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REPRESSION/1698: Erdogan - Regime im Namen der Religion ... (SB)



"Das ist kein Thema, das in die Kompetenz der Anwaltskammer fällt. Jeder soll seinen Platz kennen, jeder soll seine Grenzen kennen. Ein Angriff auf den Präsidenten der Religionsbehörde ist ein Angriff auf den Staat."
Recep Tayyip Erdogan verteidigt Haßpredigt von Ali Erbas [1]

Für den von Kindheit an tief gläubigen Muslimen Recep Tayyip Erdogan war die konservativ-religiöse Ausrichtung stets ein Kernelement seines politischen Programms und Machterhalts. Als nun der Präsident der einflußreichen türkischen Religionsbehörde mit homophoben Tiraden bei der Freitagspredigt heftigen Protest auf den Plan rief, unterstützte Erdogan seinen Vertrauten rückhaltlos. Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft - aber nicht gegen die Hetzreden von Ali Erbas, sondern die protestierende Anwaltskammer. "Ein Angriff auf den Präsidenten der Religionsbehörde ist ein Angriff auf den Staat", so der türkische Machthaber. Islamismus ist unter dem Regime Erdogans Teil der Staatsräson, die repressiv gegen alle Minderheiten und kritischen Einwände durchgesetzt wird.

Wie die Lebensgeschichte Erdogans zeigt, trug seine religiös begründete reaktionär-repressive Weltsicht maßgeblich zu seinem Aufstieg an die Spitze des Staates bei, wo er sein protofaschistisches Regime je nach Bedarf als weltmännischer Präsident, paternalistischer Landesvater, neoosmanischer Despot, Oligarch, Kriegsherr, Kerkermeister und Folterknecht oder Geißel jeglicher Opposition exekutiert. Daß zu diesen Facetten des Machtmenschen spezifisch türkischer Provenienz auch die Persona des genuin frommen Muslimen gehört, dem alle aus seiner Sicht abweichenden Lebensweisen Teufelswerk sind, wird angesichts dieser Fülle seiner Übergriffe und Greueltaten mitunter fast übersehen. Hier geht es wohlgemerkt nicht um Glaubensfragen und "den Islam" an sich, wohl aber einen berüchtigten Autokraten, der sich auch von Gott zu seinen Untaten berufen wähnt.

Erdogan besuchte nach der Grundschule eine Imam-Hatip-Schule, das sind in der Türkei religiös orientierte Fachgymnasien. Aufgrund seiner tiefen Religiosität erhielt er dort den Spitznamen "Koran-Nachtigall". Die Schulausbildung schloß er mit einem Fachabitur für Imame ab. Anschließend studierte er an der Istanbul Iktisadi ve Ticari Ilimler Akademisi. 1972 hatte Necmettin Erbakan die Nationale Heilspartei (MSP) gegründet, die dem Spektrum der religiös-konservativen Rechten zugeordnet wird und bis Ende der 1970er Jahre an drei Koalitionsregierungen beteiligt war. 1984 rückte Erdogan in den Vorstand der inzwischen gegründeten Nachfolgepartei auf, der Wohlfahrtspartei (RP), und wurde stellvertretender Vorsitzender.

Die Wohlfahrtspartei nominierte Erdogan 1994 gegen den Willen Erbakans als Kandidaten für das Amt des Oberbürgermeisters von Istanbul, und er gewann überraschend die Wahl. Er verfolgte zunächst eine konservative Politik, die der Ausrichtung seiner Wählerschaft entsprach. So wird seit seiner Amtszeit in städtischen Lokalen kein Alkohol mehr ausgeschenkt, wobei dies jedoch in der privaten Gastronomie weiterhin möglich ist. In einer vielzitierten Aussage erklärte er, daß es nicht möglich sei, laizistisch und gleichzeitig ein Moslem zu sein. In einem Interview mit der Zeitung Milliyet bezeichnete er sich als Anhänger der Scharia. In einem Gespräch über die Demokratieverbundenheit der Wohlfahrtspartei erklärte er, daß Demokratie nicht der Zweck, sondern das Mittel sei. Weitere religiöse Vorhaben betrafen die Einführung gesonderter Badezonen für Frauen oder getrennter Schulbusse für Jungen und Mädchen. 1994 äußerte er sich noch gegen einen Beitritt zur EU, die eine "Vereinigung der Christen" sei, in der die "Türken nichts zu suchen" hätten. 1998 verbot das türkische Verfassungsgericht die Wohlfahrtspartei. Ihr wurden Sympathien zum Dschihad und zur Einführung der Scharia vorgeworfen, was dem staatlichen Grundsatz des Laizismus widersprach.

Erdogan wechselte daraufhin in die Nachfolgepartei Tugendpartei, in die fast alle Abgeordneten der bisherigen Wohlfahrtspartei eintraten. Zwischen dieser Partei und der türkischen Armee herrschte tiefes gegenseitiges Mißtrauen. Die Armee sah sich als Hüterin der laizistischen Ordnung und Wahrerin der Prinzipien von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, also einer strikten Trennung von Religion und Staat. Erdogan hingegen verbittet sich jegliche Einmischung in politische Angelegenheiten und stellt klar, daß der Generalstab der Befehlsgewalt des Regierungschefs unterstehe.

Am 21. April 1998 wurde Erdogan vom Staatssicherheitsgericht Nr. 3 in Diyarbakir wegen Aufstachelung der Bevölkerung zu Haß und Feindschaft unter Hinweis auf Unterschiede der Religion und Rasse zu zehn Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe verurteilt. Im März 1999 trat er die Strafe an und wurde nach vier Monaten wieder aus der Haft entlassen. Als die Tugendpartei am 22. Juni 2001 aus den gleichen Gründen wie ihre Vorgängerin verboten wurde, sammelte Erdogan demokratische Reformkräfte unter den Religiösen und gründete wenig später die Gerechtigkeits- und Aufschwungpartei (AKP), die sich von den politischen Überzeugungen Erbakans deutlich absetzte.

Daß er von seinen reaktionären Auffassungen nicht abgerückt war, zeigte seine Ankündigung im Mai 2012, das seit etwa 30 Jahren in der Türkei geltende liberale Abtreibungsrecht zu verschärfen. Er bezeichnete Schwangerschaftsabbrüche als "Mord". Im November 2014 sprach er sich gegen eine völlige Gleichberechtigung von Mann und Frau aus. Frauen könnten aufgrund ihrer "zierlichen Statur" nicht dieselbe Arbeit verrichten wie Männer und während der Schwangerschaft oder der Zeit des Stillens nicht unter gleichen Bedingungen wie diese arbeiten. Der Islam habe für Frauen die Rolle der Mutter vorgesehen. Im Mai 2016 verkündete er im Fernsehen: "Wir wollen viel mehr Nachkommen haben. Andere reden über Verhütung. Keine muslimische Familie sollte so etwas tun." Niemand könne Gottes Werk beeinflussen. Wenig später sprach er sich dagegen aus, daß Frauen arbeiten gehen, wenn sie dafür Mutterschaft und Hausfrauentum ablehnen.

Dies sind nur einige Schlaglichter aus seiner sehr konservativen, um nicht zu sagen repressiven Auslegung der Glaubenslehre, die er nie abgelegt, sondern opportunistisch-machtbewußt nach außen hin verschleiert hat. Im größeren politischen Kontext steht Erdogan der Muslimbruderschaft nahe, zu deren Schutzpatron er sich aufzuschwingen versuchte, bis ihm die Machtübernahme der Militärs in Ägypten einen Strich durch die Rechnung machte. Bekanntlich hat die türkische Regierung den IS unterstützt, wie sie sich nach wie vor islamistischer Milizen derselben Couleur bei ihrer Kriegsführung in Nordsyrien bedient.

Die aktuell hohe Wellen schlagende Kontroverse entzündete sich an Aussagen von Ali Erbas, dem Präsidenten der türkischen Religionsbehörde Diyanet. Diese ist in den bald zwei Jahrzehnten der AKP-Regierung zu einer der einflußreichsten Institutionen des Landes avanciert. Ihr Etat übersteigt den vieler Ministerien, knapp 130.000 Menschen arbeiten für sie. Dazu zählen auch die rund 1000 in Deutschland in den Moscheen der Ditib tätigen Imame, die an die Weisungen der Religionsbehörde gebunden sind. Der 48jährige Theologieprofessor Erbas wurde 2017 von Erdogan in sein Amt berufen und gilt als dessen enger Vertrauter. 2018 eröffneten sie gemeinsam die Ditib-Zentralmoschee in Köln, im Jahr darauf nahm Erbas abermals in Köln an einer Islamkonferenz teil. Er äußert sich regelmäßig zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen, womit er häufig Empörung auf den Plan ruft. So besuchte er beispielsweise vor anderthalb Jahren am Todestag des laizistischen Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk demonstrativ einen fundamentalistischen Prediger und erklärten Atatürk-Hasser.

Ali Erbas verkündete nun in seiner Predigt zu Beginn des Fastenmonats Ramadan: "Der Islam zählt Unzucht zu einer der größten Sünden, er verdammt die Homosexualität." Diese führe zu Krankheiten und lasse "Generationen verrotten". Zudem kritisierte Erbas sexuelle Beziehungen zwischen Unverheirateten: Hunderttausende Menschen würden außereheliche Beziehungen pflegen und sich mit dem HI-Virus infizieren. Es sei "wissenschaftlich erwiesen", dass "dieser und ähnliche Viren" durch Schmutz verbreitet würden; daher erkläre der Islam die Reinlichkeit zu einem wichtigen Glaubensgebot. Da er zuvor über die Corona-Pandemie gesprochen hatte, lag die indirekt gezogene Verbindung zwischen Corona und Homosexualität auf der Hand.

Nach dieser aggressiven Bezichtigung ließ die empörte Reaktion nicht lange auf sich warten. LGBTIQ+-Vereinigungen, Menschenrechtsgruppen und Kreise der sozialdemokratischen CHP sowie der prokurdisch-linken HDP warfen Erbas Volksverhetzung vor. Er habe ein Haßverbrechen begangen und das Tor für Diskriminierung geöffnet, so der Grundtenor. Die Anwaltskammer Ankara erklärte, Erbas falle bekanntermaßen dadurch auf, Frauenhaß religiös zu legitimieren und Kindesmißbrauch zu bagatellisieren. "Es sollte niemanden verwundern, wenn Ali Erbas bei seiner nächsten Rede das Volk dazu auffordern würde, auf öffentlichen Plätzen Frauen als Hexen zu verbrennen."

Für Elifcan Demirtas, Mitglied der Anwaltskammer und Spezialistin für LGBTIQ+-Rechte, ist dies "ein trauriges Beispiel dafür, wie weit der Hass bereits verbreitet ist". LGBTIQ+-Personen die Schuld für die Corona-Epidemie zuzuweisen legitimiere Gewalttaten in der Gesellschaft. "Unsere Reaktion war heftig, weil wir erleben, wie diese staatliche Institution Haßverbrechen begeht und diskriminiert", sagte Yildiz Tar, Mitglied des Vereins KAOS GL, der sich gegen die Diskriminierung von LGBTIQ+-Personen einsetzt. Firat Soyle von der LGBTIQ+-Beratungsstelle Lambdaistanbul findet noch drastischere Worte, er bewertet die Aussage als "Verfassungsverbrechen". "Erbas hat gegen das Prinzip des friedlichen Zusammenlebens verstoßen, indem er sich über die Verfassung gestellt hat. Denn laut Verfassung ist jeder Bürger in der Gesellschaft gleich." [2]

In der Türkei ist Homosexualität nicht illegal, doch beklagen Schwule und Lesben immer wieder gesellschaftliche Diskriminierung. Ab Mitte der 90er Jahre formte sich die LGBTIQ+-Bewegung, im Jahr 2002 fand in Istanbul der erste Pride der Türkei statt. Im selben Jahr sprach sich Erdogan, damals noch Oppositionspolitiker, dafür aus, "auch die Rechte der Homosexuellen zu gewährleisten". Beim Pride 2013, im Anschluß an die Gezi-Proteste, wurde ein Rekord von rund 100.000 Teilnehmenden aufgestellt. Seither nahm sich die linke Opposition verstärkt des Themas an, während die Behörden immer repressiver dagegen vorgingen. 2015 wurde erstmals der Pride in Istanbul verboten, und dabei ist es bis heute geblieben. Wer dennoch auf die Straße ging, bekam es mit Tränengas und Polizeiknüppeln zu tun. Auch kleinere Veranstaltungen wurden seither wiederholt mit Verboten belegt, darunter 2017 ein von der deutschen Botschaft unterstütztes schwul-lesbisches Filmfestival in Ankara.

Wortreich fiel aber auch die Unterstützung für Erbas aus. "Ali Erbas, der Gottes Anweisung ausgedrückt hat, ist nicht allein", twitterte Erdogans Sprecher Ibrahim Kalin. Fahrettin Altun, Kommunikationsdirektor des Präsidialamtes, schrieb ebenfalls auf Twitter: "Die Normen des Islam sind keine, die nach Gutdünken derer, die Ali Erbas respektlos angreifen, infrage gestellt werden können." Und Parlamentspräsident Mustafa Sentop meinte, die Angriffe auf den Chef der Religionsbehörde gälten in Wahrheit dem Islam. AKP-Sprecher Ömer Celik bezeichnete die Kritik der Anwaltskammer als "faschistisch und unverschämt". Erbas habe wie jeder andere im Rahmen seines eigenen Wertesystems ein Recht auf Meinungsfreiheit.

Inzwischen ermittelt sogar die Staatsanwaltschaft, aber nicht gegen den Präsidenten der Religionsbehörde, sondern gegen die Anwaltskammer Ankara wegen des Verdachts der "Herabwürdigung religiöser Werte". Schließlich mischte sich auch Recep Tayyip Erdogan in die Debatte ein und erklärte: "Die Bewertung wurde unter Berücksichtigung des Islams und des Korans vorgenommen." Die Aussage des Diyanet-Chefs sei "von vorne bis hinten korrekt", aber nur für Muslime bindend. Für alle anderen handle es sich lediglich um eine Meinungsäußerung. An die Adresse der Anwaltskammer Ankara sagte er: "Das ist kein Thema, das in die Kompetenz der Anwaltskammer fällt. Jeder soll seinen Platz kennen, jeder soll seine Grenzen kennen. Ein Angriff auf den Präsidenten der Religionsbehörde ist ein Angriff auf den Staat."

Ali Erbas, dessen Behörde dem Staatspräsidenten direkt untersteht und der als Vorsitzenden für religiöse Angelegenheiten diesbezüglich als höchste Instanz im Staat gilt, ist wiederholt durch homophobe Äußerungen aufgefallen: So bezeichnete er vergangenes Jahr den CSD als "Ketzerei" und erklärte, es sei "die Pflicht von uns allen, [...] Kinder und junge Menschen vor solch abartigen Konzepten zu schützen". Die Bundesregierung weigert sich jedoch bislang, diese Äußerungen von Erbas zu kritisieren, dessen jüngste Tiraden bezeichnenderweise in der Wiedergabe der Predigt auf der deutschen Webseite der Diyanet fehlen, während sie in anderen Sprachversionen enthalten sind. [3] Sevim Dagdelen, die stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion, sieht in den Äußerungen des Diyanet-Chefs einen "erneuten Beleg dafür, dass sich das Erdogan-Regime weiter in Richtung Islamismus und antidemokratischer Muslimbruderschaft radikalisiert". Und sie lenkt den Blick auf den islamischen Religionsunterricht in Deutschland: Die Zusammenarbeit mit Ditib beim islamischen Religionsunterricht müsse eingestellt werden. "Für Hetze gegen Homosexuelle darf es in unseren Schulen keinen Platz geben." [4]


Fußnoten:

[1] www.welt.de/politik/ausland/article207561277/Erdogans-Religionsbeauftragter-Ali-Erbas-Aufregung-um-homophobe-Predigt.html

[2] www.dw.com/de/coronavirus-erdogan-verteidigt-homophobe-theorie/a-53268749

[3] www.queer.de/detail.php

[4] www.welt.de/politik/deutschland/article207588303/Hetze-gegen-Unzucht-Homophobe-Predigt-in-der-Tuerkei-und-Ditib-schweigt.htm

29. April 2020


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