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REPRESSION/1494: Wie sollen notleidende Flüchtlinge zur "Erpressung" in der Lage sein? (SB)




Fast auf den Tag genau zum Inkrafttreten des sogenannten Asylkompromisses, also der faktischen Aufhebung des Grundrechts auf Asyl durch die Prinzipien der sicheren Drittstaaten und Herkunftsstaaten, vor 20 Jahren räumte die Polizei das Camp der in einem trockenen Hungerstreik befindlichen Asylsuchenden am Münchner Rindermarkt gewaltsam. Die 44 verbliebenen Flüchtlinge aus dem Iran, Afghanistan, Äthiopien, Syrien und Sierra Leone waren ohnehin zu entkräftet, um sich gegen ihren Abtransport zu wehren, und die Unterstützerinnen und Unterstützer leisteten lediglich passiven Widerstand. Laut den Betroffenen hätten die Behörden keinerlei Vermittlungsangebot gemacht, sondern ganz auf die Räumung des Camps gesetzt [1]. Auf der anschließenden Pressekonferenz erklärte Innenminister Joachim Herrmann, man habe "erfolgreich Leben geschützt, aber dieser Rechtsstaat läßt sich auch nicht erpressen". Ein "Rädelsführer" habe eine Radikalisierung der Flüchtlinge bewirkt, so der CSU-Politiker, und es sei zu fragen, ob er überhaupt im Namen aller Betroffenen gesprochen habe.

Nicht nur Politiker, auch viele Leser, die sich in den Kommentarspalten großer Zeitungen äußern, sind über die angebliche Erpressung empört. Sie halten es für ein Unding, daß Asylsuchende auf andere Weise als den offiziellen, nur unter größten Schwierigkeiten gangbaren Weg um die Anerkennung ihres Bleiberechts in der Bundesrepublik kämpfen. Was den Betroffenen dabei an angeblicher Erschleichung von Sozialleistungen und ungenügender Begründung ihrer Asylanträge angelastet wird, ist der janusköpfigen Verteidigung des Privilegs, in einem der reichsten Länder der Welt zu leben, geschuldet. Wer will hierzulande schon wissen, daß das eigene Wohlleben nicht von der Ausbeutung und Unterdrückung zahlreicher Menschen in den Ländern des Südens zu trennen ist? Die massiven Produktivitätsunterschiede im kapitalistischen Weltsystem sind schließlich nicht naturgegeben, sondern bleiben zugunsten einer Wertschöpfung erhalten, ohne die die anwachsenden Klassenunterschiede zwischen Nord und Süd wie innerhalb der jeweiligen Gesellschaften nicht zu erklären wären.

So wird den Demonstrantinnen und Demonstranten vom Taksim-Platz durchaus Anerkennung gezollt, wenn sie nur weit genug weg von der eigenen Haustür für eine Veränderung der Verhältnisse sorgen. Wenn hierzulande Menschen, über deren konkrete Gründe, in der Bundesrepublik Asyl zu suchen, in der Berichterstattung über die Münchner Ereignisse kaum die Rede ist, zu einer drastischen, das eigene Leben in die Waagschale werfenden Form des Protestes greifen, dann lassen sich zahllose Gründe dafür finden, ihnen unlautere Motive zu unterstellen. Gleichzeitig wird den verantwortlichen Politikerinnen und Politikern in ihrem erklärten Anliegen, sie wollten mit der Räumung doch nur Leben retten, nicht entgegengehalten, daß sie dies doch durch ein überprüfbares Angebot auf Bleiberecht längst hätten machen können. Das Argument, daß dies aus rechtlichen Gründen nicht ginge, ist haltlos, wie politische Entscheidungen etwa zur Beteiligung der Bundeswehr am Überfall der NATO auf Jugoslawien oder der Refinanzierung angeschlagener Banken im Rahmen der Europäischen Währungsunion belegen. Wo ein politischer Wille ist, ist auch ein Weg, ihn zu realisieren.

Nein, es geht schlicht darum, den Anfängen zu wehren. Wie die an das politisch motivierte Vereinigungsstrafrecht angelehnte Diktion, den maßgeblichen Sprecher der hunger- und durststreikenden Asylsuchenden als "Rädelsführer" zu bezeichnen, erkennen läßt, geht es darum, die Handlungsfähigkeit der Staatsgewalt gerade dort zu sichern und zu stärken, wo vitale Interessen notleidender Menschen auf dem Spiel stehen. Die deutsche Zuwanderungspolitik betreibt soziale Selektion, indem sie einem krisenerschütterten Land wie Spanien gutausgebildete Arbeitskräfte abwirbt, während gleichzeitig sogenannte Armutsflüchtlinge draußen vor der Tür bleiben müssen. Die im Mittelmeer elendiglich ertrinkenden Boat People haben ihren Anspruch auf Rettung verwirkt, lange bevor sie in die Lage kämen, deutsche Behörden mit politischen Streikaktionen in Erklärungsnot zu bringen.

Den Sachwaltern des exekutiven Vollzugs geht es nicht darum, Menschenleben zu retten, sondern das Monopol des Staates zur Entscheidung darüber zu sichern, wer leben und wer sterben darf. Weit davon entfernt, etwa so hilfsbereit zu sein wie die angeblich über das übliche Maß hinaus bösartige syrische Regierung, während des Irakkriegs gut anderthalb Millionen Kriegsflüchtlinge aus dem Nachbarland aufzunehmen, ohne sich darauf herauszureden, daß dies den sozialen Frieden im eigenen Land erschüttern könnte, agieren Bundesregierung und Landesregierungen konsequent in der Logik nationalstaatlicher Konkurrenz. Flüchtlingsabwehr gilt ebenso als Standortvorteil wie die Kürzung von Sozialleistungen zwecks optimierter Kostensenkung von Lohnarbeit.

Wer sich öffentlich darüber empört, daß die Asylsuchenden in München mit allen Mitteln um ihr Überleben kämpfen, der hat nichts weiter im Sinn, als den eigenen Vorteil durch das Anlegen immer engerer Zügel der Repression zu sichern. Der Plan, die sogenannte Schengen-Freiheit wieder einzuschränken, ist nur ein Vorbote der anwachsenden, mit dem Argument des Mangels an Lebensressourcen begründeten Versklavung des Menschen. Den eigenen Vorteil zu Lasten des anderen zu suchen, ist die zentrale Voraussetzung von Beherrschbarkeit, dies macht der anschwellende Chor der Empörung über den Kampf der Asylsuchenden vor allem anderen deutlich.


Fußnoten:

[1] http://www.refugeetentaction.net/index.php?lang=de

2. Juli 2013