschland: "Sie sollten mit neuem Personal und einem eng definierten gesetzlichen Auftrag neu gegründet werden", so Künast. [3]

Bruchloser könnte der Bogen von einer verbalradikalen Pseudokritik des Verfassungsschutzes zu einer rückhaltlosen Affirmation glaubwürdiger Sicherheitsbehörden und dem Ruf nach einer innovativen Sicherheitsarchitektur kaum geschlagen werden. Herauskommen soll dabei ein geläuterter, legitimierter und effizienter Inlandsgeheimdienst, den künftig wichtigere Aufgaben als die Handhabung der Neonaziszene erwarten, da immer größere Teile der Gesellschaft verelenden und Befriedung des Aufbegehrens ganz oben auf der Agenda innerer Sicherheit steht.


Fußnoten:

[1] http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/rechtsextremismus/nsu-gedenken-zum-jahrestag-der-aufdeckung-der-terrorzelle-nsu-11948051.html

[2] http://www.badische-zeitung.de/dpa-news/nsu-jahrestag-friedrich-nimmt-sicherheitsbehoerden-in-schutz--65237993.html

[3] http://www.freiepresse.de/NACHRICHTEN/DEUTSCHLAND/Nach-NSU-Pannen-Gruene-wollen-Verfassungsschutzaemter-aufloesen-artikel8143952.php

3. November 2012