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REPRESSION/1535: Flucht vor dem Krieg - Krieg den Flüchtlingen (SB)



Die ebenso ambitionierten wie irreführenden Prognosen der angeblich Vereinten Nationen, Hunger, Durst, Krankheit und Armut in der Welt ließen sich binnen weniger Jahre spürbar reduzieren, sind Makulatur. Klimawandel, Kriege und Krisen als unmittelbare oder indirekte Folgen raubgestützter Herrschaftsverhältnisse und Wirtschaftsweisen führen dazu, daß absehbar nur eine Minderheit der Menschheit mit einem Überleben in bislang erreichten Fristen und Formen rechnen kann, wie sie ohnehin nur für Teile der globalen Metropolen existieren. Wenn schon in der vergleichsweise reichen Bundesrepublik die Lebenserwartung auf Hartz IV angewiesener Menschen deutlich unter dem Durchschnitt der Bevölkerung liegt, nimmt diese Kluft der Klassen im globalen Maßstab extreme Ausmaße an.

Drängt das Millionenheer der Flüchtlinge in Richtung der reicheren Weltregionen, um sich einen Bruchteil des zuvor Geraubten zurückzuholen, wird es auf grausame Weise abermals mit der unantastbaren Eigentumsfrage konfrontiert. So erklärte der australische Premierminister Tony Abbot kategorisch, man habe "wirklich die Nase voll" von den Vorhaltungen zum Umgang mit Flüchtlingen. "Wir haben die Boote gestoppt und damit das Sterben auf dem Meer beendet", kanzelte er Journalisten ab. Seine Regierung habe die Routen für den Menschenschmuggel blockiert, und das sei "die humanitärste, ehrbarste und erbarmungsvollste Sache" gewesen, die Australien tun konnte. [1]

Australien interniert Bootsflüchtlinge aus Sri Lanka, Afghanistan und dem Mittleren Osten, die das Land erreichen wollen und dabei abgegriffen werden, in Auffanglagern auf mehreren pazifischen Inseln. Die Regierung will damit nach eigenen Angaben Menschenschmuggler abschrecken. Niemand aus diesen Lagern darf je australischen Boden betreten, selbst anerkannte Asylbewerber werden in Drittländern angesiedelt. Laut regierungsamtlicher Statistik sind mehr als 1.200 Menschen in den Lagern in Nauru und auf der Insel Manus, die zu Papua-Neuguinea gehört, interniert.

Die UNO wirft Australien seit Jahren vor, auf Nauru gegen die Antifolterkonvention zu verstoßen. Menschenrechtsorganisationen fordern schon lange eine Schließung der Camps, Amnesty International spricht von einem Freiluftgefängnis und von Folter. Die britische Zeitung "The Guardian" veröffentlichte rund 2.000 Dokumente, in denen Mitarbeiter des Flüchtlingslagers auf Nauru die skandalösen Zustände beschreiben. Die "Nauru Files" dokumentieren Vorfälle von sexuellem Mißbrauch und Gewalt gegen Kinder, Vergewaltigungen von Frauen, Selbstmordversuche und desolate hygienische Zustände. Das australische Immigrationsministerium erklärte zynisch dazu, viele der Berichte enthielten ungeprüfte Anschuldigungen.

Nach einem Besuch im Auffanglager auf Nauru kritisierte der UNO-Berichterstatter für die Menschenrechte von Migranten, Francois Crépeau, die Abfertigung der Asylsuchenden dort als grausam, inhuman und menschenunwürdig. Minderjährige Flüchtlinge wiesen Symptome von posttraumatischer Belastungsstörung, Angstzuständen und Depression auf. Kinder litten an Schlafstörungen, Alpträumen und Bettnässen. "Australien ist verantwortlich für die Schäden, die diese Asylsuchenden und Flüchtlinge durch die ungewollte Gefangenschaft erleiden", so Crépeau. "Es ist ein fundamentales Prinzip der Menschenrechte, dass eine Person nicht bestraft werden kann, um andere abzuschrecken." Auch diese Vorwürfe wischte die australische Einwanderungsbehörde ungerührt vom Tisch und erklärte, sie sei mit einigen dieser Beobachtungen nicht einverstanden. Es habe auch keine Gelegenheit bestanden, aus Sicht Australiens ungenaue Fakten in dem Bericht zu korrigieren.

Humanität, Ehrbarkeit und Erbarmen erschöpfen sich auch für die Regierungen Europas insbesondere darin, die Festung abzuschotten, so daß die Flüchtlinge aufgehalten werden oder im Meer ertrinken. Die meisten EU-Mitgliedsländer nehmen kaum oder gar keine Flüchtlinge auf, die Balkanroute ist geschlossen, das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei sorgt für eine vorgelagerte Abwehr schutzsuchender Menschen, Griechenland und Italien werden mit dem Problem alleingelassen. Immer mehr Flüchtlinge wagen in ihrer Not wieder den lebensgefährlichen Seeweg über das Mittelmeer, in dem allein in diesem Jahr mehr als 4600 Menschen ertrunken sind, von unbekannten Opfern ganz zu schweigen.

Die Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF), die derzeit mit zwei Schiffen den Flüchtlingen hilft, berichtet von 340 ertrunkenen Flüchtlingen in dieser Woche, hundert von ihnen erst gestern. Wie Überlebende mitteilten, waren die Menschen aus Gambia, Guinea, Mali, Senegal und Sierra Leone mit einem Dinghi in der Nähe von Tripoli aufgebrochen. Die Schmuggler hatten das Boot anfangs noch begleitet, dann aber den Motor entfernt und die Flüchtlinge ohne ein Satellitentelefon ihrem Schicksal überlassen. Das völlig überladene Boot verlor an Luft und wurde bald von Wasser überschwemmt. Schon während der Fahrt sollen Menschen über Bord gefallen oder vor Erschöpfung gestorben sein. [2]

Während 2015 insgesamt 153.000 Flüchtlinge Italien erreicht haben, sind es in diesem Jahr bereits mehr als 165.000. Auch nach Griechenland kamen seit Anfang des Jahres 170.000 Flüchtlinge, nach Spanien mehr als 5400. Zweifellos werden angesichts anderswo versperrter Routen immer mehr Menschen versuchen, vor allem von Libyen aus nach Europa zu gelangen und wegen des schlechteren Wetters im Winter in noch größerer Zahl im Mittelmeer ertrinken. Angesichts der Krisen und Kriege im Nahen Osten und in Afrika wird der Flüchtlingsstrom nicht abreißen, sondern weiter zunehmen.

Insbesondere aus Syrien und dem Irak werden weitere Menschen in Richtung Europa fliehen. Die Kämpfe in Mossul haben bereits Zehntausende in die Flucht getrieben, die UNO rechnet mit Hunderttausenden Flüchtlingen und einer humanitären Katastrophe im Irak, wo schon jetzt 10 Millionen Binnenflüchtlinge nur notdürftig versorgt werden können. Zunehmend mehr Menschen fliehen aus Burundi und dem Kongo nach Tansania, dessen Aufnahmekapazitäten erschöpft sind. Das Lebensmittelprogramm der UNO hat die Versorgung auf 60 Prozent des täglichen Bedarfs gekürzt, mit der Regenzeit werden noch mehr Flüchtlinge erwartet. Der erneut aufgebrochene Konflikt im Süd-Sudan führt zur Massenflucht nach Uganda, allein im letzten Vierteljahr waren es mehr als 170.000 Menschen.

In den kommenden Jahren wird ein enormer Bevölkerungszuwachs auf dem afrikanischen Kontinent erwartet, wo Prognosen zufolge im Jahr 2050 bis zu 2,6 Milliarden Menschen leben werden. Zugleich sind dort gravierendste Auswirkungen des Klimawandels zu befürchten. Unterdessen plündert die Afrikapolitik der Europäischen Union und der Bundesrepublik insbesondere mittels der Freihandelsabkommen namens EPAs (Economic Partnership Agreements) die afrikanischen Länder aus, die mit einer Wirtschaft wie der deutschen nicht konkurrieren können. Freihandel und EU-Importe gefährden bestehende Industrien und führen dazu, daß zukünftige gar nicht erst entstehen. Die EPAs verwandeln die einheimischen Märkte in Müllhalden für europäische Produkte, während Unterhändler und Spekulanten in den Startlöchern stehen, um sich der Rohstoffe wie Erdöl, Metalle, Holz oder Kakao zu bemächtigen.

Wie deutsche Regierungspolitik fordert, dürfe man die Flüchtlinge gar nicht erst an Europa herankommen lassen, sondern müsse das Abwehrregime in die Herkunfts- und Transitländer vorverlagern. So sollen die afrikanischen Länder genötigt werden, die bislang herrschende Reisefreiheit aufzuheben und Flüchtlinge zu illegalisieren, um von der nordafrikanische Küste fernzuhalten. Drittstaaten-Abkommen insbesondere mit Afrika, aber auch mit Pakistan und Afghanistan sollen die Rückführung der Flüchtlinge aus diesen Regionen ermöglichen, auch wenn es sich um Kriegsgebiete handelt.

Zudem wird die europäische Grenzschutzagentur Frontex rasant ausgebaut, deren Budget von 142 Millionen Euro (2015) über 250 Millionen (2016) auf 330 Millionen (2017) wächst. Neben der finanziellen, materiellen und personellen Aufstockung muß Frontex die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten nicht mehr um Zusammenarbeit bitten, sondern kann diese unter Androhung von Konsequenzen einfordern. Auch müssen die Mitgliedsstaaten ein festgelegtes Kontingent an Grenzschützern für die Agentur abstellen und sich einen Streßtest ihrer Grenzen gefallen lassen.

Damit nicht genug, schafft die NATO mit der Operation "Sea Guardian" die Möglichkeit, die EU-Operation "Sophia" vor der libyschen Küste zu unterstützen. Diese wurde zur Eindämmung der Migration aus Libyen gestartet und soll sich künftig auch mit der Kontrolle des Waffenembargos und der Ausbildung libyscher Küstenschutzkräfte befassen. Im Rahmen der Operation "Sea Guardian" sollen AWACS-Maschinen zum Einsatz kommen, so daß die zivile und militärische Flüchtlingsabwehr auch in der Luft de facto verschmelzen. Nachdem der unerklärte Krieg ökonomischer Übermacht und humanitärer Intervention zu massenhafter Flucht geführt hat, soll diese mit einem unerklärten Krieg gegen die Flüchtlinge zurückgeschlagen werden.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/australiens-fluechtlingspolitik-grausame-abfertigung-im.1818.de.html

[2] https://www.heise.de/tp/features/Die-Zahl-der-Fluechtlinge-aus-Libyen-und-die-Zahl-der-Ertrunkenen-steigen-3491053.html

18. November 2016


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