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REPRESSION/1588: Ankara - willige Schüler ... (SB)



Wir glauben, daß unser Modell für den ganzen Mittleren Osten geeignet ist. (...) Alle Menschen sollten in der Lage sein, sich im Rahmen einer demokratischen Selbstverwaltung zu organisieren.
Salih Muslim zu Autonomie und Konföderalismus [1]

Der 1951 in der Nähe des nordsyrischen Kobani geborene Salih Muslim wurde von der syrischen Regierung mehrfach aus politischen Gründen inhaftiert und gefoltert. Als Kovorsitzender der PYD (Partei der Demokratischen Einheit) widmete er sich dem in den mehrheitlich von Kurden bewohnten Kantonen Nordsyriens dem Ausbau der autonomen Selbstverwaltung und der Politik des Demokratischen Konföderalismus. Dieser versteht sich als Teil Syriens und Zukunftsmodell des Zusammenlebens für das ganze Land, strebt also keine Abspaltung und keinen eigenen Staat an. Seit dem ersten Aufstand gegen das Regime in Damaskus im Jahr 2004 kämpfen die Kurdinnen und Kurden für ein demokratisches und dezentralisiertes System.

Im bis 2015 laufenden Friedensprozeß mit der PKK war Muslim ein wichtiger Ansprechpartner für die türkische Regierung. Im November 2016 stellte die türkische Justiz jedoch einen Haftbefehl gegen ihn aus. Ihm wird vorgeworfen, in einen Anschlag im Februar 2016 verwickelt gewesen zu sein, bei dem in Ankara 29 Menschen getötet worden waren, was er stets bestritten hat. [2] Muslim ist heute der Verantwortliche für die Außenbeziehungen der Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft (TEV-DEM) und war in dieser Eigenschaft kürzlich zu verschiedenen diplomatischen und politischen Gesprächen in Berlin zu Gast. Dabei forderte er in zahlreichen Erörterungen mit Pressevertretern die Bundesrepublik dazu auf, die Türkei nicht länger in ihrem Krieg zu unterstützen, und machte das demokratische und pluralistische Projekt der Demokratischen Föderation Nordsyrien bekannt. Neben einer Medienkonferenz im Bundespresseamt und Gesprächen mit Vertretern des deutschen Außenministeriums nahm Salih Muslim im Reichstagsgebäude an einer Zusammenkunft mit 30 Parlamentariern der Linksfraktion teil. [3]

Am vergangenen Samstag wurde der Kurdenpolitiker aufgrund eines türkischen Fahndungsaufrufs bei Interpol im Verlauf eines Besuchs in Prag in seinem Hotelzimmer festgenommen. Die Regierung in Ankara wirft ihm vor, eine "Terrororganisation" zu leiten und "in Terrortaten gegen die Türkei verwickelt" zu sein. Wie es in einer Erklärung der tschechischen Polizei hieß, sei die türkische Regierung über die Festnahme informiert worden und Salih Muslim werde der Staatsanwaltschaft vorgeführt. [4] Die Vertretung der demokratischen Selbstverwaltung in Rojava und Nordsyrien in Deutschland bewertete die Festnahme des 67jährigen in Prag als "weiteres Produkt der schmutzigen Deals" zwischen der Türkei und europäischen Staaten und forderte seine sofortige Freilassung: "Die Türkei und ihr Diktator Erdogan, die mit ihrem völkerrechtswidrigen Angriff auf Efrin seit 38 Tagen internationales Recht brechen und verantwortlich für den Tod von Hunderten Zivilisten sind, versuchen nun auch Tschechien in diese Verbrechen einzubeziehen." So sei Salih Muslim syrischer Staatsbürger und obwohl er keine türkische Staatsbürgerschaft innehat aufgrund eines Auslieferungsgesuchs der Türkei festgenommen worden.

Einen Tag nach der Festnahme Muslims übermittelte Ankara eigenen Angaben zufolge den Auslieferungsantrag an die tschechischen Behörden. Das tschechische Justizministerium erklärte allerdings, bisher keinen Auslieferungsantrag erhalten zu haben. Am Dienstag ordnete ein Gericht in Prag Muslims Freilassung an, wie sein Anwalt Miroslav Krutina mitteilte. Sein Mandant habe zugesichert, mit Blick auf das Auslieferungsgesuch der Türkei mit den Behörden zusammenzuarbeiten. Nach Angaben einer Gerichtssprecherin darf Muslim die Europäische Union nicht verlassen. Über eine Auslieferung muß noch entschieden werden. Muslim selbst gab am Dienstagnachmittag bekannt, daß er von dem Fahndungsaufruf gewußt, aber nicht ernsthaft mit seiner Umsetzung gerechnet habe. Die gegen ihn erhobenen Vorwürfe entbehrten jeder Grundlage. [5]

Die vorläufige Freilassung Salih Muslims rief in Ankara harsche Reaktionen und Drohungen auf den Plan. So erklärte der türkische Regierungssprecher Bekir Bozdag, diese Entscheidung unterstütze ganz eindeutig den Terror. Das Urteil entspreche nicht internationalem Recht, und die Freilassung Muslims werde Folgen für die tschechisch-türkischen Beziehungen haben. Dem fügte das Außenministerium in Ankara hinzu, die Entscheidung sei ein Beispiel dafür, wie "unaufrichtig" und "unglaubwürdig" Europa im Kampf gegen den Terror sei.

Das Erdogan-Regime überzieht bekanntlich jegliche Kritik und Opposition mit dem Terrorverdikt oder bezichtigt die Betroffenen wahlweise, Anhänger Fetullah Gülens und somit Putschisten zu sein. Im Zuge fortgesetzter "Säuberungen" kam es zu massenhaften Festnahmen und Entlassungen, Zehntausende Menschen sitzen deswegen im Gefängnis. Von dieser Repressionswelle werden Kurdinnen und Kurden, darüber hinaus sämtliche Unterstützer wie auch Journalisten, die kritisch darüber berichten, massiv heimgesucht. Die Gewaltenteilung ist de facto aufgehoben, politische Gegner werden ausgeschaltet, rechtsstaatliche Prinzipien existieren nicht mehr. Zugleich führt das höchst aggressive AKP-Regime ohne Zustimmung der Regierung in Damaskus einen Angriffskrieg im Nachbarland Syrien, wo es derzeit den Kanton Afrin überfällt.

Die Türkei betrachtet die PYD als syrischen Zweig der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und verfolgt beide als "Terrororganisationen". Die PYD ist der politische Arm der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und Frauenverteidigungseinheiten (YPJ), die von den türkischen Streitkräften seit Wochen in der nordsyrischen Region Afrin bekämpft werden. An dem Militäreinsatz hält Ankara ungeachtet der am Samstag vom UN-Sicherheitsrat verabschiedeten Waffenruhe fest. Die für 30 Tage angeordnete Feuerpause habe keine Auswirkung auf die Offensive in Afrin, erklärte Vize-Ministerpräsident Bekir Bozdag, da man gegen "Terroristen" vorgehe.

Wenngleich sich das Regime Recep Tayyip Erdogans des Terrorverdikts exzessiv bedient, ist der Vorwurf an die europäischen Regierungen, sie seien "unaufrichtig" und "unglaubwürdig" im Kampf gegen den "Terror", keine absurde Propaganda, die jeder gemeinsamen Grundlage entbehrte. Der sogenannte globale Krieg gegen den "Terror" mit unabsehbarem Ende ist eine Konstruktion der USA, der sich die Mächte Europas bereitwillig anschlossen, zumal diese das Feindbild des "Terroristen" schon Jahrzehnte zuvor geschaffen und angewendet hatten. Die Türkei bedient sich dieser längst weltweit etablierten Bezichtigung und Verfolgung politischer Gegnerschaft nach eigenem Ermessen, was in keiner Weise zu akzeptieren, aber wiederum auch kein Alleinstellungsmerkmal des repressiven türkischen Staates ist.

Davon abgesehen kann sich Ankara der engen Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik bei der Verfolgung türkischer und kurdischer Linker sicher sein. Mit der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland" (§ 129b StGB) wurden die Instrumente geschaffen, nicht nur in Komplizenschaft mit der Regierung der Türkei deren radikale Opposition auch hierzulande abzustrafen, sondern darüber hinaus in Eigeninteresse den Sicherheitsstaat auszubauen und den expansiven Übergriff auf den Nahen Osten zu forcieren, wo deutsche Außenpolitik künftig noch kräftiger mitmischen will.


Fußnoten:

[1] Interview mit Salih Muslim:
www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0359.html

[2] www.zeit.de/politik/ausland/2018-02/salih-muslim-kurden-politiker-interpol-fahndung-tuerkei

[3] www.anfdeutsch.com/rojava-syrien/aufruf-zur-freilassung-von-salih-muslim-2675

[4] www.dw.com/de/nach-festnahme-in-tschechien-kurdenpolitiker-saleh-muslim-wieder-frei/a-42756837

[5] www.derstandard.de/story/2000075111248/tschechien-liefert-syrischen-kurden-politiker-nicht-in-die-tuerkei-aus

28. Februar 2018


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