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REPRESSION/1648: Türkei - qualifizierte Repression ... (SB)



Es geht nicht nur darum, dass Oberbürgermeister wegen angeblicher "Mitgliedschaft in einer Terrororganisation" und "Terrorpropaganda" verhaftet worden sind. Vielmehr wird die Bevölkerung bestraft, indem ihr in Wahlen ausgedrückter Wille gebrochen wird. In den letzten Monaten hatte in den kurdischen Gebieten der Türkei wieder ein demokratischer Prozess begonnen, nun aber verhalten sich die vom Regime in Ankara gesteuerten Zwangsverwalter wie eine Besatzungsmacht.
Leyla Imret (Kovorsitzende der HDP-Vertretung Deutschland und frühere Bürgermeisterin in Cizre) [1]

Unter Recep Tayyip Erdogan wurde in der Türkei ein Regime errichtet, dessen Machterhalt eine Rückkehr zu einer moderateren Form der Herrschaftssicherung längst nicht mehr zuläßt. Das Präsidialsystem hat die Aufhebung formaler Gewaltenteilung und in bürgerlich-repräsentativen Demokratien bislang noch gängigen Rechtsprinzipien über eine Grenze hinweggetrieben, jenseits derer Verfahren des Regierungswechsels kaum noch greifen und erfolgversprechende Klagewege für oppositionelle Bestrebungen außer Kraft gesetzt sind. Damit unterscheidet sich die aktuelle Situation der türkischen Gesellschaft insofern nicht prinzipiell von jener in westeuropäischen Staaten, als die in Stellung gebrachten repressiven Instrumente wie der Ausnahmezustand oder das Terrorverdikt dieselben sind, von den Grundmustern kapitalistischer Verwertung und Verfügung ganz zu schweigen. Bezeichnenderweise wird die radikale türkische und kurdische Linke auch in der Bundesrepublik verfolgt, in politischen Prozessen verurteilt und im Strafvollzug mit Isolationshaft überzogen.

Was Erdogan dennoch als Machthaber von einem europäischen Regierungschef unterscheidet, daß man ihn als Autokraten, Despoten oder gar Diktator tituliert, ist das auf die gesamte Gesellschaft bezogene Ausmaß der Repression, vor der niemand sicher sein kann, der dem Regime kritisch gegenübersteht oder auch nur einer solchen Position verdächtigt wird. Der stets präsente und teils offene Krieg gegen weite Teile der Bevölkerung läßt sich nicht mehr zurückschrauben, ohne daß es zum Sturz des Regimes käme, in dessen Folge seine maßgeblichen Protagonisten und Nutznießer zur Rechenschaft gezogen werden. Selbst der in der Vergangenheit nicht nur in der Türkei praktizierte Übergang von einer Militärdiktatur zu einem wiederhergestellten parlamentarischen System unter weitgehender Amnestie der militärischen Machthaber ist auf entsprechende Weise im Falle Erdogans kaum noch vorstellbar, dessen unstillbar anmutender Drang zur Vernichtung seiner Gegner eine bloße Rückkehr zur formalen Normalität auf dem Niveau der Ära vor seiner Machtübernahme ausschließt.

In diesem Gesamtkomplex ist Erdogans Krieg gegen die kurdische Bevölkerung eine zentrale Komponente, die weit über eine Beschneidung autonomer Bestrebungen hinausgeht. Obgleich die kurdische Bewegung seit langem keinen eigenen Staat mehr fordert, sondern eine demokratische Föderation der Kurdengebiete unter Beibehaltung der bestehenden Landesgrenzen anstrebt, wird sie insgesamt als "terroristisch" bezichtigt und mit Repression überzogen. Ob in der Türkei, in Syrien oder im Irak greift die türkische Regierung die Kurdinnen und Kurden mit dem ganzen Arsenal militärischer, geheimdienstlicher, polizeilicher, juristischer und propagandistischer Mittel an. Erklärtes Ziel ist die vollständige Brechung jeglichen Widerstands, die Zerstörung des emanzipatorischen Gesellschaftsentwurfs, ja sogar die Auslöschung der Kultur und ethnische "Säuberung" der kurdischen Siedlungsgebiete. Der geplante Bevölkerungsaustausch war stets ein integraler Bestandteil des Flüchtlingspakts mit der Europäischen Union, da mehrere Millionen aus Syrien geflohene Menschen nicht zuletzt deshalb befristet in der Türkei aufgenommen wurden, um sie im Südosten des Landes und in Nordsyrien unter Zersetzung der Kurdengebiete anzusiedeln. Dieser Prozeß hat im Kontext der im syrischen Grenzgebiet geplanten "Sicherheitszone" die Züge konkreter Umsetzung angenommen.

Nachdem Erdogan den vorgeblichen Friedenskurs mit der kurdischen Bewegung für beendet erklärt hatte, wurde Leyla Imret am 9. September 2015 unter dem Ausnahmezustand als erste von 90 der insgesamt 103 demokratisch legitimierten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister kurdischer Städte ihres Amtes enthoben, worauf sie nach Deutschland floh. Damals wurden viele von ihnen inhaftiert, die eingesetzten Zwangsverwalter übertrugen kommunales Eigentum an staatliche Stellen, schlossen Frauenhäuser und Kulturzentren. Schon vor den Kommunalwahlen am 31. März 2019 hatte der Präsident angedroht, daß jeder Kandidat mit Verbindungen zu "Terrororganisationen" im Falle seiner Wahl wieder abgesetzt werde, womit er de facto den gesamten Urnengang in dieser Region für irrelevant erklärte, sofern ihm dessen Ausgang mißfallen sollte. Trotz dieser Drohkulisse gelang es der Demokratischen Partei der Völker (HDP), bei den Kommunalwahlen einen Großteil dieser Gemeinden zurückzugewinnen.

Fünf Monate nach diesen Wahlen hat die AKP-Regierung nun ihre Drohung wahrgemacht und die Oberbürgermeister der drei wichtigsten Städte in den kurdischen Landesteilen der Türkei ihres Amtes enthoben. Den Bürgermeistern von Diyarbakir und Mardin, Selcuk Mizrakli und Ahmet Türk, sowie der Bürgermeisterin von Van, Bedia Özgökce Ertan, wird nach Angaben des Innenministeriums vorgeworfen, ihre Ämter für die Unterstützung der PKK genutzt zu haben. Zudem werden sie beschuldigt, durch das System der geschlechterparitätischen Doppelspitze und kommunalen Gremienbesetzung in ihren Stadtverwaltungen eine "vom Ganzen des Landes abweichende Struktur einführen zu wollen". Auch seien in den Verwaltungen Personen angestellt worden, deren Angehörige wegen PKK-Kontakten inhaftiert wurden.

Um diesen Willkürakt durchzusetzen, fuhr die Polizei in den frühen Morgenstunden mit Panzerwagen auf, riegelte die Rathäuser ab, brach die Türen auf und durchsuchte die Gebäude. Die Stadtverwaltungen wurden kommissarisch an staatliche Gouverneure übergeben, die nicht gewählt, sondern von der Regierung eingesetzt werden. Flankiert wurde dieser Angriff von einer großangelegten Polizeioperation, bei der nach Angaben des Innenministeriums in 29 Provinzen der Türkei 418 Personen festgenommen wurden. Nach Informationen der kurdischen Nachrichtenagentur Firat waren davon vor allem Politiker und Aktivisten der HDP, darunter kommunale Mandatsträger und Provinzvorstandsmitglieder betroffen. [2] Im Südosten des Landes gehen Polizeikräfte seither massiv gegen Kundgebungen vor, auf denen Protest gegen die Amtsenthebungen zum Ausdruck gebracht wird. In Dyarbakir versuchten trotz eines Demonstrationsverbots viele Menschen, nahe der Stadtverwaltung zusammenzukommen. Die Polizei sperrte alle Straßen ab, kesselte die Demonstrierenden ein, brachte Wasserwerfer in Stellung und prügelte mit Schlagstöcken. In Istanbul berichteten Medien über die Verhinderung einer Kundgebung von Anwälten. [3]

Grundsätzlich versucht das Regime, mit diesen Zwangsmaßnahmen die Menschen einzuschüchtern und alle Bestrebungen zu unterdrücken, Widerstand aufzubauen. Die im März neugewählten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister hatten zusammen mit der kurdischen Bevölkerung begonnen, ihre Städte wieder zu verwalten. Dabei wurde ersichtlich, daß diese völlig überschuldet sind, weil die regimetreuen Zwangsverwaltungen ihren eigenen Familien, Parteimitgliedern und Lobbygruppen Gelder zugeschanzt haben. Auch das ist ein relevanter Grund, warum die AKP/MHP-Regierung selbst Niederlagen bei Kommunalwahlen fürchtet, weil ihre Herrschaft in erheblichem Maße darauf beruht, Seilschaften zu etablieren und ihnen gewogene Fraktionen in Wirtschaftskreisen zu alimentieren. So war der Angriff auf die vordem einflußreiche Gülen-Bewegung nicht zuletzt dem Zweck geschuldet, deren umfangreichen Unternehmensbesitz zu konfiszieren und neu zu vergeben. Auch übte das Regime wachsenden Druck auf die Unternehmerschaft aus, ihm zu Willen zu sein. Auf diese Weise kam es zu einer Umverteilung zwischen den Kapitalfraktionen, die deren grundsätzliche Funktion nicht aufhob, aber bestimmte Sektoren wie etwa die Bauindustrie begünstigte und an die Regierung band, aus deren Händen ihr Aufstieg und ihre Einkünfte resultierten.

Gelingt es der Opposition, Kommunalregierungen zurückzugewinnen, werden diese Praktiken offenkundig. Und da die AKP bei den Wahlen im März fast alle großen Städte des Landes verloren hat, brachte sie das durchaus in Bedrängnis. Nachdem auch noch der Versuch scheiterte, den mit Unterstützung der HDP neugewählten Oberbürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu von der CHP, des Amtes zu entheben, gewann das erstmals praktizierte Zweckbündnis gegen das Regime weiter an Fahrt. Auch zeigen sich Risse in den Reihen der Regierungskoalition, da sich aus der rechtsextremen MHP heraus bereits im Oktober 2017 die nationalistische Iyi Parti (Gute Partei) gegründet hatte und inzwischen auch in der AKP Abweichler mit einer Parteineugründung drohen. Da sich Imamoglu enormen Rückhalts in großen Teilen der Bevölkerung erfreut, kann ihn Erdogan nicht mit voller Wucht angreifen und absetzen oder gar inhaftieren, ohne einen Aufstand mit unkontrollierbaren Folgen zu riskieren.

Auch dies ist ein Grund, warum die HDP, deren frühere Vorsitzende Figen Yüksekdag und Selahattin Demirtas neben Tausenden weiteren Parteimitgliedern seit Jahren im Gefängnis sitzen, abermals attackiert wird. Sie ist aus Sicht der Regierung in Ankara natürlich angreifbarer als die größere kemalistische CHP, doch sind die rund 20 Prozent kurdischer Stimmen unverzichtbar für den Wahlerfolg eines oppositionellen Blocks. Nachdem Erdogan mit einer gewissen Lockerung der Isolationshaft Abdullah Öcalans vergeblich versucht hat, die kurdische Wählerschaft vor den Kommunalwahlen für sich einzunehmen und das Bündnis seiner Gegner zu spalten, setzt er nun wieder auf verschärfte Repression. Daß er nach der Wahlniederlage in der Metropole Istanbul angeschlagen ist, löst bei ihm eine erneute Machtdemonstration aus. Aus seiner Perspektive müssen oppositionelle Bestrebungen im Keim erstickt werden, ehe sie Fahrt aufnehmen und sich zu einer Bewegung in weiten Teilen der Bevölkerung und in Kreisen der Wirtschaft auswachsen.

Die Türkei steckt ökonomisch in einer tiefen Krise, der Lebensstandard vor allem der ärmeren Bevölkerungsteile sinkt dramatisch, die Kritik an der autokratischen Finanzpolitik des Präsidenten wächst. Und da niemand vorhersagen kann, wann und wo ein Zündfunke die Revolte gegen das Regime entfacht, hat der Argwohn des Despoten, hinter jeder Ecke Verrat zu wittern, der mit eiserner Faust niedergeschlagen werden müsse, durchaus System und machtrationale Züge, was pathologische Momente keineswegs ausschließt, wie sie wohl jeder Drang nach Alleinherrschaft anteilig voraussetzt. Deshalb steht zu befürchten, daß das Vorgehen in Mardin, Diyarbakir und Van dem Präsidenten als Blaupause dienen soll, bald noch weitere Bürgermeister ihrer Ämter zu entheben und auszureizen, wie weit er auf diese Weise gehen kann.


Fußnoten:

[1] www.jungewelt.de/artikel/361183.zwangsverwalter-agieren-wie-eine-besatzungsmacht.html

[2] www.jungewelt.de/artikel/361113.erdogan-putscht-weiter.html

[3] www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-kurden-135.html

22. August 2019


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