Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


REPRESSION/1590: Türkei - Verfolgung ohne Grenzen ... (SB)



Daß die türkische Regierung ihre ins Ausland geflohenen Kritiker und Gegner auch dort verfolgt und in den unmittelbaren Einflußbereich ihres repressiven Zugriffs zurückzuholen versucht, weiß man seit langem. Neu ist hingegen, daß das Erdogan-Regime in aller Offenheit seine diesbezügliche Erfolgsquote präsentiert und die zwielichtige Vorgehensweise in den Rang eines völlig legalen Verfahrens zu erheben versucht. Niemand soll vor dem langen Arm Ankaras sicher sein, lautet die Botschaft, welches Land auch immer Zuflucht zu gewähren schien.

In der Türkei wurden nach dem gesteuerten Putschversuch im Juli 2016, für den Präsident Recep Tayyip Erdogan die Gülen-Bewegung verantwortlich macht, mehr als 50.000 Menschen festgenommen und rund 150.000 Menschen aus dem Staatsdienst entlassen. Ankara argumentiert, das harte Vorgehen sei notwendig, um Gülen-Netzwerke in Behörden und Staatsorganen zu zerschlagen und einen neuen Umsturzversuch zu verhindern. De facto handelt es sich jedoch um eine Hexenjagd auf Regierungsgegner jedweder Couleur, die wahlweise als "Terroristen" oder Gülen-Anhänger bezichtigt werden. Nach dem Putschversuch wurde der Ausnahmezustand verhängt und seither immer wieder verlängert. Der Notstand läuft am 19. April aus, wird aber nach Angaben des Regierungssprechers Bekir Bozdag mit Sicherheit verlängert, weil dies "offenkundig notwendig" sei.

Tausende Gülen-Anhänger und andere Erdogan-Gegner sind ins Ausland geflohen, viele von ihnen suchen Schutz in Deutschland und anderen europäischen Ländern. Türkische Auslieferungsanträge werden im Westen mit Skepsis betrachtet, unter anderem verweigern die USA die Auslieferung von Gülen selbst. Wie die Behörden in europäischen Ländern verweisen auch amerikanische Stellen auf einen Mangel an schlagkräftigen Beweisen für die Militanz des Gülen-Netzwerkes. Die Türkei kritisiert diese Zurückhaltung als Unterstützung für "Terroristen". Hingegen sind Regierungen in Asien und Afrika eher bereit, den türkischen Forderungen nachzukommen. Weil die Gülen-Bewegung in vielen Ländern Schulen betreibt, verlangt Ankara häufig die Auslieferung des Lehrpersonals. [1]

Aktuellen türkischen Regierungsangaben zufolge war der Geheimdienst MIT in 18 Ländern an der Rückführung von verdächtigten türkischen Staatsbürgern beteiligt. Wie Regierungssprecher Bozdag nun bekanntgab, habe der Geheimdienst "bislang 80 Fetö-Anhänger aus 18 Ländern eingepackt und in die Türkei gebracht". Als Fetö (Fetullahistische Terrororganisation) bezeichnet Ankara die Bewegung um den in den USA lebenden Gülen. Die Operationen des MIT im Ausland seien ein "großer Schlag" gegen die Gülen-Bewegung, sagte Bozdag weiter, ohne näher auf den Ablauf der Aktionen einzugehen. Der Sprecher von Staatspräsident Erdogan, Ibrahim Kalin, behauptete auf Nachfrage von Journalisten in Ankara, die Türkei sei an keinerlei illegalen Aktivitäten beteiligt gewesen, wofür er Kosovo anführte. Dort seien die Rückführungen in Absprache mit den lokalen Behörden erfolgt. Bozdag wertete die Ereignisse im Kosovo als einen "großen Erfolg" und betonte, daß der MIT weiterhin derartige Operationen durchführen werde.

Gerade dieses Beispiel belegt jedoch, auf welch fragwürdige Weise die betroffenen Menschen in die Türkei verschleppt werden, wo ihnen lange Haftstrafen unter einschneidenden Bedingungen drohen. Ende März waren fünf türkische Lehrer und ein Mediziner, die als Gülen-Anhänger gelten, ohne Wissen des kosovarischen Regierungschefs Ramush Haradinaj in die Türkei abgeschoben worden. Der damalige Innenminister Flamur Sefaj, dessen Ministerium die Abschiebung veranlaßt hatte, wurde daraufhin ebenso seines Amtes enthoben wie der Geheimdienstchef. Der Ministerpräsident begründete die Entlassungen damit, daß ihn beide nicht über den "inakzeptablen" Einsatz informiert hätten. [2]

Die Türkei hatte den Kosovo noch am Tag der Unabhängigkeitserklärung, dem 18. Februar 2008, als einer der ersten Staaten anerkannt. Dahinter steht die Absicht der Regierung in Ankara, ihren Einfluß in den überwiegend muslimisch bewohnten Balkanstaaten Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo und auch Serbien auszubauen. Nun hat die von türkischer Seite inszenierte und gemeinsam mit Kosovos Geheimdienst AKI organisierte Verschleppung der sechs Menschen das Verhältnis der sogenannten Bruderstaaten vorerst getrübt. Erdogan erklärte, er sei Präsident Hashim Thaci für die Verhaftung der "wichtigsten Vertreter" der Gülen-Bewegung auf dem Balkan "dankbar". Gleichzeitig wütete er jedoch über Premier Ramush Haradinaj, den er als eine "Marionette, deren Fäden von anderen gezogen" werden, beschimpfte. Die beiden Entlassenen hätten "nur ihre Arbeit gemacht". Haradinaj werde diesen "historischen Fehler" noch bitter bereuen: "Wie kannst du so gegen die Türkei arbeiten? Was für eine Politik ist das? Ich weiß, dass meine kosovarischen Brüder gegen diese Entscheidung sind. Du wirst dafür zur Rechenschaft gezogen: Die Karriere des Premiers wird zu Ende gehen."

Dieser Übergriff rief in der kosovarischen Politik entschiedenen Widerspruch auf den Plan. Die historische Freundschaft gegenüber der Türkei lasse sich keineswegs in ein "Vasallenverhältnis" eintauschen, erklärte Vizepremier Fatmir Limaj. Niemand außer Kosovos Volk habe das Mandat, seine Regierungen zu wählen und auszutauschen. "Niemand sollte der Regierung und dem Premier des Kosovos drohen. Kein Land, kein Führer - egal wie mächtig - kann uns beherrschen", erklärte der Vorsitzende der mitregierenden Nisma-Partei kategorisch. Allerdings scheinen die Amtstage von Haradinajs wackeliger Vierparteienkoalition angesichts zunehmender Spannungen tatsächlich gezählt zu sein. Daß nach Haradinaj nun auch der Erdogan-Freund Thaci beteuert, vorab nicht unterrichtet gewesen zu sein, wirft nicht nur in der Opposition die Frage auf, wer im Kosovo eigentlich regiere. Erdogans Ausfälle haben Regierung und Opposition jedoch insofern befristet geeint, als gemeinsam zum Ausdruck gebracht wird, daß die Institutionen des Landes souverän seien und man nicht zulassen werde, daß die Türkei Kosovo kommandiert. [3]

Laut Medienberichten war ein offizieller Auslieferungsantrag der Türkei für die sechs Gülen-Anhänger von der Staatsanwaltschaft im Kosovo abgewiesen worden. Daß türkische Sicherheitskräfte daraufhin erstmals in einem europäischen Land mutmaßliche Regierungsgegner festgenommen und in die Türkei entführt haben, ist weit über den Kosovo hinaus von Belang. Ankara ist angesichts geringer Kooperationsbereitschaft der Europäer bei der Auslieferung Oppositioneller offenbar fest entschlossen, europäische Regierungen zu umgehen und sich im Zweifelsfall mittels Kommandoaktionen des Geheimdienstes MIT der angeblichen Staatsfeinde zu bemächtigen.

Fernsehbilder zeigten, wie einige Männer an einer Überlandstraße mehrere Personen aus einem Auto zerren. Türkische Medien verbreiteten Bilder der gefesselten Gülen-Anhänger vor türkischen Fahnen, möglicherweise wurden die Aufnahmen in der türkischen Botschaft in Pristina gemacht. Die Entführten sollen sich inzwischen in einem türkischen Hochsicherheitsgefängnis befinden. Unter Gülen-Anhängern mache sich Panik breit, jubilierte die Erdogan-freundliche Zeitung Türkiye: Sie befürchteten Festnahmeaktionen des türkischen Geheimdienstes auch in anderen Ländern.

Recep Tayyip Erdogan sieht keinen Grund, die Geheimdienstaktion geheimzuhalten, sondern bedroht sogar den kosovarischen Premier in aller Öffentlichkeit wegen dessen mangelnder Kollaboration. Berücksichtigt man, daß die MIT-Aktion im Kosovo nur wenige Tage nach Erdogans Treffen mit den Spitzen der EU im bulgarischen Varna stattfand, bei dem über einen Neuanfang in den Beziehungen nach jahrelangem Streit gesprochen wurde, tritt das doppelzüngige Kalkül des türkischen Machthabers in aller Deutlichkeit zu Tage.

Dabei handelt es sich beileibe nicht um den ersten Versuch der türkischen Regierung, angeblicher Staatsfeinde in europäischen Ländern habhaft zu werden. So hatte sich Ankara 2017 um die Auslieferung des Basketballspielers Enes Kanter aus Rumänien bemüht. Dem in den USA lebenden Sportler wurde bei einem Aufenthalt in Bukarest der türkische Paß entzogen, er konnte aber später in die USA zurückkehren. In Spanien wurde der türkischstämmige Autor Dogan Akhanli aufgrund eines türkischen Auslieferungsersuchens zwei Monate lang festgehalten. Und vor einigen Wochen haben Medien in der Schweiz über die versuchte Entführung eines türkisch-schweizerischen Geschäftsmannes und Gülen-Anhängers durch türkische Diplomaten kurz nach dem Putschversuch berichtet.

Vor wenigen Tagen erließ ein türkisches Gericht einen neuen Haftbefehl für den in Berlin lebenden Exiljournalisten Can Dündar. Zugleich wurde das Auslieferungsersuchen an die USA für Fethullah Gülen erneuert. Bei der Fahndung nach Dündar soll Interpol mittels einer "Red Notice" eingeschaltet werden, womit die Türkei die länderübergreifende Kooperation auszulösen hofft. Dem ehemaligen Chefredakteur der Cumhuriyet wird eine Veröffentlichung aus dem Jahr 2015 zur Last gelegt, die Waffenlieferungen der türkischen Regierung an islamistische Rebellen in Syrien belegen soll. Dündar wurde im Mai 2016 wegen Geheimnisverrats zu fünf Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt. Das Verfassungsgericht entschied, daß Rechte verletzt worden seien, und ordnete seine Freilassung an. Daraufhin reiste er im Juli 2016 nach Deutschland aus. Das Oberste Revisionsgericht kassierte das ursprüngliche Urteil Anfang März 2018 als zu milde und entschied, daß sich Dündar in einem neuen Verfahren auch wegen der Sammlung von geheimen Informationen zum Zweck der "Spionage" verantworten müsse. Damit droht ihm eine Haftstrafe von bis zu 20 Jahren.

Dündar sprach von einer "Schande" für die Türkei und einem weiteren Einschüchterungsversuch der Regierung in Ankara. Diese versuche, Interpol die Rolle einer Polizei Erdogans zuzuweisen. Interpol habe in Spanien einen Fehler begangen und einen Journalisten verhaftet. Er hoffe, daß sie jetzt vorsichtiger geworden sind und die Anträge der Türkei sehr sorgfältig bearbeiten. [4] Für Erdogans Regierung sind solche Einwände offenbar irrelevant. Sie will Anhängern und Gegnern die Reichweite ihres Einflusses demonstrieren. Als Außenminister Mevlüt Cavusoglu vor einigen Tagen auf Twitter seine Bilanz für den Monat März zog, wählte er die bezeichnende Überschrift: "Niemand kann uns aufhalten." Es gibt viele Gründe, allen voran den Angriff der türkischen Streitkräfte auf den kurdischen Kanton Afrin in Syrien, dem Erdogan-Regime Einhalt zu gebieten.


Fußnoten:

[1] www.tagesspiegel.de/politik/kommandoaktion-gegen-guelen-anhaenger-im-kosovo-erdogans-geheimdienst-ergreift-gegner-in-europa/21134430.html

[2] www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-geheimdienst-holte-80-angebliche-guelen-anhaenger-aus-dem-ausland-a-1201430.html

[3] www.tagesspiegel.de/politik/tuerkische-festnahmen-im-kosovo-streit-unter-freunden/21134524.html

[4] www.dw.com/de/türkei-will-dündar-auf-interpol-fahndungsliste-setzen/a-43226879

6. April 2018


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang