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REPRESSION/1511: Demokratie schützen, aber wen schützt die Demokratie? (SB)




Um in den Beratungen zu dem US-Freedom-Act vor dem Senat in Washington den Verfechtern umfassender Überwachungsrechte des Staates zur Seite zu springen verwies NSA-Chef Keith Alexander auf die aktuelle Lage in Syrien und dem Irak. 5000 Menschen seien dort in den letzten zwei Monaten umgebracht worden aus Gründen, die mit Terror zu tun hätten, warnte der Geheimdienstchef und stellte generell fest, daß die anwachsende Krise im Nahen und Mittleren Osten auch die Bedrohung der US-Bevölkerung verstärke. Daß diese Gefahr, wenn sie in der von ihm an die Wand gemalten Weise überhaupt bestände, sehr viel mit US-amerikanischer Außenpolitik zu tun hätte, war nicht Bestandteil der Bedrohungsanalyse Alexanders. Auch interessiert es nicht, wie es den Menschen in diesen und anderen Ländern der Region geht, die über den Haufen zu werfen und völlig neu aufzubauen seit dem Ende der Blockkonfrontation fester Bestandteil der geostrategischen Agenda aller US-Regierungen ist.

Dabei gehen sie ihrem neoliberalen Credo gemäß nach Maßgabe einer kreativen Zerstörung vor, deren Verlust und Verbrauch akkumulierende Dynamik auch die eigene Gesellschaft in Mitleidenschaft zieht. Nicht nur der Irak wurde in zwei Kriegen und einem langjährigen Wirtschaftsboykott um Jahrzehnte auf das Niveau eines präindustriellen Erdöllieferanten zurückgebombt und -gehungert, nicht nur Syrien wurde unter Mißbrauch der landeseigenen Opposition als permanente Herausforderung des US-Verbündeten Israel mit allen Mitteln der Isolation und Unterwanderung in einen blutigen Krieg gestürzt. Auch die US-Gesellschaft befindet sich im sozialen Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Wo die Reihen ausgemergelter Gestalten an den Essensausgaben der karitativen Organisationen, die dem Ansturm der Hungernden längst nicht mehr gewachsen sind, und die Gated Communities der Reichen in Blickweite nebeneinander existieren, während sich Welten zwischen dem notdürftigen Überleben mit Hilfe von Resten massenindustriell produzierten Junkfoods und dem gelangweilten Konsum feinster Lebensmittel auftun, da findet ansonsten in Lateinamerika verortetes Elend längst in den Ghettos kalifornischer Innenstädte oder den unwirtlichen Zeltlagern der Obdachlosen statt.

Zwar erhalten US-Bürgerinnen und -Bürger - im Unterschied zu allen anderen Bevölkerungen - möglicherweise das Privileg, einige Einschränkungen der staatlichen Überwachungspraxis zugestanden zu bekommen. Das ist jedoch schon angesichts des bereits erreichten Ausmaßes ausgesetzter Bürgerrechte ein situationsbedingtes Feigenblatt. Die Welt steht nicht auf dem Kopf, wenn die von US-geführten Kriegen erschütterten Verhältnisse die Ausspähung der globalen Bevölkerung bis in intimste Details ihrer Telekommunikation unabdinglich machen. Sie steht in den Stiefeln einer exekutiven Ermächtigung, die die globalen Krisen durch ein noch größeres Quantum selbstproduzierter Gewalt unter Kontrolle zu halten versucht.

Aufgescheucht durch die Enthüllungen Snowdens sieht sich die US-Regierung schon aus Gründen der Imagepflege genötigt, ein wohlwollendes Antlitz aufzusetzen. Dabei könnte die Repression im eigenen Land kaum schärfer sein, denkt man nur an die Zehntausende von Gefangenen in den Isolationstrakten der Hochsicherheitsknäste, die Hungerstreikenden in Guantanamo, über die die zuständigen Stellen seit neuestem keinerlei Auskunft mehr erteilen, oder die langjährigen Haftstrafen, die den Aktivistinnen und Aktivisten sozialer Bewegungen drohen, wenn sie sich auch nur zu passivem Widerstand hinreißen lassen.

Es ist mithin kein Zufall, daß die internationale, von über 500 Prominenten aus Literatur und Kultur initiierte Petition "Die Demokratie verteidigen im digitalen Zeitalter" in den USA selbst eher untergeht. Ausgerechnet die angeblichen Bannerträger von Freedom & Democracy, Washington Post und New York Times, beteiligen sich nicht an der Kampagne. Auf sie wurde womöglich Druck ausgeübt [1], und es sind nicht die einzigen weltweit einflußreichen Tageszeitungen, denen die Staatsgewalt seit den Enthüllungen Edward Snowdens unverhohlen droht. Allein die Nachstellungen, denen das britische Blatt The Guardian ausgesetzt war und ist, belegen, wie nervös die Damen und Herren in den Business Suits und Clubsesseln bei dem Gedanken werden, daß das ansonsten so gut funktionierende Marktsubjekt Zweifel an der Integrität und Glaubwürdigkeit seiner Funktionseliten hegen könnte.

Alexanders Verweis auf eventuelle Anschläge, mit denen der Einsatz militärischer Feuerkraft und ökonomischer Boykotts quittiert werden könnte, ist nicht mumaßlichen Al Qaida-Attentätern oder anderen der stets an dieser Stelle heranzitierten Bösewichte gewidmet. Es ist die Drohung mit dem Knüppel einer Staatsgewalt, die alle Mühe hat, die etablierte Klassenherrschaft gegen die immer unverhohlener ausgegrenzten und verelendeten Menschen im eigenen Land zu legitimieren und zu sichern. Bleibt die Frage, welche Demokratie eigentlich verteidigt werden soll, sind Ausbeutung und Unterdrückung doch seit langem mit dem Anspruch auf einen demokratischen Werteuniversalismus zu vereinbaren, mit dem die NATO-Staaten nicht nur das eigene Hegemonialstreben begründen, sondern in dessen Namen sie auch militärische Kriege führen. Schließlich wird nicht offen in Frage gestellt, ob es sich bei den USA oder den EU-Staaten noch um demokratische Gesellschaften handelt. Vielmehr werden diese täglich auch in den genannten Zeitungen mit Staaten wie Rußland und China kontrastiert, um zu dem Schluß zu gelangen, daß deren Gesellschaften mit denen des freien Westens nicht zu vergleichen wären.

Für die Bürgerrechte einzutreten, und das mit globaler Reichweite, ist aller Anlaß gegeben. Zu vermuten, der geheimdienstindustrielle Komplex in den USA oder sein Pendant in der EU könnten allein durch öffentlichkeitswirksame Kampagnen zurückgedrängt werden, vergißt die unerläßliche Kritik an der kapitalistischen Vergesellschaftung und Produktionsweise. Allein die alltägliche Durchdringung des zu einem komplexen Datensatz zugerichteten Menschen mit informationstechnischen Systemen und die daraus resultierenden Szenarios administrativer Ein- und Übergriffe - Stichwort Big Data - zeigen, daß die demokratische Verfaßtheit dieser Entwicklung schlimmstenfalls dazu beiträgt zu ignorieren, wie sehr der oder die einzelne übermächtigen Gewaltverhältnissen unterworfen ist. "Die Demokratie verteidigen" - immer eine gute Idee, aber ohne Analyse und Kritik der sie bestimmenden Interessen unvollständig.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/massenueberwachung-buergerrechte-im-digitalen-zeitalter.694.de.html?dram:article_id=271556

12. Dezember 2013